Ein Gespräch mit Jeffrey Raffo über Organizing in Deutschland
Organizing, was ist aus Dir geworden? Im letzten express (12/2013) hat Jonas Berhe von der IG Metall unsere Fragen zu Erfahrungen mit dem Organisierungs- und Aktivierungskonzept in Deutschland beantwortet. Unser zweiter Gesprächspartner ist Jeffrey Raffo, der einige Vergleiche zwischen der Organizing-Heimat USA und dem Nachahmerland Deutschland anstellt und dabei über »Mobile Einsatzkommandos« in »Oasen der Bescheidenheit« ebenso aufklärt wie über die Gemeinsamkeiten von Organizing und Feminismus.
express: Als Du als erfahrener US-Organizer nach Deutschland gekommen bist, welches Bild hattest Du von den deutschen Gewerkschaften?
Jeffrey Raffo: Ich kam vor allem aus persönlichen Gründen nach Deutschland, nicht primär wegen der Gewerkschaftsbewegung, ich sprach weder Deutsch, noch hatte ich ein besonders festes Bild der Gewerkschaften hierzulande. International habe ich mich damals eher mit anderen Gewerkschaften auseinandergesetzt, wie z.B. mit COSATU aus Südafrika oder mit der CUT aus Brasilien. Klar, dennoch sind manche Ereignisse aus der gewerkschaftlichen und politischen Landschaft Deutschlands in den 80er und in den 90er Jahren sowohl in den USA als auch bei mir angekommen – der Kampf etwa für die 35-Stunden-Woche oder der große ÖTV-Streik 1992 mit seinen Müllbergen haben in den Staaten schon bei einigen GewerkschafterInnen Eindruck hinterlassen.
Insgesamt kann man sagen, dass die 80er Jahre – also das Jahrzehnt, in dem die US-Gewerkschaften tief in die Krise rutschten – in Deutschland und in weiten Teilen Westeuropas politisch ganz anders abliefen. Das verstärkte das in den USA traditionell positiv verzerrte Bild von den europäischen Gewerkschaften nach dem Motto: ›Im Gegensatz zu hier läuft dort alles richtig‹. Das Bild der europäischen Gewerkschaften hat sich meiner Wahrnehmung nach in den USA erst angefangen zu verändern und ein Stück weit realistischer zu werden, nachdem die Zusammenarbeit im Rahmen transnationaler Kampagnen begonnen wurde und die Gewerkschaften in den USA und in Deutschland bzw. in Europa praktische Erfahrungen miteinander sammeln konnten.
Du bist jetzt seit geraumer Zeit beratend und operativ als Organizer für verschiedene Gewerkschaften in der BRD tätig – hat sich Dein Bild der deutschen Gewerkschaften verändert, und wenn ja: wie?
Zu Beginn meiner Zeit in Deutschland fiel es mir schwer, damit umzugehen, dass die Gewerkschaften hier signifikant mehr institutionelle Macht ausüben als ihre Schwesterorganisation in den Staaten, die seit Jahrzehnten in der Gesellschaft fast gar keine Rolle mehr spielen. Mittlerweile denke ich, dass ich durch diese Landschaft besser navigieren kann, dass also z.B. die Bereitschaft der Organisationen zu tiefgreifenden Veränderungen oft ihre Grenzen hat, da man fürchtet, diesen Einfluss zu verlieren, oder dass man wegen dieser institutionellen Macht zögert, das Ziel einer erneuerten Konfliktfähigkeit in Betrieben und Branchen konsequent anzugehen – oder wenn es sich schließlich um die strategische grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit anderen Gewerkschaften handelt, die wegen der Institutionsmacht nicht immer einfach ist.
Dennoch: Mein Bild von der Veränderungsbereitschaft der Gewerkschaften in Deutschland hat sich letztlich zum Positiven gewandelt; ich nehme heute deutlich mehr GewerkschafterInnen wahr, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, dass tiefgreifende Veränderungen in den Gewerkschaften nötig sind, um weiterhin eine gesellschaftliche Macht zu bleiben – oder überhaupt erst zu werden, je nach Standpunkt. Das ist wichtig – auch deshalb, weil manche Gewerkschafter in Deutschland davon ausgehen, dass die Trendwende bereits geschafft wäre. Der Großteil der Haupt- und Ehrenamtlichen weiß aber, dass die schwierigste Arbeit noch vor uns liegt!
