Unter dem Titel „Eine Islamisierung Deutschlands sehe ich nicht“ und dem ausgreifenden Untertitel „Ein Gespräch mit Bundeskanzlerin Merkel über die Konsequenzen aus dem Terroranschlag in Frankreich, die Trennlinie zwischen Islam und Islamismus, das Selbstbewusstsein der Christen, Pegida und AfD, den Konflikt mit Russland – und über die zunehmende Abwendung von Europa“ war in der FAZ am 16. Januar 2015 ein ausführliches Gespräch mit Angela Merkel zu lesen. Fragesteller: Berthold Kohler.
Vorausgeschickt sei, dass Angela Merkel weder Theologin noch Prophetin noch allwissend ist – und diesen Anspruch in dem Gespräch auch nicht stellt. Das ist ihr positiv anzurechnen. Dabei könnte man es eigentlich bewenden lassen. Aber wenn in dem Gespräch auch keine endgültigen Wahrheiten verbreitet werden, so tauchen darin doch unfreiwillige Offenbarungen auf, an denen der aufmerksame Zeitgenosse nicht vorbeigehen kann, zumal hier kein geglätteter Ghostwriter wiedergegeben wird, sondern O-Ton Angela Merkel, die sich hier als „Kanzlerin aller Deutschen“ vorstellt – eine Formulierung übrigens, die zuletzt Kaiser Wilhelm II. gebrauchte.
Beginnen wir brav mit dem Anfang und genießen wir die Choreografie des Gesprächs:
Ein „Signal der Solidarität und Entschlossenheit“ über „nationale, Partei- und Religionsgrenzen hinweg“, erklärt Angela Merkel eingangs, sei von dem Trauermarsch in Berlin und der Mahnwache vor dem Brandenburger Tor ausgegangen. In diesen Tagen spüre man: „Die Freiheit, das ist für die allermeisten Menschen ein Lebensbedürfnis. Wir sind uns bewusst, dass die von früheren Generationen erkämpfte Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit nicht für alle Zeiten garantiert ist, sondern dass jede Generation neu für diese Werte eintreten muss.“ – Laut gebrüllt, Löwin! möchte man sagen!
Aber dann antwortet Angela Merkel im hinteren Teil des Gesprächs auf die Frage des Interviewers, ob Russland an dem bevorstehenden G7-Gipfel in Elmau als achter Teilnehmer dabei sein werde: Nein, das sehe sie im Augenblick nicht. Und wörtlich: „G7 und früher G8 haben sich immer als Wertegemeinschaft gesehen. Die Annexion der Krim, die eine eklatante Verletzung des Völkerrechts darstellt, und das Geschehen in der Ostukraine sind schwerwiegende Verstöße gegen die gemeinsamen Werte.“
Ganz zu schweigen davon, dass in dem Gespräch wieder einmal „Islamismus“ und Russlands „Aggression“ in einer Choreographie miteinander verbunden werden, so dass nur noch Ebola als dritte in der von Obama gestifteten Troika der globalen Bedrohungen fehlt, stellt sich hier die doppelte Frage: Welche Werte der G7/G8 hat Frau Merkel im Sinn? Und warum gehört Russland nicht mehr dazu? Die „Annexion der Krim“ kann´s ja nicht sein, ebenso wenig „das Geschehen in der Ostukraine“, denn nach solchen Kriterien wäre die G7 mit dem NATO-Angriff auf Jugoslawien, nach Kosovo, nach dem Irak-Krieg, nach Libyen schon längst auf eine G-Null zusammengeschnurrt. Es erhebt sich also die Frage: Wovon soll Russland ausgegrenzt werden?
Lassen wir die Frage einmal so stehen. Schauen wir weiter, wie Angela Merkel „Solidarität und Entschlossenheit“ verteidigen will. „Wir tun alles“, erklärt sie, „was in unseren Möglichkeiten steht, damit so etwas in Deutschland nicht geschieht… Völlig ausschließen können wir einen solchen Anschlag aber auch in Deutschland nicht“, fährt sie auf die Frage fort, was „wir dagegen tun“ können, dass sich solche Anschläge wie in Paris nicht auch in Deutschland ereignen. Und dann zählt sie auf, was „wir brauchen“: Ersatz-Personalausweise, besseren Grenzschutz, intensivere Kooperation der Nachrichtendienste und anderes mehr.
Und nicht zuletzt, weil es ja „noch eine andere Ebene als die Sicherheitsdienste“ gebe: „die aufmerksame Zivilgesellschaft, die genau hinschaut, zum Beispiel, wenn es Auffälligkeiten in Moscheen gibt. Eltern und Freunde, die bemerken, dass ein junger Mensch unter schädlichen Einfluss gerät, sollten sich nicht scheuen, sich gegenüber staatlichen Stellen zu äußern, dass hier etwas schiefläuft. Ich verstehe, wie schwierig das für Eltern und Geschwister ist, aber sie sollten es tun. Je früher man eine solche Veränderung entdeckt, desto besser kann darauf reagiert werden.“
Recht hat sie wieder, die Kanzlerin, völlig auszuschließen sind solche Anschläge auch für Deutschland nicht. Recht hat sie auch, wenn sie die islamische Geistlichkeit auffordert, zur „Klärung der berechtigten Frage“ beizutragen, wie es möglich sei, dass Menschen sich für Morde auf den Islam berufen können. Es müsse klar unterschieden werden zwischen islamistischen Gewalttätern und Muslimen. Recht hat sie, wenn sie eine intensivere Integrationspolitik fordert. Und Recht hat sie, wenn sie gegen islamophobe Demagogie wie die der „Patrioten Europas gegen eine Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) erklärt, der Islam sei „ein Teil unseres Landes“.
