Über den IGM-Gewerkschaftstag
Mit Duldung und teilweise mit Unterstützung der Gewerkschaften lebt die auf Lohnarbeit angewiesene Bevölkerungsmehrheit in Deutschland seit fast zwei Jahrzehnten durch eine gigantische Umverteilung nicht über ihren Verhältnissen, sondern weit unter dem, was ökonomisch geboten und sozial erforderlich wäre. Fast 20 Prozent der Menschen sind laut jüngstem Sozialbericht mit einem Einkommen unterhalb der Pfändungsgrenze armutsgefährdet. Prekäre Jobs nehmen zu, Arbeitseinkommen und Sozialleistungen sinken. Auf der anderen Seite hat sich ein unermesslicher Reichtum angehäuft: Fünf Billionen Euro (5 000 Milliarden Euro) private Vermögen gegenüber 2 000 Milliarden Euro Staatsverschuldung (Bund, Länder und Kom-munen). Würden diese Vermögen durch entsprechende Besteuerung abgeschöpft, könnten nicht nur die Staatsschulden bezahlt werden, es wäre auch Schluss mit der Spekulation auf Geld, Währungen, Staatspleiten und Lebensmittel. Von allein ändert sich daran so wenig, wie von allein die Löhne steigen.
Umgarnt und mit viel Lob als giftigem Geschenk von Wulff und Merkel fand vom 9. – 14. Oktober der 22. Gewerkschaftstag der IG Metall in Karlsruhe statt. Beifall für Wulff, der den Anteil der Gewerkschaft an der guten Position Deutschlands nach der Krise hervorhebt und die Mitbestimmung als eine der großen Stärken der deutschen Wirtschaft benennt. Mehr Applaus als Pfiffe für Merkel, die sich bei Huber für die neokorporatistische Politik bedankt und die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre als Teil des »Guten Lebens« preist.
Für den Vorsitzenden Huber ist die IG Metall-Welt in Ordnung: »Heute können wir sagen: Die ganze Organisation hat einen guten Job gemacht. Wir sind richtig aufgestellt. Wir wachsen, die Organisationsstrukturen sind betriebsnäher und die Finanzen solide.« Im Zusammenhang mit dem von ihm so genannten »German Beschäftigungswunder« verlor er kein Wort über Exportüberschüsse, außenwirtschaftliche Ungleichgewichte, Arbeitszeitverlängerung und Lohndumping. Es ist also auch wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, worüber auf dem Kongress nicht gesprochen wurde:
- Arbeitslosigkeit und die Millionen Erwerbslosen wurden kaum erwähnt; kein erwerbsloser Mensch hatte Gelegenheit zu sprechen. Die massenhafte und über Jahrzehnte verfestigte Erwerbslosigkeit und Hartz IV wurden nicht als wesentlicher Druckpunkt auf die Arbeitsbedingungen und Sozialstandards kritisiert, nicht einmal der Zusammenhang wurde thematisiert.
- Gewerkschaftlicher Internationalismus und internationale Solidarität waren kein Thema – abgesehen von der »Solidarität« mit Europa und einer kurzen und nicht hinterfragten Information darüber, dass auf europäischer Ebene eine Fusion von Metall- und Chemiegewerkschaft zur größten »Europäischen Industriegewerkschaft« geschaffen wurde. (Siehe dazu den Beitrag von Friedrich Wöhler in diesem express; Anm. d. Red.) Es gab keinen Brückenschlag zu den kämpfenden GewerkschafterInnen in Griechenland, Spanien, Portugal und anderen europäischen Ländern, keine Perspektive für internationale Kooperationen und internationalistische Aktivitäten und keine Aufklärung darüber, dass es keine »nationalen« Lösungen der sozialen Frage geben wird.
- Die kapitalistische Produktionsweise wurde nicht als Ursache der Krisen und der gewerkschaftlichen Schwächung analysiert. Beschrieben wurde nur ein »gieriger Raubtierkapitalismus«, der zu zügeln und zu bändigen sei. Seinen neuen »linken Reformismus« bezeichnete Huber mit Blick auf die »historische Literatur« als die »fortschrittlichste Option«, er sprach sich ausdrücklich gegen eine Überwindung des kapitalistischen Systems aus und erklärte die Eigentumsfrage für obsolet.