Du hast nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA die Anfänge des Organizing mitbekommen. Gibt es typische Anfangsprobleme, die sich auch in den deutschen Gewerkschaften wiederholen?
Oh ja, typische Anfangsprobleme werden sehr wohl wiederholt, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern, z.B. in den Niederlanden, Polen und Norwegen, wo Organizing auch Thema ist. Organizing in den USA war zu Beginn eher Randgeschäft, ohne die Erwartung, dass die Organisation sich wirklich dafür ändern müsste. OrganizerInnen wurden in dieser Phase oft als eine Art ›Mobiles Einsatzkommando‹ für Mitgliederwerbung in »kalten« oder besonders schwierigen Betrieben oder Branchen instrumentalisiert, statt als VertreterInnen einer anderen Gewerkschaftsarbeit wahrgenommen zu werden, die auch für die entsprechende Organisation Veränderungen nach sich ziehen würde. Diese Instrumentalisierung ist gegenwärtig in Europa oft zu beobachten. Bei ver.di in NRW ist dies momentan erfrischend anders; das Organizing dort hat den Auftrag, sowohl im Feld also auch in der Organisation etwas zu bewirken, aber das ist eher die Ausnahme.
In dieser Anfangsphase in den Staaten kam es zu einer Art Teufelskreis: Weil das Organizing anfangs meistens nicht gut in die gesamte Gewerkschaftsarbeit integriert werden konnte, war es weniger effektiv und verursachte mehr Reibung innerhalb der Organisation, als das sonst vielleicht der Fall vielleicht gewesen wäre. Das führte wiederum zu noch mehr Widerstand gegen Organizing usw. Es dauerte eine ganze Weile, bis dieser zähe Kreislauf unterbrochen wurde und es in den USA genügend KollegInnen gab, die das Potenzial von Organizing erkannten und sich dafür einsetzten, dass der Ansatz in ihrer Organisationen verfeinert, verankert und erweitert wurde. Auch diesen Kreislauf beobachte ich zurzeit in Deutschland.
Entscheidend war damals in den USA, dass sich wichtige Organizing-Leuchttürme bildeten, meistens auf regionaler oder auf Landesebene, die nach einigen Jahren einen positiven Mitgliederzuwachs, bessere Verhandlungsergebnisse und eine stärkere Präsenz insgesamt in der gesellschaftspolitischen Landschaft verzeichnen konnten. Hier spielten gewerkschaftliche Führungskräfte eine besondere Rolle. Da diese schwierige Anfangsphase von vielen Krisen geprägt war, mussten diese Führungskräfte risikobereit sein, um überhaupt die Tür für neue Ansätze öffnen zu können und Ressourcen für Organizing bereit zu stellen. Im Gegensatz dazu hatte diejenigen ein relativ leichtes Spiel, die für den Status Quo argumentierten bzw. zwischen Status Quo und Veränderung je nach Eigennutz hin und her sprangen. Und ja, »überraschenderweise« finde ich heute beide Typen gewerkschaftlicher Führungskräfte auch in den deutschen Gewerkschaften wieder.
Interessant ist ja nicht nur in Deutschland, dass Organizing innerhalb der Gewerkschaften sowohl von rechts wie von links kritisiert wird: Den einen ist das Ganze zu viel Demokratie von unten, den anderen zu wenig. Wie siehst Du das Verhältnis von Organizing und gewerkschaftlicher Demokratisierung?
