zur Umgehung von Arbeitsrechten durch Handelsrechte am Beispiel USA
Es war die größte Demo, die Berlin seit Langem gesehen hat: Bis zu 250000 Leute haben am 10. Oktober gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA demonstriert. Bei Unternehmerverbänden, in manchen Redaktionsstuben und im Wirtschaftsministerium macht sich Nervosität breit: Während bornierte Angsthasen den Fortschritt blockieren, werden anderswo auf der Welt Fakten geschaffen, lautet die Botschaft nicht nur der riesigen Anzeige, die SPD-Chef Sigmar Gabriel in mehreren Tageszeitungen verbreiten ließ – kurz vor der Demo war für die andere Seite des Globus der Abschluss der Verhandlungen über das Transpazifische Handelsabkommen TPP bekannt gegeben worden. Die Frontverläufe in den USA sind denen hierzulande allerdings gar nicht unähnlich, das macht der folgende Text von Dan DiMaggio aus der Zeitschrift Labor Notes deutlich: Während Gewerkschaften und Zivilgesellschaft die Verschärfung der Ausbeutung von Mensch und Umwelt fürchten, beteuert die Regierung, dass sie mit den Handelsabkommen hohe Schutzstandards exportiert. Zweifel daran sind mehr als berechtigt, wie ein derzeit laufendes Verfahren um die Durchsetzung von Arbeitsrechten beim US-Handelspartner Guatemala zeigt.
Die USA und elf weitere Staaten haben am 5. Oktober eine Einigung über die abschließende Textfassung der Trans-Pacific Partnership erzielt, ein Handelsabkommen, das zwei Fünftel der Weltwirtschaft abdecken wird. Wenn Präsident Obama seine Absicht bekannt gibt, es zu unterzeichnen, wird der Kongress mindestens 90 Tage Zeit haben, den Text zu prüfen, bevor er ohne Änderungsanträge angenommen oder abgelehnt wird. Der frühestmögliche Termin für eine Abstimmung wäre Januar, obschon viele erwarten, dass es vor April keine Abstimmung geben wird.
Das TPP-Abkommen wurde häufig von Gewerkschaften kritisiert, da es wenig zum Schutz von Arbeitsplätzen beitrage und die Rechte von Investoren und Konzernen auf Kosten von ArbeiterInnen und Umwelt bevorzuge.
Wie bei allen früheren Handelsabkommen macht der Präsident auch bei diesem hehre Versprechen. Obama sagt, TPP werde »neue Märkte für amerikanische Produkte öffnen, während es hohe Standards für den Schutz von Arbeitern und die Bewahrung der Umwelt setzt«. Um die hohle Rhetorik zu durchschauen, muss man nur das Beispiel des ersten arbeitsrechtlichen Verfahrens betrachten, dass im Rahmen eines Handelsabkommens angestrengt und vermutlich mitten in der TPP-Debatte des Kongresses abgeschlossen wird.
Im Dezember wird ein Schiedsgericht seine Entscheidung über eine Beschwerde der USA im Rahmen des 2005 geschlossenen mittelamerikanischen Freihandelsabkommens CAFTA gegen die Regierung Guatemalas veröffentlichen, in der es um das Versagen bei der effektiven Durchsetzung von Arbeitsrechten geht. Es hat Jahre gedauert, nur einen einzigen Fall so weit zu bringen – und die potentielle Strafe besteht in einem blauen Auge.
Im Schneckentempo
Es ist sechs Jahre her, dass der amerikanische Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO gemeinsam mit sechs guatemaltekischen Gewerkschaften erstmals eine Beschwerde beim Arbeitsministerium einreichte. Sie beschuldigten Guatemala, beim Schutz der gesetzlich garantierten Rechte von ArbeiterInnen (Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitsbedingungen) gänzlich zu versagen, da keine Inspektionen, Registrierungen von Gewerkschaften oder die Befolgung von Gerichtsurteilen gewährleistet wären.
