Versorgung gefährdet

Chris Brooks über die Kampagne privater Krankenhausbetreiber gegen Personalbemessung in den USA

in (31.12.2018)

In: express 12/2018

Die Pflegekräfte im US-Bundesstaat Massachusetts mussten am 6. November 2018 an den Urnen eine vernichtende Niederlage hinnehmen, als das gewerkschaftlich initiierte Volksbegehren »Question 1« mit mehr als zwei Drittel der Stimmen abgelehnt wurde. Question 1 hätte die Pflege im Krankenhaus durch eine Begrenzung der Patientenzahlen pro Pflegekraft verbessert. Die Abstimmungsinitiative wurde angeführt von der Massachusetts Nurses Association (MNA), die Pflegekräfte in 70 Prozent der Kliniken des Bundesstaates vertritt, darunter 47 private und fünf öffentliche Krankenhäuser.

Oberflächlich betrachtet ist das Anliegen von Question 1 offensichtlich: Möchten Sie lieber von einer Pflegekraft betreut werden, die für drei weitere PatientInnen zuständig ist, oder von einer, die sieben andere PatientInnen zu versorgen hat? Sichere Personalschlüssel sind für die Gewerkschaften der Pflegekräfte ein heiliger Gral. Während Verhältniszahlen von PatientInnen pro Pflegekraft oft nur tariflich geregelt sind, ist es den PflegerInnen in Kalifornien gelungen, allgemeingültige Zahlen gesetzlich festschreiben zu lassen.

Die Ergebnisse sprechen für sich: »In Kalifornien gibt es weniger Fälle vermeidbarer Wiedereinweisungen und bessere Behandlungsergebnisse«, sagt Nora Watts, eine 43-jährige Pflegekraft im Newton-Wellesley-Krankenhaus bei Boston. »Krankenhausbezogene Morbiditäts- und Mortalitätsraten gehen schneller zurück als irgendwo anders hierzulande.«

Wie also ist es den Arbeitgebern gelungen, die Öffentlichkeit zu einer Nein-Stimme zu bringen? Die Krankenhauslobby in Massachusetts hat über 30 Millionen Dollar ausgegeben, um in einer Kampagne, die sehr deutlich an die gewerkschaftsfeindliche Stimmungsmache bei gewerkschaftlichen Anerkennungswahlen erinnerte, Angst und Verwirrung zu verbreiten.

Massenhafte Verwirrung

Mit der Question 1-Initiative musste die Nurses Association mit ihrer Basisarbeit gegen die gut gefüllten Taschen der 28 Mrd. Dollar starken Krankenhausindustrie antreten. »Wir haben jede Menge Hintergrundrecherchen betrieben, Mitgliederbefragungen durchgeführt, Texte zur Verfügung gestellt und einen Pool an RednerInnen aufgestellt, die im ganzen Bundesstaat zu Veranstaltungen gereist sind, die wir organisiert haben«, sagt Katie Murphy, seit 40 Jahren Krankenschwester.

»Wir haben Plakate gemacht. Wir haben Telefonhotlines betrieben und die sozialen Medien gefüttert. Bei der Arbeit haben wir Anstecker getragen, in unseren Gärten haben wir Schilder aufgestellt. Wir haben Abgeordnete die Forderungen unterzeichnen lassen, und wir haben an die Türen unserer NachbarInnen geklopft.« Aber schlussendlich war das nicht genug. »Wir sind drei zu eins überboten worden«, sagt die MNA-Vorsitzende Julie Pinkham, »und die Krankenhauslobby hat sehr effektiv dafür gesorgt, die Leute so sehr zu verwirren und zu verängstigen, dass sie nicht mehr wussten, was die richtige Wahl zur Unterstützung der Pflegekräfte ist«.

Transparente und Schilder in Vorgärten waren absichtlich denen der Gewerkschaft nachempfunden. Ein arbeitgeberfinanzierter Fernsehspot brachte eine Stellungnahme der American Nurses Association, einem Manager-dominierten Berufsverband mit gewerkschaftsfeindlichen Wurzeln.

»Alle wollen Pflegekräfte unterstützen« sagt Pinkham. »Die Gegenseite war damit erfolgreich, externe Leute als OP-PflegerInnen zu verkleiden und an die Spitze der Kampagne zu stellen.«

Terror am Arbeitsplatz

In den Krankenhäusern ahmten die Arbeitgeber eine Anti-Gewerkschafts-Kampagne nach (wie sie in den USA bei betrieblichen Anerkennungswahlen häufig vorkommt, d. Ü.). »Ich habe KollegInnen weinen sehen«, so Mark Brodeur, Pfleger im Klinikum von Berkshire. »Es gab Teambesprechungen, bei denen den PflegehelferInnen gesagt wurde, dass es keine Arbeitsstellen für sie gibt, wenn die Abstimmung durchgeht. In allen ambulanten Einrichtungen liegen sämtliche Schalter voll mit Pamphleten, in denen behauptet wird, dass alle Krankenhäuser schließen und die Versorgung eingestellt wird, wenn nicht alle mit ›Nein‹ stimmen. Die Geschäftsführungen verbreiten Terror.«

