Ausgangspunkt meiner Überlegungen und des Handelns einer kleinen, im Werden
begriffenen bundesdeutschen Care-Bewegung ist die Situation, dass viele Menschen
selbst in einem ökonomisch so starken Land wie der BRD immer größere Schwierigkeiten
haben, den Balanceakt zwischen Lohnarbeit einerseits und unentlohnter
Reproduktionsarbeit für sich und andere andererseits individuell zu meistern
(vgl. Winker 2011, 2015). Insbesondere Frauen leben mit dem dauernden Gefühl,
den Anforderungen nicht gerecht zu werden. Sie sind in ihrer Erwerbsarbeit mit
zunehmenden Flexibilitätsansprüchen der Unternehmen, steigendem Leistungsdruck,
unbezahlten Überstunden sowie Reallohnsenkung konfrontiert. Gemäß dem
neoliberalen Credo der Eigenverantwortung sind sie aufgerufen, diese hohen beruflichen
Anforderungen mit zunehmenden Aufgaben des Selbstmanagements und
mit gestiegenen Leistungsansprüchen in der familiären Sorgearbeit zu vereinbaren.
Verschärfend kommt hinzu, dass zum Zweck der Kostensenkung sozialstaatliche
Unterstützungsleistungen, beispielsweise im Gesundheits- oder Bildungssystem,
ab- statt ausgebaut werden.
Arbeit ohne Ende wird damit zur alltäglichen Realität. In der Folge kommt die
Sorge für sich selbst zu kurz. Muße ist zum Fremdwort geworden. Die andauernde
Überlastung ohne Erholungspausen führt zu Erschöpfung bis hin zu psychischen
Erkrankungen. Ebenso bleiben wichtige Bedürfnisse von Kindern oder kranken
Menschen, die auf Sorge angewiesen sind, unerfüllt. Damit zerstört die derzeitige
Politik, die primär das proitgeleitete Wachstum unterstützt, nicht nur, wie allgemein
wahrgenommen, das Ökosystem der Erde, sondern gleichzeitig den Menschen.
Zur Krise sozialer Reproduktion
Diese hier nur skizzierte Erfahrung von Mangel, Überforderung und sozialem Leid
ist Folge der Krise sozialer Reproduktion. Darunter verstehe ich die Zuspitzung
des Widerspruchs zwischen Proitmaximierung einerseits und der Reproduktion
der Arbeitskraft andererseits. Von allen Menschen im erwerbsfähigen Alter
– unabhängig von Geschlecht, Familienstatus und Anzahl der zu betreuenden
Kinder und Angehörigen – wird verlangt, durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft
für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Gleichzeitig wird die Aufgabe,
sich beschäftigungsfähig zu halten, verstärkt an sie selbst und ihre Angehörigen
als unbezahlte Reproduktionsarbeit zurückgegeben. Eine solche kostensenkende
Verlagerung von Sorgearbeit ist nur möglich, weil ein wesentlicher Teil dieser
gesellschaftlich notwendigen Arbeit unentlohnt und abgewertet von Frauen in
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Familien verrichtet wird. Allerdings ist das Gelingen dieser Politik längst nicht
gesichert. So fehlen bereits heute in einzelnen Branchen qualiizierte und körperlich
itte Arbeitskräfte.
Trotz dieser Auswirkungen der eigenen Strategie hält das Kapital grundlegend
an der weiteren Reduktion der Reproduktionskosten fest, und der Staat reagiert nur
an wenigen Stellen wie etwa beim Ausbau der Kita-Betreuung von Kleinkindern.
Andernfalls stünden die benötigten Arbeitskräfte, in diesem Fall qualiizierte Frauen,
schon kurzfristig nicht mehr in ausreichendem Maß zur Verfügung. Aber selbst beim
Ausbau der Kita-Betreuung werden die Kosten so gedrückt, dass grundlegende
Qualitätsansprüche nicht eingehalten werden.
In dieser Krisensituation sind Reformmaßnahmen schwer durchzusetzen, die
Menschen mehr inanzielle und zeitliche Ressourcen für die Sorgearbeit für sich
selbst und andere zur Verfügung stellen. Denn indem diese Schritte die Reproduktionskosten
erhöhen, beeinträchtigen sie die Kapitalverwertung. Selbst wenn es
gelingt, durch starke soziale Bewegungen einzelne Reformen zu erstreiten, bleiben
die Reformprojekte umkämpft und ständig von Gegenangriffen der Kapitalseite
bedroht. Eine erfolgreiche Care-Bewegung muss also permanent Veränderungen
weitertreiben und für eine echte Revolutionierung aller Bedingungen eintreten, unter
denen Menschen derzeit leben und häuig auch leiden.