Wann immer die Delegierten die vorgegebene Routine verließen und ihr Recht als Souverän des Kongresses wahrnahmen, kam die Vorstandsregie durcheinander. Dies geschah bei der Wahl der hauptamtlichen Vorstandsmitglieder, bei den Debatten über Arbeitszeit, Leiharbeit und wenigen anderen Punkten; überwiegend jedoch folgten die Delegierten den Vorstandsvorschlägen bzw. den Empfehlungen der hauptamtlich besetzten Antragsberatungskommission und nickten die Politik der Führung ab. So konnten Huber und Wetzel feststellen: »Wir machen weiter wie bisher.«
Delegierte
Zu den 481 stimmberechtigten Delegierten aus den etwa 160 Verwaltungsstellen kommen 127 Mitglieder des Vorstandes, des Kontrollausschusses, Bezirksleiter und die Beiratsmitglieder mit beratender Stimme. Von den insgesamt 608 Delegierten ist rund ein Drittel bei der Gewerkschaft beschäftigt; 270 Delegierte sind gewerblich Beschäftigte; der Frauenanteil liegt bei den Ehrenamtlichen höher als bei den Hauptamtlichen – insgesamt unter 30 Prozent; die Antragskommission ist vollständig mit Hauptamtlichen besetzt. Etwas weniger als 10 Prozent der Delegierten sind jünger als 35 Jahre; zwei Delegierte sind oder waren erwerbslos.
IG Metall und Rüstungsproduktion
Gleich zu Beginn der Debatte wurde von mehreren RednerInnen kritisiert, dass die IG Metall im »Branchenreport Wehrtechnik« sowie einer Broschüre zum militärischen Schiffbau (s. Dokumentation in dieser Ausgabe des express; Anm. d. Red.) Rüstungsproduktion nicht als Kriegsursache und die eigene Organisation nicht als Antikriegspartei benennt. In einer langatmigen Antwort lamentierte Huber: »Diese Analyse, die dort erwähnt wird und in der Broschüre auch enthalten ist, hat mit der Meinung der IG Metall gar nichts zu tun. Was die Studie betrifft, die da veröffentlicht worden ist: Vielleicht ist das unklug gewesen; ich weiß es nicht. Ich bin persönlich immer dorthin gegangen, wo es am schwierigsten war, wo andere anders denken. Die IG Metall wird nicht stärker, wenn sie sich von dieser Debatte abkoppelt. Ich meine gar nicht nur die Rüstungstechnik, sondern ich meine das sehr grundsätzlich. Wir müssen dorthin gehen, wo diejenigen sitzen, die an dieser Stelle eine aggressive Politik gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreiben.«
Tatsächlich sind im Vorwort der Broschüre »Perspektiven der deutschen militärischen Schiffbaukapazitäten im europäischen Kontext«, unterschrieben von einem Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes und einer ehemaligen Bezirksleiterin, u.a. folgende Passagen enthalten: »Alle Hoffnungen in der Branche zielen deshalb auf die Wachstumsmärkte außerhalb Europas. (...) Der Erhalt der wehrtechnischen Kernfähigkeit im Marineschiffbau ist für die IG Metall von nationaler Bedeutung.«
Auf diese eklatanten Widersprüche wurde Huber nicht mehr hingewiesen, wenngleich viele Delegierte mit der kaltschnäuzigen Antwort nicht einverstanden waren.
