In Halle an der Saale hat ein Mann am 9. Oktober 2019 zwei Menschen erschossen, nachdem er erfolglos versucht hatte, sich bewaffnet Zugang zu einer Synagoge zu verschaffen. Der Neonazi aus Sachsen wollte nach eigenen Angaben möglichst viele jüdische Menschen ermorden und wählte dafür den Jom Kippur, den wichtigsten jüdischen Feiertag.
Der Mann filmte seine Tat und startete mit dem Statement, dass es die Shoa nie gegeben habe und dass der Feminismus Schuld am Rückgang der Geburtenrate sei. Verantwortlich für Feminismus und Massenmigration sei das Judentum. Zuvor habe er überlegt, einen Anschlag auf eine Moschee oder ein Antifa-Zentrum zu begehen. Er war vor allem im Internet auf Seiten vernetzt, die faschistische Anschläge wie Computerspiele betrachten und entsprechende ‚Highscore‘-Listen anlegen. (1) Auch wenn wir diese Szene im Internet auf dem Schirm haben müssen, lässt sich der Anschlag nicht allein daraus erklären, dass sich der Täter in einer „virtuellen Welt“ verrannt habe. Und was heißt hier überhaupt Virtualität?
„Gewaltsamste Verfahren“ gegen den „Staatsverfall“
In seiner eigenen Logik ist der Attentäter von Halle tätig geworden gegen den „Staatsverfall“ und reiht sich hier in einer Reihe weiterer Terroristen ein, in die mörderischen Attentate beispielsweise von Christchurch (Neuseeland) und Utøya (Norwegen). Sie sehen sich selber als Retter des Staates, und es ist kein Zufall, dass es vermehrt zu diesen Attentaten kommt, seit profaschistische Parteien mit ihren Wahlerfolgen eine bestimmte Propaganda verbreiten.
„Brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser geheilt werden. Der Verwesung nahes Leben kann nur durch das gewaltsamste Verfahren reorganisiert werden“, lässt uns Hegel in seiner Schrift „Über die Reichsverfassung“ wissen. Mit diesen Worten verteidigt er die berüchtigte Schrift „Il Principe“ von Niccoló Machiavelli. „Gewaltsamste Verfahren“ von Attentaten und Giftmord bis zur Folter seien also legitim – allerdings nicht im privaten Bereich, sondern nur zur Erhaltung des Staates, in der Abwehr des Staates gegen die Anarchie.
Von allen zahlreichen Schriften Hegels hält der Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke ausgerechnet diese beiden Sätze für zitierbar. Und anscheinend hatte er den Text, aus dem die Sätze stammten, nicht gelesen. Denn Höcke behauptet, „gewaltsamst“ könne mit „grundsätzlich“ übersetzt werden. Und dieses „grundsätzlich“ bezieht er auf seine Parteimitglieder, er will die „Unbedingten“ in seiner Partei sammeln. Die „Unbedingten“, das sind die „Ganzen“ im Gegensatz zu den „Halben“ in der Partei, wie Höcke später sagen wird und damit aus Adolf Hitlers Rede zur Machtergreifung der NSDAP zitiert.
Auch wenn Höcke Hegel zunächst falsch interpretiert – Hegel ging es tatsächlich um die Gewalt, als er von „gewaltsamst“ sprach – so greift Höcke selber auch auf Machiavellis „Il Principe“ zurück. Und die „Unbedingten“ sind dann diejenigen, die sich nicht von „gängigen Moralvorstellungen“ aufhalten lassen, die wissen, dass es „grausam“ werden wird, wenn der Staat gerettet werden soll.
Diesen kleinen Umweg im Verständnis von Hegels Machiavelli-Rezeption muss Höcke gehen, um nicht sofort als brutaler Faschist enttarnt zu werden. Daher muss er auch in der Öffentlichkeit den Anschlag von Halle verurteilen. Er macht die Verrohung der Gesellschaft für diese Tat verantwortlich und kann entsprechend an einen Diskurs anknüpfen, der vor der „Verrohung der Bürgerlichkeit“ warnt. Gegen dieses „Verrohte“ wird dann die AfD als „bürgerliche Partei“ präsentiert.
Das Rohe und das Bürgerliche
Sowohl die Begriffe „roh“ als auch „bürgerlich“ sind problematisch.
