Eine neue soziale Bewegung gegen die Faschisierung
Wehret den Anfängen? Die Ereignisse im Sommer 2018 zeigen, dass wir schon mittendrin sind im Prozess der Faschisierung.
Auf Aufmärschen der islamophob-rassistischen PEGIDA in Dresden skandiert ein Mob „Absaufen! Absaufen!“ und meint damit die Seenotretter*innen und Geflüchteten, die versuchen, über das Mittelmeer einen sicheren Hafen zu erreichen. Der deutsche Bundesinnenminister Seehofer zeigt sich begeistert, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Menschen ins Kriegsgebiet Afghanistan abgeschoben werden. Einer dieser 69 Afghanen nimmt sich kurz darauf das Leben.
Der italienische Innenminister Matteo Salvini von der neofaschistischen Lega Partei verbietet Schiffen, die Geflüchtete an Bord haben, das Anlegen in italienischen Häfen und wirft den Seenotretter*innen vor, „Menschenfleisch“ zu transportieren. Die Seeleute, die das eigentlich Selbstverständliche tun und Menschen in Seenot retten, werden kriminalisiert und ihre Schiffe in den Häfen an die Kette gelegt. Kaum eine Schiffscrew traut sich noch, Ertrinkende zu retten, aus Angst vor anschließender Kriminalisierung. Die Zahl der Todesopfer dieser erbarmungslosen Politik steigt dramatisch. Bei der Überquerung des Mittelmeers sind in den ersten sieben Monaten dieses Jahres laut tagesschau.de vom 4. August 2018 bereits mehr als 1500 Menschen ertrunken, davon 850 im Juni und Juli. Dabei traten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum nur noch halb so viele Menschen die Flucht über das Mittelmeer an.
Der Rechtsruck wird in Deutschland vor allem von der AfD und von CSU-Politikern wie Markus Söder, Alexander Dobrindt und Horst Seehofer vorangetrieben, die Geflüchtete im NPD-Stil als „Asyltouristen“ und Pro-Asyl-Menschenrechtsaktivist*innen als „Anti-Abschiebe-Industrie“ und „Asylindustrie“ diffamieren.
Als Reaktion auf diese menschenfeindliche Politik und Volksverhetzung bildet sich seit Juli 2018 in vielen Städten und Dörfern eine neue soziale Bewegung unter dem Namen #Seebrücke. Diese internationale Bewegung wird getragen von verschiedenen Bündnissen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft. Sie sorgt mit aufsehenerregenden Aktionen und Demonstrationen für eine Politisierung vieler Menschen und Skandalisierung der verbrecherischen Anti-Flüchtlingspolitik.
Auf der überregionalen Aktionsseite seebruecke.org wird das humanistische Selbstverständnis der Bewegung deutlich: „Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen, um die Abschottung Europas weiter voranzubringen und politische Machtkämpfe auszutragen, ist unerträglich und spricht gegen jegliche Humanität. Migration ist und war schon immer Teil unserer Gesellschaft! Statt dass die Grenzen dicht gemacht werden, brauchen wir ein offenes Europa, solidarische Städte und sichere Häfen. Wir solidarisieren uns mit allen Menschen auf der Flucht und erwarten von der deutschen und europäischen Politik sofort sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind – kurz: Weg von Abschiebung und Abschottung und hin zu Bewegungsfreiheit für alle Menschen.“
Als ich mich am 21. Juli an der ersten Aktion des lokalen #Seebrücke-Ablegers „MS Seebrücke“ in Münster beteiligt habe, konnte ich meine Begeisterung kaum zügeln. Neben altbekannten Bewegungsaktivist*innen waren hier viele neue Gesichter dabei, für die das vielleicht ihre erste politische Aktion überhaupt war. Das kurz zuvor ins Leben gerufene lokale Aktionsbündnis „MS Seebrücke“ hatte zu einer symbolischen Mitmachaktion, bei der Papierschiffchen in der Innenstadt gefaltet wurden, aufgerufen. Damit sollte ein Zeichen gegen das Sterben im Mittelmeer und für sichere Häfen gesetzt werden.
Es beteiligten sich Hunderte an dieser spontanen und phantasievollen Aktion. Schon eine Woche später demonstrierten 800 Menschen an gleicher Stelle unter dem Motto „Seebrücke statt Seehofer“. Ähnliches fand gleichzeitig in vielen anderen Städten und an vielen Tagen statt. Fast täglich bilden sich überall in Europa neue Gruppen, die im Namen der #Seebrücke Aktionen organisieren und so Druck auf die Politiker*innen ausüben.
In diesem Zusammenhang ist auch die Demo am 22. Juli in München zu sehen, bei der 50.000 Menschen unter dem Motto „#ausgehetzt – Gemeinsam gegen die Politik der Angst!“ gewaltfrei und kraftvoll gegen die menschenfeindliche Anti-Flüchtlingspolitik und Hetze der CSU demonstrierten.
Hier entsteht eine neue „Teilbereichsbewegung“, eine wachsende Graswurzelbewegung gegen den Rechtsruck. Sie macht Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung und die Durchsetzung einer menschenfreundlichen Politik von unten.
Das unterscheidet #Seebrücke und #Ausgehetzt fundamental von #Aufstehen, der neuen politischen „Sammlungsbewegung“, die vor allem von der Politikerin Sahra Wagenknecht und ihrem Ehemann Oskar Lafontaine initiiert wurde und momentan in vielen Medien gehyped wird.
In erster Linie geht es bei #Aufstehen um eine neue Machtperspektive von und für Lafonwagenknecht, Dieter Dehm und ihre Exeget*innen. Das ist nicht emanzipatorisch. #Aufstehen ist keine soziale Bewegung von unten, sondern vor allem auch der Versuch von populistischen Machtpolitiker*innen, die Schäfchen aus den Lagern von Linkspartei, SPD, Grünen und nicht zuletzt der rassistischen AfD hinter sich zu versammeln. Wer gesehen hat, wie Sahra Wagenknecht und Frauke Petry zusammen in einer dieser unsäglichen Talkshows zur Etablierung rassistischer Propaganda – „Maischberger“ vom 21. September 2016 (1) – harmonierten, und wer die rechtspopulistischen Sprüche von Lafontaine und Wagenknecht auch gegen Geflüchtete analysiert, dem wird klar, dass #Aufstehen, ähnlich wie die „5 Sterne-Bewegung“ in Italien, nicht als Teil der Lösung zu verstehen ist, sondern in gewisser Weise auch als Teil des Rechtsrucks.
Wir brauchen keine Führer*innen. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Refugees welcome! Fluchtwege freihalten! Ausgehetzt! Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft.
Bernd Drücke
Anmerkung:
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-10/afd-linke-frauke-petry-sahra-wagenknecht-interview
Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 431, September 2018, www.graswurzel.net