Care Revolution als Transformationsperspektive
Care Revolution versucht nun, diesem politischen Anspruch gerecht zu werden.
Sie betont – den Erkenntnissen feministischer Politik folgend – die grundlegende
Bedeutung der Sorgearbeit und zielt darauf ab, das gesellschaftliche Zusammenleben
ausgehend von menschlichen Bedürfnissen zu gestalten.
Mit der Care Revolution ist also ein grundlegender Perspektivwechsel verbunden:
Es geht um nicht weniger als die Herausforderung, nicht weiter die Proitmaximierung,
sondern stattdessen die Verwirklichung menschlicher Bedürfnisse ins
Zentrum gesellschaftlichen und damit auch ökonomischen Handelns zu stellen. Care
Revolution stellt durch diese Bedürfnisorientierung auf den Gebrauchswert von
Arbeitsergebnissen ab und tritt der kapitalistischen Verwertungslogik entgegen.
Indem die – in den meisten politischen, auch linken Entwürfen unsichtbare –
Sorgearbeit als Bezugspunkt der Gesellschaftsveränderung gewählt wird und dabei
Geschlechterkonstruktionen und geschlechtliche Arbeitsteilung grundlegend in
Frage gestellt werden, ist diese Konzeption zutiefst feministisch. Und indem neben
heteronormativen auch rassistische, klassistische und bodyistische (körperbezogene)
Herrschaftsverhältnisse und damit einhergehende Diskriminierungen mitgedacht
werden, handelt es sich um eine intersektionale feministische Perspektive, die auch
als queer-feministisch bezeichnet werden kann.
Zur Realisierung auch der kleinsten Schritte in diese Richtung bedarf es einer
gesellschaftlichen Mobilisierung, eines Zusammenschlusses Aktiver über Care-Bereiche
und über Positionen im Sorgeverhältnis hinweg. Heute bereits gibt es in der
538 Gabriele Winker
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BRD eine Reihe von Organisationen von plegenden Angehörigen, Elterninitiativen,
Gruppen von Migrantinnen und Flüchtlingen, die sich gegen die Überlastung
und gleichzeitige Abwertung ihrer unentlohnten Sorgearbeit wehren. Auch viele
Care-Beschäftigte in Krankenhäusern, Kitas und Altenheimen sind nicht länger
bereit, die inhumanen Bedingungen des Status quo für Beschäftigte und Betreute
weiter zu dulden. Dazu kommen viele junge Menschen, die sich gegen eine Welt
wehren, in der sie sich kein gelingendes Leben vorstellen können. Ca. 70 dieser
Gruppen und Initiativen haben sich im Netzwerk Care Revolution zusammengeschlossen.
Konkret ist derzeit zunächst wichtig, eine existenzielle Absicherung
aller Menschen durchzusetzen, beispielsweise durch die Realisierung eines
bedingungslosen Grundeinkommens. Eine deutliche Reduktion der Vollzeit-Erwerbsarbeit
kann darüber hinaus allen Menschen mehr Zeit für Sorgearbeit sowie
zivilgesellschaftliche und politische Arbeit ermöglichen. Weiter ist es notwendig,
die öffentlichen Care-Dienstleistungen in Bildung und Erziehung, in Gesundheit und
Plege auszubauen. Nur so können Individuen entlastet werden, und nur so lässt sich
gleichzeitig die Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge erhöhen. Und selbstverständlich
müssen auch die Arbeitsbedingungen und die Verdienstmöglichkeiten der
Care-Beschäftigten, beispielsweise von Erzieherinnen und Erziehern sowie Altenplegekräften,
deutlich verbessert werden, und es muss eine soziale Absicherung
der häuig migrantischen Beschäftigten in Privathaushalten durchgesetzt werden.
Notwendig ist dafür eine umfassende Umverteilungspolitik.
Die sozialen Auseinandersetzungen um diese und viele andere Reformprojekte
gilt es permanent zu verbinden mit dem Eintreten für eine Gesellschaft, in der alle
– solidarisch organisiert – die jeweils eigenen Fähigkeiten entwickeln können. Eine
solche Strategie weist bewusst über den Rahmen des derzeitigen politisch-ökonomischen
Systems hinaus. Rosa Luxemburg nennt sie ^revolutionäre Realpolitik^^.