Hinter dem Begriff „roh“ steckt das Bild des „Homo homini lupus“ - der Mensch sei im Naturzustand dem Menschen ein Wolf. Das heißt, „von Natur aus“ sei der Mensch böse und würde über andere Menschen herfallen. Erst ein starker Staat kann diesem rohen Urzustand Einhalt gebieten und mit der Erziehung das Rohe überformen.
Hierbei wird übersehen, dass die Attentate von Utøya, Christchurch und Halle nicht von Urmenschen begangen wurden, sondern von Männern, die erfolgreich eine Schulbildung absolvierten. Die Attentate folgten nicht einer ursprünglichen „Rohheit“, sondern einer komplexen Konstruktion einer bestimmten Form von Männlichkeit.
Auch das Gegenbild der „Rohheit“, die „Bürgerlichkeit“, ist problematisch. Schließlich hebt sich das „Bürgerliche“ vor allem vom „Proletarischen“ ab. Und dieses Proletarische wird dann wieder als „roh“ präsentiert. Amokläufer sind in der Regel aber eben nicht „proletarisch“, sondern sie stammen durchgehend aus der sogenannten Mittelschicht. Es sind in der Regel junge Mittelschichts-Männer mit Deklassierungsängsten. Amoklauf ist ein Phänomen des Bürgertums, nicht des Proletariats. Umso mehr gilt dies für faschistische Anschläge, diese stammen aus dem Bürgertum mit der Mission, den bürgerlichen „hochkulturellen“ Staat vor dem Verfall zu retten.
So fällt es der AfD leicht, sich als „bürgerlich“ zu inszenieren, weil der Begriff des Bürgerlichen an sich schon problematisch ist, da dieser Begriff nicht nur als ein Abgrenzungsbegriff gegen den Adel, sondern auch als einer gegen das Proletariat funktioniert. „Bürgerlich“ meint zugleich so etwas wie zivilisiert, gesetzt und gemäßigt, Mitte und nicht extrem. Zur „bürgerlichen Lebensweise“ gehört die Kleinfamilie im Einfamilienhaus mit Garten, Auto und Hund (zumindest auf der Krawatte). In der ersten Umfrage zu Pegida kam heraus, dass die Teilnehmer*innen aus der Mittelschicht kämen – damit war klar: sie sind nicht rechts oder rassistisch, sondern „bürgerlich“. Dies erklärt, warum die AfD sich gerne als „bürgerlich“ bezeichnet.
Faschistische Männlichkeiten sind nicht „roh“
Auch wenn in der faschistischen Szene Bücher kursieren wie „Becoming a Barbarian“ / „Nur Barbaren können sich verteidigen“ von Jack Donovan, der sich für männliche Gewalt ausspricht, so ist damit keine Aufforderung zur „Verrohung“ gemeint. Im Faschismus wird die Hochkultur als biologisch begriffen. Wenn Donovan die Männer dazu auffordert, sich aus der zivilisierten Gesellschaft zurückzuziehen, um gemeinsam zu lernen, Gewalt auszuüben, so ist dies in deren Denken keine Verrohung, sondern eine Kultivierung. Durch die männliche Gewalt habe sich das Volk überhaupt erst kultiviert, behauptet Donovan, und Kultur könne überhaupt auch nur durch (gewalttätigen) Kolonialismus entstehen, wie Höcke konstatiert. Eine Verrohung drohe in diesem Denken aus der „Verweiblichung“ und „Verschwulung“ der Gesellschaft. Eine Hochkultur brauche Führung und Unterordnung und diese erfordere Gewalt. Höcke bezieht sich auf Machiavelli: „Machiavelli fordert „virtú“ - politische Ordnungs- und Gestaltungskraft -, um ein Gemeinwesen à la longue vor dem Abstieg zu bewahren. Und Ordnung ist immer eine Anstrengungsleistung, Chaos kommt von ganz alleine. Das gilt so auch für die politische Kultur. […] jeder Gartenfreund weiß, daß die Kultur der Natur jeden Tag aufs Neue abgerungen werden will. Und das gilt so auch in der Kultur und der Politik. Ordnung kostet viel Kraft. Und Dekadenz ist nichts anderes als eine Folge von Schwäche oder mangelnder Bereitschaft der Menschen, diesen Kraftaufwand zu leisten.“
