„Die Hölle brach los“

Editorial der Graswurzelrevolution Nr. 445 (Januar 2020)

Liebe Leserinnen und Leser,

 

nachdem zuvor schon Attac, Campact und anderen emanzipatorischen Vereinen die Gemeinnützigkeit entzogen wurde, haben die Berliner Finanzbehörden nun der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der AntifaschistInnen den Status der Gemeinnützigkeit aberkannt, da sie „linksextremistisch beeinflusst“ sei. Das ist als Versuch zu verstehen, antifaschistische Arbeit zu bekämpfen. Aus Solidarität mit der größten antifaschistischen Organisation hierzulande bin ich deshalb jetzt Mitglied der VVN-BdA geworden. Antifaschismus ist immer gemeinnützig und in Zeiten, in denen antifaschistischen Organisationen die Gemeinnützigkeit entzogen wird und Rassisten Auftrieb haben, notwendiger denn je. Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!

 

Widerständige Musik

 

Am Ende einer Zeitungsproduktion habe ich hier die Gelegenheit, in letzter Minute noch Infos unterzubringen, die ansonsten in der GWR fehlen würden. So hat die GWR 445 zwar einen Schwerpunkt „Anarchismus und Musik“, aber meine Lieblings-Anarchopop-Punkband fehlt leider: Chumbawamba. Außer ihr möchte ich auch Tom Waits würdigen, der am 7. Dezember 70 Jahre alt geworden ist. Der US-amerikanische Sänger und Autor verbindet Einflüsse aus Blues, R‘n‘B, Jazz, Folk, Rock und Industrial Rock. Inspiriert wurde er u.a. von Bob Dylan und Kurt Weill. Er ist ein brillanter Songwriter und Agnostiker. Dem Kinopublikum ist er als Schauspieler z.B. aus „Down By Law“ bekannt. Ich hatte das Glück am Theater in Coesfeld Robert Wilsons „Woyzeck“-Inszenierung genießen zu können. Georg Büchner wäre wahrscheinlich ähnlich begeistert von dieser Interpretation seines Buches gewesen, zu der Tom Waits die Songs geschrieben hat. Versteht sich Waits als Anarchist? Wahrscheinlich nicht, aber er gehört trotzdem in diese Musikschwerpunkt-GWR, denn mit „Hell Broke Luce“ hat er 2011 eines der besten Antikriegslieder des 21. Jahrhunderts geschaffen. Der Text (1), die Musik und das Video (2) sind ganz große Kunst.

 

Krieg und Flucht

 

„Die Hölle brach los“, was das bedeutet, erleiden seit 2015 die Menschen im Jemen. Der Stellvertreterkrieg, der dort vom islamistischen Folterstaat Saudi-Arabien mit deutschen Waffen geführt wird, findet auch auf dem Rücken der Kinder statt. Was unser Autor Jakob Reimann dazu für diese GWR recherchiert hat, ist so erschütternd, dass es eigentlich auf die Titelseite jeder Tageszeitung gehört. In den Massenmedien spielt das Thema aber kaum eine Rolle. So versuchen wir mit dieser GWR ein Stück Gegenöffentlichkeit herzustellen und klar zu machen: Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit und wir müssen alles dafür tun, dass alle Kriege und Waffenexporte gestoppt werden.

Diese Erkenntnis wurde auch den Menschen vor Augen geführt, die am 27. November 2019 die von der GWR mit organisierte szenische Lesung zu Desertion und Militärstreik mit Rudi Friedrich und Talib Richard Vogl in Münster besucht haben. Wer die Veranstaltung „Krieg? Ohne uns!“ verpasst hat, kann sich einen Mitschnitt anschauen. (3)

Kriege sind ein Hauptgrund dafür, dass Millionen Menschen auf der Flucht sind. Nun ist das von der GWR und vielen Initiativen unterstützte Buch „Todesursache: Flucht“ im Hirnkostverlag in zweiter Auflage erschienen. In diesem sind die belegten Fälle von 35.500 Menschen verzeichnet, die in den letzten 26 Jahren auf der Flucht nach Europa gestorben sind. Die Dokumentation basiert auf dem Verzeichnis des europäischen Netzwerkes „United for Intercultural Action“ in Amsterdam. Mit diesem bewegenden Buch sollen die Opfer der EU-Abschottungspolitik dem Vergessen entrissen werden, um das Ausmaß dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu begreifen und „der Debatte um Flucht ein menschliches Antlitz zu geben“. (4)