»Es gibt viele unorganisierte Pflegekräfte, die uns bei der Kampagne unterstützt haben«, berichtet Karen Coughlin, die letzten Monat gekündigt hat, um Vollzeit für die Question 1-Kampagne zu arbeiten. »Sie haben Klinken geputzt, Leute angerufen und sich mit Schildern bei den Abstimmungen postiert – und bei der Arbeit sind sie durch die Hölle gegangen. Sie wurden zu Eins-zu-eins-Gesprächen mit ihren Vorgesetzten gezwungen, die ihnen erzählen, dass sie mit Nein stimmen müssen, anderenfalls würde ihre Abteilung geschlossen oder ihr Beschäftigungsumfang verändert.«

Die MNA gründete eine Telefonhotline für PatientInnen und Pflegekräfte, um Einschüchterungsversuche durch die Geschäftsführungen melden zu können. PatientInnen riefen an und berichteten, dass sie Post vom Klinikbetreiber Baystate Health bekommen hatten, auf der mit rotem Stempel »DRINGEND« stand. Die Briefe beinhalteten Pamphlete gegen Question 1. Auch Berichte, dass PatientInnen in laufenden Behandlungen gesagt wurde, ihre Versorgung werde möglicherweise eingestellt, wenn Question 1 angenommen werde, erreichten die Gewerkschaft.

Viele Beschäftigte im Gesundheitswesen werden von dem Riesen-Local 1199 der SEIU vertreten, die mit der MNA bei der Formulierung der Abstimmungsinitiative zusammenarbeitete, sich dann aber dafür entschied, bei Question 1 neutral zu bleiben. »Es ist wirklich besorgniserregend, dass SEIU-Mitglieder bedroht wurden, aber die Gewerkschaft nicht öffentlich Position zur Gesetzesinitiative bezogen hat«, meint Brodeur.

Im Kampf gegen Unterbesetzung

Chronische Unterbesetzung ist ein ernsthaftes Problem für Pflegekräfte in Krankenhäusern überall. Das Thema gehört zu den gewerkschaftlichen Prioritäten bei Tarifverhandlungen. Wäre die Initiative angenommen worden, hätte es ein Maximum an PatientInnen pro Pflegekraft gegeben, das je nach Station variiert. Die Zahlen basierten auf Forschungsergebnissen und Richtlinien von Organisationen wie der Vereinigung für Frauengesundheit, für Geburtshilfe und Frühgeborenenversorgung, sagt Susan Wright Thomas, Pflegeausbilderin im Cambridge Hospital. Zum Beispiel wären Pflegekräfte, die Frauen in den Wehen oder Mütter nach der Geburt betreuen, nur für eine Patientin zuständig gewesen. Auf den Stationen zur Nachversorgung von IntensivpatientInnen (hätte die Grenze bei drei PatientInnen pro Pflegekraft gelegen.

Die MNA vesucht seit Jahren, ein Gesetz durchzubringen, das Begrenzungen der Patientenzahl vorschreibt. Am nächsten kam sie diesem Ziel 2014, als eine ähnliche Abstimmungsinitiative im Austausch für einen gesetzgeberischen Kompromiss zurückgezogen wurde, der eine Grenze von einem Patient pro Pflegekraft auf Intensivstationen festschrieb.

Einige PflegerInnen verglichen ihre gescheiterte Kampagne mit der erfolgreichen Kampagne der LehrerInnen in Massachusetts gegen die kapitalgestützte »Question 2«, die die Obergrenze für Privatschulen in dem Bundesstaat angehoben hätte. Die Privatschulinitiative »hatte jede Menge Geld aus der Geschäftswelt hinter sich«, sagt Katie Murphy, die seit über 40 Jahren Krankenschwester ist. »Aber die Schulleitungen sind nicht so weit gegangen, LehrerInnen mit Schulschließungen und Entlassungen zu drohen.«

Übersetzung: Stefan Schoppengerd

Quelle: Labor Notes, November 2018

 

Streiks für Personalbemessung

Suzanne Love ist Pflegerin in der Notaufnahme des Baystate Franklin Medical Center in Greenfield. Sie und ihre KollegInnen setzten im Mai ihren ersten Tarifvertrag durch. Sie beschreibt den Kampf für eine sichere Personalbemessung:

»Ich arbeite für ein kleines kommunales Krankenhaus, das Baystate Health gehört, einem riesigen Konzern, der über 12.000 Leute in seinen sechs Krankenhäusern beschäftigt. Das ist der größte private Arbeitgeber in der Region. Im Franklin haben wir eine gute Personalquote, weil wir Formulierungen in unserem Abschluss durchsetzen konnten, die festlegen, dass das Krankenhaus genug Leute einstellen muss.

Vorher gab es Dienstpläne mit hunderten Lücken drin, weil sie nicht genug Beschäftigte hatten. Stattdessen haben sie Druck auf Pflegekräfte gemacht, dass sie zu weiteren Schichten kommen, Überstunden machen oder in Unterbesetzung arbeiten.

Zweimal mussten wir streiken, um sie dazu zu bringen, genug Personal einzustellen und den Betrieb ausreichend zu besetzen. Die Streiks waren im Juni 2017 und im April 2018. Kurz nach den Streiks hat die Klinik schließlich unseren Formulierungen zur Personalbemessung zugestimmt. In der Folge wurden 25 Vollzeitkräfte eingestellt. Wir waren nur 200 Pflegekräfte, das war also ein ziemlich beachtlicher Sprung.

Die Fähigkeit, mit der Geschäftsführung in Verhandlungen zu gehen, macht einen deutlichen Unterschied. Unorganisierte Krankenhäuser haben die schlechtesten Patienten-Personal-Quotienten.«

 

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