IG Metall und die Arbeitszeit
Im Verlauf der Antragsberatung entspann sich eine kurze Debatte über die Arbeitszeit. Von der Antragsberatungskommission wird das lyrisch umschrieben: »... sind in diesem Komplex Anträge, die Arbeitszeit in den Kontext der Vereinbarkeit von Familie und Leben stellen, wie auch Berthold es als einen Schwerpunkt in seinem Referat angesprochen hat. (...) Bei der Frage der Arbeitszeitverkürzung gibt es den Schwerpunkt Zeitsouveränität, also die Bestimmung über die Zeit, die man gearbeitet hat, sowie das Begehren, dass keine Arbeitszeit verfällt ...«
Delegierte dagegen formulierten so: »... Arbeitszeitdebatte wieder neu aufrollen. Wir wollen, dass das Thema 35-Stunden-Woche wieder Thema unserer Tarifpolitik im Osten wird, um am Ende in einer Forderung zu münden. In dieser Entschließung muss doch klar und deutlich sein, dass wir endlich wieder den Mut haben, die Arbeitszeitverkürzungsdebatte im Osten auf das Tablett zu heben, zu diskutieren und uns darauf vorzubereiten, um das tariflich durchzusetzen. (...) Es geht um Arbeitszeitmodelle, die unterhalb der 35-Stunden-Woche liegen«. Es wurde auf die arbeitsplatzsichernde und -schaffende Funktion von Arbeitszeitverkürzung verwiesen. Beschlossen wurde eine neue Arbeitszeitinitiative, die »nicht vor einer Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit halt macht«, bzw. die »Entwicklung eines Modells der kurzen Vollzeit«, auf jeden Fall die Rückführung von Arbeitszeiten auf die 35-Stunden-Woche als allgemeinem Bezugspunkt. Für die EU-Ar-beitszeitrichtlinie wurde gefordert, die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche zu begrenzen – was für das deutsche Arbeitszeitgesetz auch schon ein Fortschritt wäre.
IG Metall und Modernisierung
Das zentrale Anliegen der Gewerkschaftsspitze war die »Modernisierung«, das Projekt »IG Metall 2009«. Kritiker sprachen von einer Angleichung an Strukturen und Politik der IG BCE, von einer Chemisierung der IG Metall. Huber: »Die IG Metall ist die Innovationsgewerkschaft, die gesellschaftliche Projekte wie die Energiewende vorantreibt. Wir haben unsere Kräfte gebündelt, um unsere Organisation zu stärken. Schlank und effizient in der Spitze, breit und stark in der Fläche und nah am Betrieb, war und bleibt unser Leitmotiv.« Ein wesentlicher Schritt bei der populär daherkommenden »Verschlankung«, verbunden mit drastischem Personalabbau in der Gewerkschaftszentrale, war die vorgesehene Reduzierung des geschäftsführenden Vorstandes von sieben auf ursprünglich drei Mitglieder, im Vorfeld des Kongresses schon korrigiert auf fünf Mitglieder. Zur Erinnerung: Der Geschäftsführende Vorstand bestand Jahrzehnte aus elf Mitgliedern und wurde in den letzten Jahren in zwei Schritten auf sieben Mitglieder reduziert. In der Debatte zu diesem Punkt ging es um innergewerkschaftliche Demokratie und Vielfalt in der Führung, um die vielen zu bearbeitenden Themen und Aufgabenbereiche, um die Verjüngung des Vorstandes, um die Wahl auch der Bezirksleiter. Bei der Themenvielfalt zum Beispiel um die Frage, ob die Frauenpolitik der Gewerkschaft weiterhin durch einen Mann (Detlef Wetzel) und seine Kampagnenabteilung entwickelt und vertreten werden kann. Häufig kam von den Claqueuren des Vorstandes das populistische Argument, »den Kumpels im Betrieb« sei es egal, wie viele Mitglieder der Vorstand der IG Metall hätte, sie mäßen die Gewerkschaft an den für sie günstigen Ergebnissen. Was »Kumpels im Betrieb« sonst noch gleichgültig ist oder wovon sie auch mangels Aufklärung durch die Gewerkschaft keine Ahnung haben, kann selbstverständlich nicht Maßstab für Entscheidungen der Delegierten eines Gewerkschaftstages sein. Huber erklärte, nachdem das Vorhaben der weiteren Reduzierung keine 2/3-Mehrheit bekam, die ganze Angelegenheit für unwichtig: »[M]an soll bestimmte Dinge nicht überhöhen, diese Frage ist nicht existenziell für die IG Metall«. Dennoch nachtretend sagte er vor der Presse, er habe de facto bereits seit vielen Monaten »in der verkleinerten Konstellation« gearbeitet, auch wenn der Vorstand de jure aus sieben Personen bestanden habe. Der Troika Huber, Wetzel und Eichler sitzen wieder vier Vorstandsmitglieder gegenüber – und nicht nur zwei, wie sie es gerne gehabt hätten. Über diese Modernisierung, den personellen Kahlschlag und die »Strukturveränderungen«, die Ressort- und Abteilungsauflösungen »zur Verringerung von Schnittstellen und zur Erhöhung von Leistungsspannen« in der Frankfurter Zentrale können betroffene KollegInnen traurige Geschichten erzählen. So was kommt von so was – wenn nämlich eine Unternehmensberatung der Gewerkschaft erklärt, wie sie sich »richtig aufstellen« soll, in diesem Fall die Firma Nordlicht Management Consultants, in deren Selbstdarstellung es heißt: »Die Gewerkschaft ist aus dem politischen System nicht wegzudenken. Denkt man. Beteiligten sich vor einigen Jahrzehnten noch Zehntausende, so sinkt seit langem der Anteil der Aktiven. Und nicht nur das: Viele treten gleich ganz aus. Wie stärkt man eine passive, schrumpfende Mitgliederorganisation und gewinnt neue Mitglieder? Nordlicht Management Consultants helfen die Strukturen als Ganzes nachhaltig zu verändern, um für neue Gruppen interessant zu werden. Wir zeigen die Potenziale passiver Mitglieder auf und aktivieren sie ... wir (machen) die Gewerkschaft wieder zu einer echten Mitmach-Organi-sation. Mit dem Ziel, jährlich 15 Prozent neue aktive Mitglieder zu gewinnen.«
Wollen wir mal schauen, ob die IG Metall mit dieser Strategie und ohne Fusion mit der IG BCE in fünf Jahren an die doppelte Mitgliederzahl und Schlagkraft herankommt.
IG Metall und Opel
Eine Delegierte aus dem Opel-Werk in Eisenach berichtet: »Nach monatelangen Drohungen und in der Hoffnung, dass es für uns eine Zukunft gibt, haben sich die IG Metall-Mitglieder der Opel-Belegschaft mehrheitlich für Lohnverzicht entschieden. (...) Ich kenne heute keinen Kollegen mehr, der den Verzicht noch richtig findet. (...) Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir richtig gehandelt haben, als wir unter dem scheinbar übermächtigen Druck der Krise hinter diese Untergrenzen zurückgegangen sind.«
Huber dazu: »Ja, ich verstehe den Schmerz über die Opfer, die gebracht worden sind. Aber wir waren in einer Situation, wo es um die Frage ging: Hat Opel überhaupt eine Chance als Konzern und haben die 25000 Arbeitsplätze, die es in Deutschland gibt, überhaupt eine Chance? Ich bin für Kämpfen, und ich bin auch dagegen, Zugeständnisse zu machen, wenn es nicht erforderlich ist. Aber an der Stelle – sorry, wenn ich das so deutlich sage – waren wir in einer bescheidenen Situation, um nicht ein anderes Adjektiv zu benutzen. Es gab Szenarien, Opel Eisenach zu schließen und den Corsa nach Spanien zu verlagern. Diese Situation haben die Betriebsräte bestanden, in tiefen Auseinandersetzungen, teilweise auch mit sich selbst. Wie das weitergeht, weiß ich noch nicht. Ich würde mich nicht dazu versteigen zu sagen, das Ganze ist sicher auf immer und ewig.« Zu den Milliarden, die GM und Opel an staatlicher Unterstützung bekommen ha-ben, zu den Ansprüchen und Möglichkeiten auf Mitsprache und Mitentscheidung, die sich daraus ergeben könnten, zu den Überkapazitäten in der Branche und zu deren notwendigem Ab- und Umbau sagte Huber in diesem Zusammenhang nichts. Lediglich die »Nationale Plattform Elektromobilität«, in der er selbst und zwei weitere Gewerkschaftssekretäre hundert Managern und deren Wissenschaftlern gegenübersitzen und das Subventionsverlangen der Autoindustrie unterstützen, hob er als Beispiel für erfolgreiche Industriepolitik hervor.