Ich bin mir nicht sicher, ob Organizing von seinen Kritikern so umzingelt wird. Die UnterstützerInnen von Organizing mindestens bei ver.di und bei der IG Metall stellen mittlerweile eine bunt gemischte Gruppe von GewerkschafterInnen dar. Darüber hinaus merke ich, wie die Grundideen von Organizing – unabhängig davon, wie die Haltung diesem Begriff und Konzept gegenüber ist – in Deutschland mittlerweile fast überall angekommen sind. Da geht es z.B. darum, dass wir »die Themen der Beschäftigten und nicht der Gewerkschaft« anpacken sollen oder dass wir »nichts für die Mitglieder tun sollen, was sie für sich selbst tun können«. Die Kritik an der Stellvertreterpolitik der Gewerkschaften ist ja keineswegs neu – im Organizing wird diese Kritik aber aufgenommen, reflektiert, und es werden Handlungsalternativen entwickelt.
Aber direkt zu Deinem Punkt: Organizing ist meiner Meinung nach etwas Demokratisches, insofern eine authentische und am besten mehrheitliche Basis im Betrieb aufgebaut wird, die ab dem Zeitpunkt dann der Drehpunkt für die weitere gewerkschaftliche Politik und Aktivitäten im Betrieb ist. Beschäftigte entscheiden bei Organizing selbst, ob sie aktiv werden, zu welchen Themen und unter welchen Bedingungen. Neue Aktive werden beim Organizing entwickelt, so dass sie ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen können. Dieses Selbstbestimmungsmoment im Organizing ist deutlich demokratischer als das, was abhängig Beschäftigte sonst irgendwo in ihrem Alltag erleben.
Doch auch wenn Organizing am besten demokratisch abläuft, muss es jedoch nicht so laufen, vor allem dann nicht, wenn in der Anfangsphase der Implementierung von Organizing, wie bereits gesagt, die Organizer als
mobiles Einsatzkommando daherkommen (›Mobiles Einsatzkommando‹ ist bewusst kein demokratisch geprägter Begriff!). Organizing findet eben im gewerkschaftlichen Kontext statt, und Gewerkschaften haben in der Tat eine zwiespältige Beziehung zur Demokratie. Ich rede dabei nicht nur vom rechtskonservativen Flügel in den Gewerkschaften, sondern auch von vielen linken GewerkschafterInnen, für die linke Stellvertreterpolitik absolut in Ordnung ist. Viele linke Bewegungen und GewerkschafterInnen sind immer noch von einem sehr starken Avantgardismus geprägt, und das ist meistens etwas anderes als Basisdemokratie. Ich habe es bereits vergessen: Reden wir über Organizing und Gewerkschaften oder über die üblichen Probleme von Großorganisationen und politischer Bewegungen im Allgemeinen…?
Ein weiterer Punkt, an dem rechte und linke Kritiker des Organizing ansetzen, ist die Frage der Mitgliedergewinnung. Für die einen stehen die Mitgliedererfolge des Organizing in keinem Verhältnis zum Aufwand, für die anderen wiederum ist Organizing zu sehr auf Mitgliedergewinnung fokussiert. Auch hier würde uns Deine Einschätzung interessieren.
Bei der Mitgliederfrage legt Organizing seine Finger scheinbar in recht viele Wunden.
Auf der einen Seite empfinde ich wenig Toleranz gegenüber linken KritikerInnen, die meinen, Mitgliedergewinnung sei unbedeutend. Für mich sollte Organizing als der Einstieg in einen Politisierungsprozess verstanden werden, wo Grundfragen der Emanzipation, Solidarität und politischer Macht im Betrieb aufgearbeitet und aufgeklärt werden. Die Mitgliederfrage ist kein zentraler, aber auch kein unwichtiger Aspekt in dem ganzen Prozess. Wie soll man im Betrieb überhaupt weiterkommen, wenn man nicht dazu bereit ist, sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen zusammenzuschließen und Geld dafür auszugeben, damit diese Kollektivität mit Ressourcen nachhaltig verankert werden kann? Lasst uns lieber darüber streiten, wie Mitgliedsbeiträge benutzt werden sollen, statt über die Frage, ob sie überhaupt nötig sind! Gegen Ressourcen zu argumentieren ist meines Erachtens eine Schwäche vieler kluger Köpfe in der politischen Linken, ja und manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Leute aus ihrer Gewohnheit, mit wenig Ressourcen zu arbeiten, eine Art Fetisch machen, an dem sie dann abstrakt festhalten.