„Virtù“ wird bei Machiavelli repräsentiert durch Herkules, der das Schicksal mit Gewalt niederringt: „Gerade hier aber meine ich, daß es besser sei, ungestüm als vorsichtig zu sein, denn Fortuna ist ein Weib, und wer es bezwingen will, muss es schlagen und stoßen [...] Darum ist es, wie ein Weib, auch den Jünglingen gewogen, weil diese weniger bedächtig und gewalttätiger sind und ihm dreister befehlen.“
Gewalt und Kultur gehören also in dieser Denkweise unmittelbar zusammen. Kultur entsteht durch virtú, Kultur ist virtú. Derzeit sei aber aufgrund der fehlenden Männlichkeit, so Höcke, Deutschland eine Ochlokratie, eine Herrschaft der Minderwertigen. Es fehle an dem Herkules, der Deutschland aus dem Sumpf rette: „Er [Machiavelli] ging von einem ‚Uomo virtuoso‘ aus, der nur als alleiniger Inhaber der Staatsmacht ein zerrüttetes Gemeinwesen wieder in Ordnung bringen könne.“
Diese angestrebten Formen von Männlichkeit sind nicht roh. Sie sind extrem konstruiert. Sie müssen quasi unter faschistischen Laborbedingungen herangezüchtet und brutal „veredelt“ werden. In der AfD existiert seit einigen Jahren diese Zuchtanstalt, in der eine eigene Realität mit der machiavellistischen „virtù als politische Ordnungs- und Gestaltungskraft“ aufgebaut wird.
Die wirklich gefährliche „virtuelle Realität“ befindet sich also nicht in der Gamerszene, sondern im „gärigen Haufen“ (Gauland) der AfD. Die virtuelle Realität bleibt nicht im faschistischen Gärbecken der AfD. Sie ist Teil einer internationalen Realitätsverzerrung und auch die Szene aus der der Attentäter von Halle stammt, ist Teil dieser virtuellen Realität. Das Ziel ist, uns alle mit Gewalt in diese virtuelle Realität zu ziehen, in der der Mann noch ein Mann (weise, wehrhaft und führend) und die Frau noch eine Frau (intuitiv, sanftmütig und hingebungsvoll) sei und die männliche Virtù den Ton angibt. Was der Flügel der AfD den Attentätern vorwerfen könnte, wäre weniger die Gewalt, als vielmehr der falsche und unkoordinierte Zeitpunkt der Anwendung von Grausamkeit.
Für die Verrohung faschistischer Männlichkeiten
Der neofaschistische Massenmörder Breivik lebte nicht außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, im Gegenteil, er lebte ein bürgerliches Leben in Norwegen. Faschistische Männlichkeiten sind auch nicht verroht, im Gegenteil, sie wurden über Jahre antrainiert. Sollten Faschisten aus der Szene aussteigen, so müssten sie zunächst einen Verrohungsprozess durchlaufen. Sie müssten zurückgehen zu den Anfängen, zum Beginn ihrer faschistischen Entwicklung. Und erst dann könnten sie sich neu erfinden. Vielleicht zeigt sich dann, dass sie sich faschistisch entwickelten, weil ihnen nur die bürgerliche Lebensweise als Option zur Verfügung stand, eine Lebensweise, die von einem normierten Geschlechter- und Familienbild ausgeht.
Die Attentäter aus der Incel-Bewegung orientieren sich an einem normierten Bild von Männlichkeit, Sexualität und Familie, welches der Bürgerlichkeit entspricht. Ihnen müsste die Option vermittelt werden, dass sie Rohlinge sein dürfen, dass sie keine Männer sein müssen, dass sie als Menschen roh sind, frei für alles und nicht fixiert auf ein normiertes Bild von Bürgerlichkeit. Das alles okay ist, was anderen nicht schadet, was also einvernehmlich und ohne Gewalt und ohne das Ausnutzen von Abhängigkeiten geschieht. Diese Option kann allerdings nur vermittelt werden, wenn die Gesellschaft tatsächlich nicht eng normiert ist, wenn die Gesellschaft nicht das Augenmerk auf den akkurat geschnittenen Normrasen, sondern auf die frei wachsenden Graswurzeln legt.
Andreas Kemper
Anmerkung:
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Informationen zu dieser Szene finden sich bei Roland Sieber, der schon vor dem Anschlag warnte, dass die Szene beobachtet werden müsse. https://www.der-rechte-rand.de/archive/5454/halle-anschlag-ego-shooter/
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 443, November 2019, www.graswurzel.net