Aber ist es so, dass „wir alles tun, was in unseren Möglichkeiten steht“, wie Angela Merkel uns weismachen will, selbst wenn die Bemühungen in den genannten Problembereichen noch verstärkt würden? Nein, tun wir natürlich nicht. Und Angela Merkel weiß es. Auf die Frage des Interviewers, woher dieser Hass heute komme, antwortet sie: „Die Welt ist voller Konflikte, und wir erleben in den letzten Jahren, dass die Globalisierung, von der wir in so vieler Hinsicht profitieren, diese Konflikte näher an uns heranrückt. Es ist wichtiger denn je, Entwicklungshilfe zu betreiben und zum Beispiel gerade auch in Afrika die Fluchtursachen zu bekämpfen.“
Ja, in der Tat – wir profitieren! Wenn auch das Wir dabei zu differenzieren ist. Und in der Tat, die Konflikte rücken näher an uns heran. Aber dies geschieht, je mehr auch Deutschland wieder dazu übergeht, seine Profitinteressen weltweit durch Militäreinsätze zu sichern. In dem Maße werden sich die Kritik, die Verzweiflung und schließlich der Hass derer, die sich ausgebeutet, ausgegrenzt und unterdrückt sehen, als Terror auch gegen Deutschland wenden.
Hier wäre anzusetzen – eine Art Generalprävention gegen imperiale Expansion Deutschlands, der EU und letztlich weltweit in der Form einer gerechteren Weltwirtschaft. Etwas theoretischer gesprochen hieße das, die Privatisierung der globalen Reichtümer durch eine Minderheit entwickelter Staaten und in ihnen eine Minderheit besitzender Schichten in eine bedarfsorientierte Wirtschaft zu überführen. Das müsste in Deutschland geschehen, wie es auch deutsches Exportmodell – anstelle des Exports von „freier Marktwirtschaft“ – werden müsste. Aber von einer solchen Perspektive hört man bei Angela Merkel selbstverständlich nichts. Die Schlagworte „Entwicklungshilfe“ und „Fluchtursachen bekämpfen“ bleiben so lange hohl, wie die örtlichen und regionalen Wirtschaften nur als Absatzmarkt und Arbeitskräftereservoir der „entwickelten Industriestaaten“ verstanden werden.
Und was soll man sich darunter vorstellen, dass „Auffälligkeiten“ gegenüber „staatlichen Stellen“ geäußert werden? Wo liegt der Übergang von berechtigter Auflehnung gegen täglich erfahrene Ausgrenzung, Benachteiligung und Unterdrückung auch hierzulande zu sozialem Aufruhr, zu Gewaltbereitschaft und von dort zu terroristischen Aktivitäten? Und wieso betrifft diese Frage bei Angela Merkel nur „Auffälligkeiten in Moscheen“? Da hat sich die Diskreditierung muslimischer Kreise trotz aller toleranter Gesten doch wieder eingeschlichen, und nicht nur das, sondern – sagen wir es deutlich – sie verdichtet sich zu einem Aufruf zur Denunziation. Und das von höchster Stelle. Das kann das Problem der Jugendlichen, die einen Ort für sich suchen, an dem sie nicht überflüssig sind, nun wirklich nicht lösen. Ein solcher Aufruf zur Denunziation kann Misstrauen, Aggression und Hass in der Gesellschaft nur stärker anwachsen lassen. Umgekehrt wäre es wichtig, dafür zu sorgen, dass es Menschen gibt, an die Jugendliche sich von sich aus wenden können im Vertrauen, dass sie sich auf deren Verschwiegenheit zu 100 Prozent verlassen können.
Schließlich ist noch einmal auf die bemerkenswerte Choreographie des Gesprächs zurückzukommen, die schon angesprochen wurde: Statt in dem Moment, an dem das Gespräch auf die Probleme der Globalisierung kommt, zur Entwicklung von Alternativen aufzurufen und zu ermuntern, erfolgt hier der Szenenwechsel: Ab sofort ist nicht mehr von den Ursachen der globalen Konflikte, sondern nur noch von Russlands „Aggression“ die Rede , wird die Liste der bekannten Dauerbrenner abgearbeitet, die Russlands „Aggression“ und die Notwendigkeit weiterer Sanktionen gegen Russland belegen sollen. Die Liste beginnt bei der Krim und geht bis zu dem bekannten Vorwurf, Russland habe auch Südossetien, Abchasien und Moldau im Blick, Moskaus Politik sei vom Denken in Einflusssphären bestimmt und Russland habe es selbst „in der Hand, die Sanktionen überflüssig zu machen“.
Diese Liste soll hier nicht weiter abgearbeitet werden. Festzuhalten ist aber: Der am Anfang des Gesprächs erhobene Anspruch Angela Merkels auf „ein starkes Signal der Solidarität und Entschlossenheit“ hat nicht einmal die Hälfte dieses Interviews überdauert.
Zu diesen Fragen auch – Kai Ehlers: Die Kraft der „Überflüssigen“, Pahl-Rugenstein, 2013.
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