Besonders bei Linken, die ›eine andere‹ Gewerkschaft anstreben, steckt in ihrer Ablehnung der Mitgliederfrage auch etwas Naives. Denn wenn es nicht die Sehnsucht nach einer größeren Mitgliederbasis gäbe, wäre der Veränderungswille in den Gewerkschaften deutlich zurückhaltender, als er jetzt ist. Die Krise der Gewerkschaften birgt die Chance, »Gewerkschaft« überhaupt neu zu definieren. Das allein macht die Mitgliederfrage wichtig. Warum sollen wir – linke Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter – überhaupt negativ darauf reagieren? Wenn wir nicht »stellvertreterisch« agieren und wenn wir Beschäftigte bei ihren Konflikten im Betrieb erfolgreich begleiten, dann ist die Mitgliederfrage die leichteste Frage überhaupt.
Wenig tolerant bin ich aber gegenüber einer kurzsichtigen Kosten-Nutzen-Rechnung, die manche selbst erklärte ›Realos‹ gerne machen. Ich frage mich wirklich, was die sich vorstellen und welchen Nutzen andere Formen der Gewerkschaftsarbeit wirklich haben. Damit will ich andere Formen der Gewerkschaftsarbeit nicht abwerten, ich frage damit eher: Nach welchem Standard wird der Wert der verschiedenen Arbeitsformen überhaupt berechnet? Wird andere Gewerkschaftsarbeit überhaupt so sorgfältig und transparent ausgewertet, wie dies üblicherweise beim Organizing der Fall ist, so dass dann ein Vergleich überhaupt möglich wäre? Ich möchte nicht den Eindruck hinterlassen, dass alle OrganizerInnen bisher nur erfolgreich gearbeitet haben und dass deshalb die Frage des Nutzens von Organizing uninteressant ist. Es ist eher so, dass ich mich über eine authentische, politische Debatte über den Nutzen aller Formen von Gewerkschaftsarbeit freuen würde. In so einer Debatte wurde Organizing sehr gut abschneiden, wette ich.
Die zwei Pole in der Debatte kommen mir aber noch absurder vor, wenn man weiß, wie sehr die Arbeitgeber die Bedeutung der Mitgliederfrage bzw. des über die Mitgliederfrage hinaus gehenden, breiter angelegten Organizing-Ansatzes einschätzen. Am Verhandlungstisch fragen sie direkt nach, wie viele im Betrieb organisiert sind, und verhandeln dementsprechend. Und in jedem Organizing-Projekt, das ich selbst kenne, wehrten sich die Arbeitgeber irgendwann gegen die zunehmende Handlungsfähigkeit und Macht der Beschäftigten. Die wissen auf jeden Fall Bescheid über die Bedeutung der Mitgliederfrage und des Organizing!
Gut, aber selbst da, wo Organizing-Kampagnen in Deutschland erfolgreich waren, scheint es leider immer wieder Probleme mit der Nachhaltigkeit dieser Erfolge zu geben, d.h. die entstandenen Strukturen schlafen ein, gewonnene Mitglieder treten wieder aus usw. Woran liegt das Deiner Ansicht nach?
Jetzt provoziere ich ein bisschen: Begründe bitte die Behauptung, dass Nachhaltigkeit ein Problem des Organizing ist. Ich kenne selber keine Untersuchung, in der die Nachhaltigkeit irgendwelcher Gewerkschaftsarbeit – ganz zu Schweigen von Organizing – über Jahre hinweg sachlich gemessen und analysiert wurde. Her damit! Meine Vermutung, die auf meinen eigenen Erfahrungen basiert, ist: Nachhaltigkeit ist für alle Formen von Gewerkschaftsarbeit schwierig, aber dadurch, dass Organizing sich sehr auf die Entwicklung einer eigenständigen Basis von Aktiven konzentriert, gelingt es uns im Durchschnitt öfter, etwas zu entwickeln, was bleibt bzw. was sich weiter ausbaut. Das »Problem mit der Nachhaltigkeit« ist ein Thema insgesamt für Gewerkschaften, und im Organizing finden sich hierfür eher positive Hinweise und Lösungsansätze.