Ich gehe davon aus, dass es sinnvoll ist, mit der Vergesellschaftung und grundlegenden
Demokratisierung beim Care-Bereich zu beginnen. Dafür spricht das
Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Zunächst ist die kollektive Organisation von
Care für die existenzielle Absicherung sehr wichtig, und ihre Gestaltung greift tief
ins Leben der Menschen ein. Ferner wirkt im Care-Bereich die Proitorientierung
besonders offensichtlich den menschlichen Bedürfnissen entgegen. Es ist für viele
deutlich wahrnehmbar, wie unsinnig und kontraproduktiv es ist, Menschen nach
dem Prinzip maximaler Proitabilität heilen, erziehen, unterstützen, beraten oder
plegen zu wollen. Darüber hinaus ist weithin anerkannt, dass das derzeitige System
sozialer Infrastruktur nicht nur zu mangelhafter Qualität, sondern auch zu großen
sozialen Ungleichheiten führt.
Gleichzeitig haben Menschen sehr unterschiedliche Wünsche an eine soziale
Infrastruktur. Deswegen ist es etwa im Bereich der Kinderbetreuung, der Unterstützung
älterer Menschen, der gesundheitlichen Vorsorge und Prophylaxe oder der
Bildungsangebote sinnvoll, durch Mitsprache aller und durch gemeinschaftliche
Abwägung von Prioritäten vielfältige Angebote zu entwickeln. Dazu kommt, dass
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vieles hiervon auf kommunaler Ebene, in Stadtteilen oder im Dorf gemeinsam
planbar und umsetzbar ist, da die allermeisten Care-Angebote dezentral realisiert
werden können. Hier lassen sich im direkten Miteinander konkrete Formen der
Selbstverwaltung realisieren, da Menschen als Expertinnen und Experten ihrer
Bedürfnisse vor Ort sprechen und entscheiden können.
Wenn Vermeidung von Ausschlüssen, demokratische Gestaltung und
Bedürfnisorientierung die Ziele sind, an denen sich ein solidarisch organisierter
Care-Bereich orientieren muss, sehe ich zwei gangbare Wege. Möglich ist zum einen
eine schrittweise Demokratisierung der bislang privatwirtschaftlich, staatlich oder
von Wohlfahrtsverbänden organisierten Infrastruktur. Das lässt sich beispielsweise
über gewählte Care-Räte realisieren, die einer Rechenschaftsplicht gegenüber ihrer
Basis unterliegen. Zum anderen ist eine auf kollektiven Projekten beruhende dezentrale
Neugestaltung von Care gut vorstellbar. Dabei lässt sich auf die Erfahrungen
bereits bestehender Kollektive wie Wohnprojekte, Produktionskollektive oder
Nachbarschaftsläden aufbauen. Beide Wege halte ich für so attraktiv, dass es sich
lohnt, sie anzugehen und zu verbinden.
Mit der Etablierung solcher dezentraler und zentraler Strukturen, in denen
bedürfnisorientiert und tatsächlich demokratisch Entscheidungen getroffen werden,
lassen sich Erfahrungen sammeln und Fähigkeiten erwerben, die für das Bestreben
erforderlich sind, die Ökonomie insgesamt, also auch über den Care-Bereich hinaus,
zu vergesellschaften.
Im Prozess der Herausbildung und Weiterentwicklung einer solidarischen
Gesellschaft ist ferner von zentraler Bedeutung, dass sowohl in einzelnen Kollektiven
und Gemeinschaften vor Ort als auch in überregionalen Institutionen immer
wieder Hierarchien, Abwertungen und Ausgrenzungen einzelner Menschen oder
Gruppen bewusst relektiert werden. In der heutigen Kultur sind Prinzipien der
Über- und Unterordnung entlang von Kategorien wie Geschlecht, sexueller Orientierung,
rassistischen Zuschreibungen, berulicher Kompetenz und körperlicher
Leistungsfähigkeit fest verankert. Deswegen ist es so enorm wichtig, dass sich in
der Care-Bewegung Aktive gegen damit verbundene Diskriminierungen zur Wehr
setzen, aber auch ihr eigenes Verhalten gegenüber den als Andere konstruierten
Menschen kritisch beleuchten und immer wieder verändern. Dies ist ein noch lange
andauernder und unabdingbar notwendiger Prozess. Wenn es auf diese Weise gelingt,
eine Kultur des offenen und solidarischen Miteinanders zu etablieren, dann können
wir eine Gesellschaft entwickeln, in der sich Menschen nicht mehr konkurrenzhaft
gegenüberstehen, sondern in der Solidarität zum gesellschaftsbestimmenden Prinzip
wird.
Literatur
Winker, Gabriele, »Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive«, in:
Das Argument 292, 53. Jg., 2011, H. 3, 333-44
dies., Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015