 

Buch des Jahres: „Herrschaftsfreie Institutionen“

 

Ein ganz anderes Buch ist das im Verlag Graswurzelrevolution in zweiter Auflage erschienene „Herrschaftsfreie Institutionen. Texte zur Stabilisierung staatsloser, egalitärer Gesellschaften“ der Soziologen Rüdiger Haude und Thomas Wagner, zu dem wir in der GWR 447 (Libertäre Buchseiten) eine Besprechung des Kommunikationswissenschaftlers Armin Scholl veröffentlichen werden. (5)

Im Herbst jeden Jahres verleiht die Berliner „Bibliothek der Freien“ die Auszeichnung „Buch des Jahres“, „womit auf exzellente Publikationen zu einem anarchistischen Thema“ aufmerksam gemacht werden soll. „Zu den Beurteilungs-Kriterien gehören die wesentliche Vermehrung des Wissensstands zum jeweiligen Themenkomplex, sorgfältige Ausführung in Druck und Layout sowie besondere Recherchequalität, Originalität und Internationalität, wodurch der Publikation insgesamt bleibender Wert zukommt.“ (6)

Nun wurde „Herrschaftsfreie Institutionen“ als „Buch des Jahres 2019“ prämiert. Die Autoren, die Redaktion und der Buchverlag Graswurzelrevolution freuen sich sehr über diese Auszeichnung.

 

Interviews, Ausstellung und Ausblick

 

Ans Herz legen möchte ich die Lektüre des unter dem Titel „Gandhi war gewaltfreier Anarchist“ in der iz3w Nr. 376 (Januar/Februar 2020) erschienenen Interviews mit Lou Marin, das der GWR-Mitherausgeber anlässlich des 150. Geburtstages von Gandhi gegeben hat. Spannend! Wer sich für Anarchie, die Graswurzelrevolution, alternative Projekte und die erste Hausbesetzung in der Geschichte Unnas interessiert, kann das von Oliver Lippert im Dezember 2019 mit mir für seinen Blog geführte Interview „Dem Staat Freiheiten abtrotzen“ lesen. (7)

Vielleicht kann Euch der Musikschwerpunkt dieser GWR dazu anregen, noch bis zum 16. Februar 2020 die Wanderausstellung „Demos, Discos, Denkanstöße – Die 70er in Westfalen“ im Museum Minden zu besuchen? Dort kann man u.a. Cochise und Konstantin Wecker hören und alte Ausgaben der GWR in Glasvitrinen entdecken. (8)

Im Februar erscheint als Supplement der GWR 446 das vierseitige „A-Feminismus von unten“. Dieses anarcha-feministische GWR-Extrablatt drucken wir mit einer 23.000er Auflage. Ihr könnt es direkt bestellen bei abo@graswurzel.net (Mindestabnahme 50 Stück) und bei Veranstaltungen, Demos, Aktionen verteilen. Es ist kostenlos, aber für eine Spende (9) wären wir Euch dankbar.

Ich wünsche uns allen ein schönes 2020, Anarchie und Glück,

 

Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)

 

Anmerkungen:

1) Deutsche Übersetzung: https://www.songtexte.com/uebersetzung/tom-waits/hell-broke-luce-deutsch-23d62c43.html

2) https://www.youtube.com/watch?v=0Fju9o8BVJ8&feature=youtu.be

3) https://www.youtube.com/watch?v=mnwNAABodWM

4) Das 500-Seiten-Buch kann für 10 Euro direkt beim Verlag bestellt werden: https://shop.hirnkost.de

5) https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/herrschaftsfreie-institutionen/

6) https://www.bibliothekderfreien.de/buch-des-jahres.html#buch2019

7) https://tonguesofdestruction.de/interviews/bernd-druecke-im-interview-dem-staat-freiheiten-abtrotzen

8) Infos zur Wanderausstellung des rock’n’popmuseums Gronau und des LWL-Museumsamtes für Westfalen: https://www.lwl-museumsamt.de/de/serviceleistungen/ausstellungen/demos-discos-denkanstosse-die-70er-westfalen/

9) https://www.graswurzel.net/gwr/spenden/

 

 

Editorial aus: Graswurzelrevolution Nr. 445, Januar 2020, www.graswurzel.net