Die Nachhaltigkeit ist vor allem von den Aktiven abhängig: von ihrer eigenen Qualität, von ihrer Struktur im Betrieb und von der Art ihrer Betreuung durch die Gewerkschaft. Qualitativ ist es zuerst wichtig, dass Aktive ihre Haltung zur Gewerkschaft ganz praktisch im Rahmen eines Konflikts mit ihrem Arbeitgeber finden und dass dies dann theoretisch durch politische Bildungsarbeit weiter fundiert wird. Im Vergleich zu den Staaten und ohne komplett unkritisch werden zu wollen, finde ich, dass die Gewerkschaften in Deutschland sich auf eine grundsätzlich gute Tradition der Bildungsarbeit beziehen können.
Schwieriger ist es aber mit den entstandenen betrieblichen Strukturen und ihrer Betreuung. Ein Vertrauenskörper oder andere Gewerkschaftsstrukturen müssen genau wegen der Nachhaltigkeit wirklich Bestandteil jeder betrieblichen Gewerkschaftsarbeit sein – wobei der Trend zurzeit leider in die andere Richtung geht. Wie soll aber eine breite Gewerkschaftsbasis in irgendeinem Betrieb nachhaltig bleiben, wenn die ganze, dafür notwendige Kommunikations- und Aktivierungsarbeit nur auf die Schulter einer Handvoll Betriebsräte gelegt wird, die rechtlich gesehen andere Verantwortlichkeiten an erster Stelle haben? Das kann nicht funktionieren!
Meines Erachtens liegt ein zentrales Problem darin, dass die Betreuungsarbeit der Gewerkschaften nicht mehr auf die Begleitung von Gewerkschaftsstrukturen ausgerichtet ist. Es gab eine Zeit in jeder Gewerkschaftsbewegung, wo die Betreuung eines Betriebes selbstverständlich mit dem Aufbau und der Begleitung von Vertrauenskörpern begonnen hat. Heutzutage wird diese Arbeit von SekretärInnen eher als »on top« wahrgenommen, also zusätzlich zur individuellen Mitgliederberatung und zur Begleitung der Betriebsräte. Sie sind aber nicht selbst daran schuld, denn darauf ist die gesamte Organisation ausgerichtet. Und darin steckt auch ein Teufelskreis, denn je mehr Arbeit von Hauptamtlichen und von Betriebsräten übernommen wird, desto weniger aktiv sind bzw. werden die anderen im Betrieb. Ich glaube, die Betreuung von Vertrauensleuten und anderen Aktiven muss wiederbelebt bzw. neu gelernt werden, und die Organisationen müssen sich darauf neu einrichten, SekretärInnen bei dieser Arbeit zu unterstützen. ver.di setzt sich u.a. momentan mit diesem Thema im Veränderungsprozess »Perspektive 2015« intensiv auseinander, und es besteht die Chance, zumindest ein paar kleine Schritte in diese Richtung voranzukommen.
Nimmst Du Unterschiede zwischen deutschen und US-ArbeitnehmerInnen wahr? Und spielen die eine Rolle bei Deinen Organizing-Aktivitäten?
Es gibt sehr wohl Unterschiede zwischen Beschäftigten in den beiden Ländern. Es gibt in Deutschland z.B. mehr Betriebe und Branchen, in denen eine gewerkschaftliche Tradition noch irgendwie zu spüren ist, als dies in den USA der Fall ist. Beschäftigte in Deutschland sind deswegen in der Regel selbstbewusster als in den USA, zumindest in dem Sinne, was ihnen am Arbeitsplatz zustehen soll. Und weil sie dann noch mehr Errungenschaften genießen können als ihre US-amerikanischen KollegInnen, sind sie eben manchmal auch konservativ und risikoscheu, was die Eskalation betrieblicher Konflikte angeht. In den USA, wo Beschäftigte fast gar keine Arbeitsrechte haben und selten in den Genuss von Tariflöhnen kommen, sind Beschäftigte umgekehrt eher bereit, den Konflikt mit dem Arbeitgeber auch öffentlich zu eskalieren, sollten sie überhaupt konfliktbereit sein.
