Rassismus

Vom Labor bis ins Behandlungszimmer

In der Forschung, im Gesundheitssystem, in der Reproduktionsmedizin – Rassismus wirkt überall. Die Gründe dafür liegen auf einem breiten Spektrum zwischen mangelndem Bewusstsein Einzelner, bis zu vorsätzlicher struktureller Diskriminierung.

Kompletter Schwerpunkt unter: https://www.gen-ethisches-netzwerk.de/publikationen/gid/258

Ausgelöst durch die Morde an George Floyd und Breonna Taylor durch Polizisten, hat die Black Lives Matter-Bewegung 2020, nicht nur in den USA sondern weltweit, eine längst überfällige Debatte über Rassismus ausgelöst. Auch hierzulande gingen tausende Menschen gegen rassistische Polizeigewalt, aber auch gegen die alltägliche gesellschaftliche Diskriminierung gegen Schwarze und People of Color (1) auf die Straße. Erstmals schien es, als ob den Betroffenen zugehört und eine breite öffentliche Debatte zum Thema Rassismus geführt würde. Dass die Zahl rassistischer Gewalttaten momentan eher steigt als sinkt, ist jedoch ein trauriger Beleg dafür, dass ein paar Talkshows zum Thema längst nicht genug sind. Die physische Gewalt durch vermeintliche Einzeltäter*innen ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verbirgt sich ein großes Ausmaß von Alltagsdiskriminierung und struktureller Benachteiligung, mit der nicht weiße Menschen täglich konfrontiert sind.

Die deutsche Wissenschaft hat ihren Beitrag dazu geleistet, den rassistischen Glauben an grundsätzlich biologische Unterschiede zwischen Menschen in den Köpfen zu zementieren. Heute betonen führende Populationsgenetiker*innen erfreulicherweise, dass eventuelle genetische Unterschiede zwischen Menschen graduell und nicht kategorisch sind, und erst der Rassismus vermeintliche „Rassen“ erschaffen hat und bis heute reproduziert.(2) Dabei ist es noch nicht so lange her, dass ich als Biologiestudentin in einer Vorlesung an der Freien Universität Berlin mit der Aussage, „natürlich gibt es Menschenrassen“, konfrontiert war. Der verantwortliche Professor mag emeritiert sein, doch er und Gleichgesinnte konnten noch mehrere Generationen an neuen Biolog*innen und Mediziner*innen mit rassistischem Gedankengut kontaminieren. Die wiederum lassen es möglicherweise heute in ihre Forschung und Lehre einfließen. Es gab jedoch schon immer auch Widerstand gegen diese Denkweise – u. a. an den Hochschulen. Als ein Biologieprofessor an der Humboldt Universität Berlin vor rund fünfzehn Jahren ähnliche Aussagen traf, schlossen sich einige Studierende zu einer „AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften“ (3) zusammen. Durch diese AG hielt ich zum ersten Mal einen GID in der Hand. Immer wieder haben GID-Autor*innen die Kontinuitäten zwischen Eugenik, der Rassenhygiene des Nationalsozialismus, biologischem Determinismus und der Kategorisierung von Menschen durch moderne Genomforschung aufgearbeitet. In dieser Tradition steht diese Ausgabe, in der ganz verschiedene Aspekte der Verknüpfung von Rassismus und Lebenswissenschaften Raum erhalten.

Im ersten Artikel dieses Schwerpunktes beschreibt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Amma Yeboah die medizinischen Auswirkungen von Rassismus. Die Studienlage belegt, was betroffene Menschen schon lange wissen – rassistische Diskriminierung wirkt sich negativ auf die psychische und physische Gesundheit aus.

Eine andere Erscheinungsform rassistischer Diskriminierung tritt durch die Forschung von zwei Wissenschaftler*innen der Universität Freiburg zu Tage: Veronika Lipphardt berichtet im Interview von ihrer Untersuchung – gemeinsam mit Mihai Surdu – von genetischen Studien über die Bevölkerungsgruppe der Rom*nja. Sie fanden einen bis heute anhaltenden, ethisch äußerst problematischen Umgang mit Proband*innen in populationsgenetischen und forensischen Forschungsarbeiten und Datenbanken.

In einem weiteren Interview geht es um den erschwerten Zugang zum deutschen Gesundheitssystem für Menschen ohne Papiere. Aktivist*innen der Berliner Kampagne Legalisierung jetzt! beschreiben wie die Coronakrise ihre prekäre Situation weiter verschärft hat und welche politischen Veränderungen notwendig sind.

Abschließend hat GID-Redakteur*in Taleo Stüwe zum globalen Eizellhandel recherchiert und zeigt auf, welche biologischen Vorstellungen von rassialisierenden Kategorien in die Auswahl von „Spenderinnen“ einfließen.

Die hohe thematische Diversität innerhalb dieses Schwerpunktes gibt einen kleinen Eindruck darüber, wie tief Rassismus in jeder Faser unserer Gesellschaft sitzt – aber auch wie viele Ansatzpunkte es gibt, etwas zu ändern.

 

Anmerkungen und Referenzen:
(1)    Der Begriff People of Color (PoC), im Singular Person of Color, ist eine politische Selbstbezeichnung von Personen, die unterschiedliche Formen von Rassismus erfahren und von der Dominanzgesellschaft ausgeschlossen werden.
(2)    Fischer, M.S. et al. (2019) Jenaer Erklärung. Online: www.uni-jena.de/190910_JenaerErklaerung.
(3)    Interview mit der AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (2009): Rassifizierung ohne „Rasse”. In: GID 197, S.5-7. Online: www.gen-ethisches-netzwerk.de/node/1571.