Nur zwei Prozent der arbeitenden Bevölkerung von Guatemala sind gewerkschaftlich organisiert. Für GewerkschaftsaktivistInnen handelt es sich um eines der gefährlichsten Länder der Welt. Die AFL-CIO berichtete, dass auf dem Stand von August 2014 72 guatemaltekische GewerkschafterInnen ermordet wurden, seit CAFTA in Kraft ist – und das bei nahezu vollständiger Straflosigkeit für ihre Mörder.
Das Schneckentempo des CAFTA-Verfahrens ist »eine gewaltige Beeinträchtigung für ArbeiterInnen in Guatemala«, sagt Stephen Wishart, Referent für Mittelamerika im AFL-CIO-Solidaritätszentrum. »Ihre Rechte werden auf die gleiche Weise verletzt, wie es schon 2008 berichtet wurde.« Die Verzögerungen haben der Regierung von Guatemala die Möglichkeit gegeben, »die Probleme zu übertünchen«, meint Homero Fuentes von COVERCO, der »guatemaltekischen Organisation zur Beobachtung von Arbeitsstandards«. Nach dem Beschluss, den Fall anzunehmen, hielten die USA Konsultationen mit Guatemalas Regierung ab, erreichten aber keine Einigung. 2011 beantragten die USA die Einrichtung des Schiedsgerichtes, das die Arbeitsrechte unter CAFTA schützen soll. Das Gericht wurde schließlich 2012 konstituiert, sechs Monate später jedoch auf Eis gelegt, als Guatemala einen Vollstreckungsplan unterzeichnete und damit der Beschäftigung von zusätzlichen Arbeitsinspektoren und einer Erhöhung des Budgets für den Gesetzesvollzug im Arbeitsministerium zustimmte. Das Land unterließ es allerdings, gemäß diesem Plan zu handeln. Schließlich verlangten die USA im vergangenen September, dass das Gericht wieder eingesetzt wird. Die erste Anhörung hat im Juni stattgefunden. »Viele Leute würden die Position vertreten, dass das Timing kein Zufall ist – wir sind mitten in einer großen Handelsdebatte«, sagt Cassandra Waters, Mitarbeiterin für globale Arbeitsrechte bei der AFL-CIO.
Verschwiegene Gewalt
Gewalt gegen Gewerkschaften findet sich nicht unter den Anklagepunkten der Beschwerde. Die US-Regierung vertritt die Position, dass es sich dabei um ein Problem außerhalb des Geltungsbereichs von Freihandelsabkommen handelt. Die AFL-CIO sieht das anders: »Nichts in diesen Abkommen hält jemanden davon ab, zu Gewalt zu greifen«, sagt Waters. »Guatemala muss seine Gesetze in Bezug auf die Koalitionsfreiheit durchsetzen – und dazu würde die Untersuchung der Morde an GewerkschafterInnen gehören.«
Die Gewalt in Verbindung mit anderen Unzulänglichkeiten bei der Durchsetzung von Arbeitsrecht macht es ArbeiterInnen in Guatemala außerordentlich schwer, Gewerkschaften zu bilden. Zum Beispiel gibt es laut Fuentes nur in drei von landesweit 160 Textilfabriken eine Gewerkschaft. Vierzig Prozent der Exporte des Landes gehen in die Vereinigten Staaten – und 94 Prozent der Textilexporte sind für den US-amerikanischen Markt bestimmt. Guatemala, die größte Volkswirtschaft Mittelamerikas, ist der größte Bananenlieferant der USA. Es exportiert darüber hinaus Kaffee, Kleidung und Gold im Wert von jährlich hunderten Millionen Dollar.
Lohnt nicht…
Die Grundlage für die Beschwerde ist eine CAFTA-Klausel, der zufolge die Vertragsparteien die Durchsetzung von Arbeitsrechten nicht wiederholt derart versäumen dürfen, dass es relevant für den Handel wird. Die Beschwerde verweist auf Palmöl-Plantagen, deren ArbeiterInnen einen Lohn von fünf Dollar pro Tag angeben – die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns – und sich Verbrennungen zuzogen, als sie gezwungen wurden, Felder ohne Schutzkleidung auszuräuchern. Sie bezieht sich auch auf ArbeiterInnen in mehreren anderen Branchen, die aufgrund von Organisierungsversuchen widerrechtlich entlassen worden waren und Jahre warten mussten, bis sie ihre Stellen zurückhatten.