Aber obwohl es am Anfang in Deutschland für mich schon manchmal schwierig war, viel Empathie für die Situation deutscher Beschäftigter aufzubringen, da sie mir im Vergleich mit ihren US-amerikanischen KollegInnen so viel ›privilegierter‹ erschienen, ist das Empfinden eigener Vorteile ziemlich relativ, und es ist für mich eine Tatsache, dass trotz aller Unterschiede die Dynamiken in den Betrieben zwischen den beiden Ländern mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. Wir reden eben in beiden Fällen von Kapitalismus. Die Konsequenzen aus den bestehenden Unterschieden für Organizing sind deswegen eher taktisch als strategisch. Die Betonung der Unterschiede zwischen den beiden oder anderen Ländern – der ich leider oft begegne – kommt mir meistens opportunistisch und immer suspekt vor.
Einen bemerkenswerten Unterschied zwischen Deutschland und den USA gibt es schon noch, und zwar bei der demografischen Struktur der Beschäftigten: In den USA ist es nicht ungewöhnlich, Betriebe mit einem 80- bis 90-prozentigen Anteil von MigrantInnen bzw. von Afro-AmerikanerInnen zu finden. Das hat Folgen: In einem Betrieb mit einem Großteil afro-amerikanischer Beschäftigter, wo die Vorgesetzten wiederum oft Weiße sind, identifizieren sich die Beschäftigten beispielsweise deutlich weniger mit ihrem Arbeitgeber als sonst, was positive Konsequenzen für die Solidarität untereinander haben kann. Darüber hinaus kommen andere Widerstandskulturen und andere Akteure ins Spiel, in ländlichen Gebieten z.B. die Kirchen. Anders wiederum in Betrieben mit einer Mehrheit lateinamerikanischer MigrantInnen: Beschäftigte aus Mittelamerika haben durch ihre politische Geschichte eine deutlich positivere Einstellung zu Gewerkschaften als Beschäftigte aus Mexiko. Politisch ist der Kampf in solchen Betrieben in den USA also mit zusätzlichen Themen verbunden – wie mit Rassismus oder auch mit der steten Bedrohung eines Eingreifens der Einwanderungsbehörde.
Ich schätze mal, dass Du Dich mit vielen US-Kollegen über Deine Arbeit hier austauschst. Wie nehmen die eigentlich die Organizing-Bemühungen der deutschen Gewerkschaften wahr? Wo gibt es Applaus und wo schütteln sie den Kopf, wenn Du darüber berichtest?
Die GewerkschafterInnen in den Staaten, die ich kenne und die sich mit Organizing auseinandersetzen, applaudieren grundsätzlich, wenn Gewerkschaften in anderen Ländern Organizing einführen bzw. sich verändern wollen. Außerdem gibt es immer noch Interesse, gegen Multis auch gemeinsam mit deutschen Gewerkschaften strategisch vorzugehen.
Da die Amis aber nie wirklich aus ihrer eigenen Krise gekommen sind, sind sie trotz bemerkenswerter Organizingerfolge nicht wirklich in der Lage, den Kopf über irgendjemanden zu schütteln. Natürlich werden sie ganz praktisch im Rahmen transnationaler Zusammenarbeit immer wieder überrascht, wenn eine Gewerkschaft hierzulande eher sozialpartnerschaftlich mit einem Arbeitgeber umgeht, wo es in den USA einen laufenden Konflikt gibt. Oder wenn Betriebsräte die Erklärung ihres eigenen Arbeitgebers über Union-Busting, also gewerkschaftsfeindliche Maßnahmen des Arbeitgebers, in US-amerikanischen Betrieben unkritisch hinnehmen, statt ihren KollegInnen und deren Gewerkschaften in den USA ihr Ohr zu leihen. Ich kann ihren Frust in diesen Momenten gut nachvollziehen, auch wenn ich nicht unbedingt glaube, dass sie sich anders verhalten würden, wenn die Situation umgekehrt wäre.
