Revolutionäre Dringlichkeit

Sechs Thesen zu den Voraussetzungen für globale Solidarität

in (28.11.2019)

„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte Rudi Dutschke im Jahr 1968 beim Vietnam-Kongress in Berlin. Aus seiner Sicht gab es damals eine unmittelbare revolutionäre Dringlichkeit, auf die die Versammelten reagieren müssten. Heute, so scheint es, hat sich die Dringlichkeit, die Gesellschaft zu verändern, potenziert und auf ein völlig neues Niveau gehoben: Denn es bleibt nicht viel Zeit, um die irreversiblen Schäden einzudämmen, die der global entfesselte Kapitalismus verursacht und die bei einem weiteren „Business as usual“ in dramatische sozial-ökologische Verwerfungen münden könnten. Viele Aktivist*innen und Wissenschafter*innen sprechen deshalb seit geraumer Zeit von einer „Vielfachkrise“ des Planeten. Der Klimawandel wirkt zudem heute als Brandbeschleuniger für alle anderen Krisen, seien es soziale, ökonomische oder ökologische Krisen. Doch dem Pessimismus des Verstandes sollte, um mit Antonio Gramcsi zu sprechen, immer der Optimismus unseres Willens gegenüberstehen: Der Optimismus, eine gerechte und für zukünftige Generationen lebenswerte Welt schaffen zu können. Dafür ist Solidarität unabkömmlich. Sie findet im Großen wie im Kleinen statt, sie verbindet die lokale mit der globalen Ebene, sie unterscheidet sich fundamental von der herablassenden Geste des Caritativen. Doch welche Bedingungen und Voraussetzungen gibt es für globale Solidarität? Ich möchte dafür sechs Thesen vorstellen.

Meiner Ansicht nach müssen erstens die Ursachen für die Vielfachkrise des Planeten beleuchtet werden. Wir müssen das Universum struktureller Gewalt begreifen, in dem wir leben und wir müssen begreifen, wie es entstanden ist. Der mittlerweile viel zitierte Begriff der imperialen Lebensweise kann dabei hilfreich sein.

Solidarität ist ein alter Begriff: Viele Generationen haben sich unter der Erbringung hoher Opfer für Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, also Solidarität eingesetzt. Um die Bedingungen für unser Handeln zu diskutieren, müssen wir uns also zweitens mit der Geschichte der Solidaritätsbewegungen auseinandersetzen. Wir müssen sie kritisch prüfen und ausloten, welche Stränge und Traditionen wir aufgreifen können. Denn nicht alle Bewegungen und Ansätze, die der herrschenden Ordnung des Neoliberalismus entgegenstehen, sind den Prinzipien der globalen Freiheit, Gleichheit und Solidarität verbunden. Oft meinen wir jedoch, im Feind unseres Feindes unseren Freund zu erkennen. Im Glauben, einen wie auch immer gearteten Hauptwiderspruch zu bekämpfen, lassen wir uns dazu verleiten, zu autoritären Mitteln zu greifen, die einem höheren historischen Zweck untergeordnet werden. Dieses Denken ist fatal und kann in mörderische Sackgassen führen, wie die Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert vielfach gezeigt hat.

Vor uns liegt das Jahrhundertprojekt der sozial-ökologischen Transformation. Niemand kann zum heutigen Zeitpunkt sagen, ob es gelingen wird, den Planeten vor Klimachaos und Verwüstung zu bewahren. Angesichts der Vielfachkrise des Planeten ist es also drittens höchste Zeit, Alarm zu schlagen. In Bezug auf die Klimakrise zeigen Bewegungen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion, Ende Gelände oder Sand im Getriebe vor, was zu tun ist. Sie machen uns deutlich, dass unser Handeln hier und jetzt gefragt ist – wir müssen rasch, entschlossen und radikal agieren. Globale Solidarität ist dabei deshalb so zentral, da diejenigen am meisten von den Auswirkungen der Vielfachkrise leiden, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Das trifft ganz besonders auf die Folgen des Klimawandels zu.

Um globale Solidarität praktisch werden zu lassen, reicht es nicht aus, auf nur einer gesellschaftlichen Ebene präsent zu sein – beispielsweise ausschließlich in den zahlenmäßig doch relativ überschaubaren sozialen Bewegungen, die noch dazu oftmals den Nachteil haben, den Druck, den sie aufbauen, nicht über unbegrenzte Dauer aufrecht erhalten zu können. Deshalb gehe ich viertens davon aus, dass verschiedene emanzipatorische Strategien produktiv zusammenwirken sollten; oder anders formuliert: Wir sollten zu einer Art inner-linken Arbeitsteilung finden: Soziale Basisbewegungen, Zivilgesellschaft und NGOs, Kirchengemeinden, Journalist*innen, Kulturschaffende, Universitäten, bis hin zu progressiven Parteien müssen – bei aller Unterschiedlichkeit in der Wahl der Methoden und Ansätze – Synergien entwickeln. Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung der Demokratischen Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez in den USA durch soziale Bewegungen.

Der Ansatz der inner-linken Arbeitsteilung berührt fünftens das Theorem der Doppelstrategie. Damit meine ich, dass wir unser eigenes Handeln im Alltag bzw. in unserem unmittelbaren Umfeld sofort ändern müssen – beispielsweise auf Autos verzichten, weniger oder kein Fleisch essen oder, falls wir Zugang zu materiellen Ressourcen haben, diese radikal umverteilen. Gleichzeitig müssen wir diese Änderungen mit Ansätzen kombinieren, die kraftvoll, überzeugend und großmaßstäbig in die Gesellschaft hineinwirken und die Institutionen und Tiefenstrukturen unserer Gesellschaft verändern. Die beiden Elemente der Doppelstrategie stehen dabei in ständiger Wechselwirkung und können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden.

Auch wenn, oder gerade weil die Gesellschaft zerklüftet und durch komplex verschachtelte Herrschaftsverhältnisse zerrüttet ist, werden wir sechstens nicht umhin kommen, groß angelegte Bildungs- und Transformationsprojekte zu initiieren, die letztlich auch diejenigen gesellschaftlichen Kräfte und Personen miteinbeziehen, die heute einer sozial-ökologischen Transformation entgegenstehen. Darauf hat nicht zuletzt Hartmut Rosa in seinem Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung hingewiesen. Die Zukunft ist offen, und zwar in alle Richtungen. Gemeinsam müssen wir globale Solidarität innerhalb der ökologischen Grenzen unseres Planeten durchsetzen. Die revolutionäre Dringlichkeit ist ohne Zweifel gegeben.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 51, Herbst 2019, „Solidarität (Vorwärts und fast vergessen!)“.

Alexander Behr ist Politikwissenschafter, Übersetzer und Journalist. Neben der Lehrtätigkeit an Universitäten, an Schulen und bei Gewerkschaften ist er Aktivist im Netzwerk Afrique Europe Interact. Zuletzt erschienen: Die Kraft der kollektiven Intelligenz. In: Jean Ziegler – citoyen et rebelle, edition 8, Zürich 2019.