Ein maßgebliches Hindernis für die Durchsetzung des Arbeitsrechts ist, dass das guatemaltekische Arbeitsministerium den Arbeitgebern keine Bußgelder auferlegen kann. Stattdessen muss es den Gerichtsweg beschreiten, was Sanktionen verzögert. Und sogar in solchen Fällen ignorieren Unternehmer die Anweisungen des Gerichts oft, während die Regierung stillhält. »Es gibt eine große Zahl an Fällen, bei denen das Arbeitsministerium nicht gehandelt hat«, sagt Waters. »Aber es gibt sogar noch mehr Fälle, bei denen die ArbeiterInnen sich erst gar nicht darum kümmern, das Ministerium zu kontaktieren, weil sie ohnehin keine Hoffnung haben, dass irgendwas passieren wird.«
Schief und schwach
Das Gericht hat drei Mitglieder, die aus einer Liste ausgewählt werden, die mit CAFTA aufgestellt wurde. Jede Seite sucht ein Mitglied aus, und beide zusammen ernennen den Vorsitzenden. Guatemala entschied sich für einen Verfassungsrechtler, der einigen AktivistInnen zufolge enge Verbindungen zur Privatwirtschaft pflegt. »Für uns ist dies die erste schlechte Entscheidung in diesem Schiedsverfahren, weil die Richter nach unserer Auffassung passende, ehrenwerte und unabhängige Experten sein sollten«, sagt Mirna Nij von der Gewerkschaft der ArbeiterInnen im informellen Sektor (Sindicato de Trabajadores de la Economía Informal). »Wir sind der Meinung, dass dieser Jurist nicht über diese Eigenschaften verfügt.«
Sollte das Gericht ein Bußgeld verhängen, muss das Land bis zu 15 Mio. Dollar pro Jahr zahlen. Dieses Geld würde in einen Fonds zum Zweck der Stärkung der arbeitsrechtlichen Institutionen des Landes gehen. »Das beste denkbare Szenario ist also, dass Guatemala an sich selbst ein Bußgeld zahlt – keine besonders effektive Abschreckung«, sagt Waters.
Und wie José Pinzón vom Central General de Trabajadores de Guatemala betont: »Es wird weder die Regierung noch die Wirtschaft sein, die das bezahlt – es werden die über 15 Mio. Guatemalteken sein, die das zahlen müssen.« Dennoch, sagt Waters, »ist es gut, dass die USA sich entschieden haben, Guatemala vors Schiedsgericht zu bringen, weil wir diese Verpflichtungen ernst nehmen sollten.« Es gibt auch Klauseln, die es den USA erlauben würden, manche Handelsvorteile auszusetzen, aber nur, wenn Guatemala das Bußgeld nicht zahlen sollte.
Diesmal könnt Ihr uns vertrauen!
Seit CAFTA gab es einige Verbesserungen in US-amerikanischen Handelsabkommen, einschließlich einer einklagbaren Verpflichtung zur Adaption und Einhaltung grundlegender Prinzipien der Internationalen Arbeitsorganisation ILO: Koalitionsfreiheit, Tarifrecht, Abschaffung von Zwangs- und Kinderarbeit und die Beseitigung von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. »Es hat deutliche Fortschritte im Hinblick darauf gegeben, was neuere Handelsabkommen regeln«, sagt Waters. »Aber die tatsächliche Durchsetzung dieser Gesetze hat sich kein bisschen verbessert.« Die Obama-Regierung verkauft TPP als »fortschrittlichstes Handelsabkommen der Geschichte« mit den bisher höchsten arbeitsrechtlichen Standards.