Wenn sie dann aber doch den Kopf schütteln, dann liegt das meistens daran, dass sie oft nicht wirklich verstehen können, warum die Gewerkschaften in Deutschland nicht ehrgeiziger sind mit ihren Bemühungen, an Macht und Mitgliederstärke zu gewinnen, als es oft scheint. Aus der Perspektive der US-AmerikanerInnen, die ihren eigenen Überlebenskampf zurzeit eher verlieren, erscheint Deutschland manchmal als eine unvorstellbare Oase der Bescheidenheit und Geduld, was Veränderung angeht.
Zum Schluss: Glaubst Du, dass Organizing in den bundesdeutschen Gewerkschaften auch in 30 Jahren noch eine Rolle spielen wird?
Das hängt wahrscheinlich von der Definition von Organizing ab. Wenn es darum geht, ob der Begriff in 30 Jahren noch gebraucht wird, kann ich dazu nichts sagen. Ich merke aus meiner persönlichen Erfahrung, dass der Umgang mit Begrifflichkeiten hier ein strengerer ist als in den Staaten. Da drüben ist Organizing seit fast einem Jahrhundert ein gängiger Begriff, dessen Bedeutung sich über die Jahre wohl geändert hat, ohne jedoch die Kernideen zu verlieren. In Deutschland gibt es oft bei ›neuen‹ Konzepten einen echten Definitionskampf, der dazu führen kann, dass Konzepte immer enger und enger definiert werden, bis sie mit neuen Begriffen ersetzt werden, die die Kernideen dann weitertragen. Es ist sicherlich kulturell bedingt, wie Informationen genau behandelt werden, und von daher ist es für mich unmöglich vorherzusagen, wie mit dem Begriff Organizing künftig umgegangen wird.
Gleichzeitig ist Organizing mittlerweile aber seit fast 15 Jahren Thema in Deutschland. Zu Beginn und bei jedem Rückschritt – genau wie es bei der Wiederbelebung von Organizing in den Staaten war – wird die Niederlage des Organizing von manchen für endgültig geklärt. Das erinnert mich in dem Sinne immer an den Feminismus, wo man stets damit rechnen kann, dass alle paar Jahre in den Medien laut triumphierend dessen endgültiges Ende verkündet wird, obwohl die zähen Gleichstellungsfortschritte die Aktualität und Notwendigkeit des Feminismus doch nur unterstreichen. Deshalb redet man vielleicht doch in 30 Jahren noch davon. Außerdem: Wenn man auf die Jugend in den Gewerkschaften in Deutschland schaut, so ist Organizing für sie inzwischen häufig eine Selbstverständlichkeit.
Unabhängig aber von dem Begriff und unabhängig davon, wie die Geschichtsbücher in 30 Jahren geschrieben werden: Wir dürfen nicht vergessen, wie viel Boden ArbeiterInnen und Gewerkschaften in den letzten Jahren verloren haben und wo wir eigentlich jetzt stehen. Wir haben die gesellschaftliche Deutungshoheit fast vollständig abgegeben, die notwendig wäre, damit wir uns mit den neuen Herausforderungen wirklich erfolgreich auseinandersetzen können. Wenn die Gewerkschaften in Deutschland wie in den Staaten wieder eine Bewegung werden wollen, die lebt und die etwas verändert, statt dass Gewerkschaften immer kleiner werdende Vereine für bestimmte Beschäftigtengruppen sind, dann muss es eine neue, breit angelegte und selbsttragende Gewerkschaftsbasis geben, die in der Lage ist, betriebliche sowie gesellschaftliche Kämpfe zu führen. Das wird nicht allein durch eine Professionalisierung der Gewerkschaftsarbeit, nicht allein durch ein verbessertes Image oder allein durch ein knappes Mitgliederplus erreicht werden. Das muss schlicht und ergreifend über längere Zeit aufgebaut werden. Da muss eine Re-Politisierung in den Betrieben und in der Gesellschaft stattfinden. Darauf setzt Organizing und von daher kann ich nicht wirklich glauben, dass die Ideen des Organizing in den nächsten Jahren an Relevanz verlieren.
* Jeffrey Raffo ist seit über 20 Jahren Organizer, seit 14 Jahren in Deutschland, lebt in Dortmund und arbeitet für den ver.di-Landesbezirk in NRW.