Doch wie eine Studie des Teams von Senatorin Elizabeth Warren herausstellte, wurden vergleichbare Versprechungen zur Rechtfertigung eines jeden Abkommens seit NAFTA heruntergeleiert. 2005 zum Beispiel sagte der US-Handelsbeauftragte Rob Portman, CAFTA habe »die stärksten arbeits- und umweltrechtlichen Bestimmungen aller bislang von den USA verhandelten Handelsabkommen.« Wishart führt an, dass in all diesen Abkommen die Durchsetzungsmechanismen schwächer sind als unter dem Generalized System of Preferences (GSP, Allgemeines Präferenzsystem), das eine bevorzugte Zollbehandlung von Entwicklungsländern vorsieht und das auf Guatemala vor Inkrafttreten von CAFTA angewandt wurde. Das GSP ist immer noch in Kraft für Länder, die nicht unter ein Handelsabkommen fallen, wie Bangladesch, dessen Vorzugszölle 2013 widerrufen wurden, nachdem 1129 ArbeiterInnen bei der Katastrophe von Rana Plaza ums Leben kamen. Diese Maßnahme der USA »löste sofort einige Reformen aus«, sagt Wishart – im Unterschied zum CAFTA-Verfahren, das Guatemala jahrelang gestattet hat, die Sache schleifen zu lassen.
Durchsetzungslücke
Eine Studie des Government Accountability Office1 kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass die USA systematisch versagt, wenn es um die Überwachung und Durchsetzung der arbeitsrechtlichen Klauseln in den Freihandelsabkommen geht. Die Behörde betonte das gleiche Problem bereits in einer ähnlichen Studie vor fünf Jahren. In allen fünf Fällen, in denen das Arbeitsministerium Beanstandungen von Verstößen gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen in Handelsabkommen angenommen hat, hat es die 180-Tage-Frist zur Begutachtung überschritten. Durchschnittliche Verspätung: Neun Monate.
Zuletzt hat es über drei Jahre gedauert, eine Eingabe von AFL-CIO und Verbündeten aus Honduras zu begutachten, in der das systematische Versagen der honduranischen Regierung bei der Durchsetzung der eigenen Arbeitsgesetzgebung beklagt wurde. Funktionäre des Arbeitsministeriums erwarten, dass TPP – von dem auch der Serien-Arbeitsrechtsbrecher Vietnam ein Teil ist, wo es noch immer illegal ist, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen – ihre Ressourcen noch weiter strapazieren wird.
Die größten Auswirkungen auf Arbeitsrechte gibt es, vermutet Waters, bevor ein Abkommen unterzeichnet wird. »Guatemala ist ein exzellentes Beispiel für ein Land, das nicht einmal den CAFTA-Bestimmungen genügte, als das Abkommen in Kraft trat«, sagt sie. »Die Vorstellung, dass diese Abkommen Arbeitsbedingungen verbessern würden, ist absolut falsch. Es hat keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Guatemala gegeben – wenn überhaupt, ist es eher schlechter geworden.«
Einige guatemaltekische AktivistInnen sind der Meinung, dass Gewerkschaften eine größere Rolle bei der Überwachung der Verpflichtungen aus Handelsabkommen spielen sollten. Fuentes meint, den Arbeiterorganisationen hätten mehr öffentliche Mittel zugeteilt werden können, um die Auswirkungen auf ArbeiterInnen zu dokumentieren. Auch eine Art gewerkschaftlicher Kontrollrat hätte eingerichtet werden können.
Das klingt mit Sicherheit nach einem effektiveren Ansatz, als auf die Regierung Guatemalas zu vertrauen, die gemeinhin als eine der korruptesten der Welt gilt. Sowohl der Präsident als auch der Vizepräsident waren vor Kurzem gezwungen, nach einem massiven Korruptionsskandal zurückzutreten, und warten nun im Gefängnis auf ihre Gerichtsverhandlung.
Im November wird die ILO entscheiden, ob sie eine Untersuchungskommission einrichtet – ihre schärfste Form der Überwachung –, um die systematischen Arbeitsrechtsverstöße in Guatemala zu untersuchen.
Übersetzung: Stefan Schoppengerd
Quelle: Labor Notes, www.labornotes.org, Artikel vom 6. Oktober 2015
Anmerkung:
1) Das GAO ist eine Einrichtung des Kongresses zur unabhängigen Überprüfung von Maßnahmen der Bundesregierung und -behörden (Anm. d. Red.)