IG Metall, Leiharbeit und Equal Pay
Zu großen Tönen gegen Leiharbeit und befristete Beschäftigung hätte, der Ehrlichkeit und der Überzeugungskraft halber, ein selbstkritischer Diskurs über die Unterstützung der IG Metall für die Agenda 2010 gehört. Davon wie von Hartz IV war jedoch keine Rede. Erst in der Antragsberatung wurden die Gegensätze deutlich. Während die Antragskommission sich, wie von Wulff und Sommer vorgegeben, relativierend »gegen den Missbrauch von Leiharbeit« aussprach, forderten die Delegierten vielfach ein Verbot von Leiharbeit und die Durchsetzung des Grundsatzes »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«. Die Antragskommission empfahl, zum Teil demagogisch begründet, einen Antrag zur Ablehnung, »da hier explizit das Verbot der Leiharbeit in ihrer jetzigen Form als Ziel gefordert ist. Das ist noch nicht abschließende Position in der IG Metall. Dazu noch hat uns diese Formulierung ›in ihrer jetzigen Form‹ nicht gefreut, da das auch heißen könnte, dass eine andere Form der Leiharbeit durchaus etwas Begrüßenswertes wäre«. Bei dieser Position blieb die Kommission auch nach der Debatte, in der klargestellt wurde, dass »in ihrer jetzigen Form« heißen soll und beinhaltet, dass Leiharbeit, wie in anderen Ländern, besser vergütete und besonders geschützte Tätigkeit sein kann, dass jedoch das, was Leiharbeit gegenwärtig in Deutschland ist und wie sie hier funktioniert, abgelehnt wird. Damit soll der Austausch von Stammbeschäftigten durch Leiharbeiter, verschiedene Entgelte im Betrieb und der prekäre Charakter, nämlich ungeschützte Arbeitsverhältnisse, zurückgedrängt bzw. verboten werden.
Dann kam die Katze aus dem Sack: »Die Antragskommission empfiehlt weiterhin Ablehnung des Antrags, weil zahlreiche weitere Anträge sehr umfangreiche Aussagen zur Leiharbeit machen (...) Wir wollten aber nicht dem entsprechen, dass das Verbot in der Entschließung aufgeführt ist.« Der Empfehlung der Antragsberatungskommission sind 186 Delegierte gefolgt. Abgelehnt haben sie 247 Delegierte. Drei Delegierte haben sich der Stimme enthalten. Der Gewerkschaftstag hat sich also für ein Verbot von Leiharbeit in ihrer erniedrigenden Form ausgesprochen. Aber was bewegt 186 Delegierte, gegen ein Verbot der Leiharbeit zu votieren – wenn nicht ihre Verbundenheit mit der Agenda 2010 in der SPD, ihre Funktion in Beiräten von Arbeitsagenturen oder Leiharbeitsfirmen? Ein Delegierter berichtete zum betrieblichen Kampf für gleichen Lohn: »Im Laufe der Auseinandersetzungen fielen uns immer wieder wie ein großer Stein die geltenden Tarifverträge zur Leiharbeit durch die DGB-Tarifgemeinschaft auf die Füße. Der Arbeitgeberverband wies uns darauf hin: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit werden sie mit uns auf keinen Fall verhandeln, weil die IG Metall niedrigere Löhne für Leiharbeiter tarifvertraglich im Rahmen der DGB-Tarifverträge vereinbart hat. Das geltende Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und auch die europäischen Richtlinien sehen vor, dass für Leiharbeitnehmer grundsätzlich das gleiche Arbeitsentgelt zu zahlen ist, es sei denn, es gibt einen Tarifvertrag, der eine geringere Vergütung vorsieht. Nachdem jetzt der Christlichen Gewerkschaft für die Leiharbeiter-Branche die Tariffähigkeit aberkannt wurde, verbleiben nur noch die Tarifverträge der DGB-Tarifge-meinschaft, die den Leiharbeitgebern ermöglichen, vom Equal-Pay-Prinzip nach unten abzuweichen.« Schließlich wurde beschlossen, dass »die IG Metall diskutiert und prüft, inwieweit die Leiharbeitstarifverträge der DGB-Tarifgemeinschaft der Durchsetzung des Prinzips Equal Pay im Wege stehen«. Ein Blick aus der Kongresshalle in das Land hätte zur Prüfung genügt – nur soviel zum ausgerufenen Kampf gegen »Missbrauch« von Leiharbeit und der oft gepriesenen Betriebsnähe. Eine Mindestlohnforderung von mehr als 8,50 Euro pro Stunde wurde ohne Debatte vom Kongress abgelehnt, dafür endete der Kongress jedoch einen halben Tag früher als geplant.
IG Metall und Europa
Nachdem Huber in einer vorherigen Debatte die »Gefahr« erläutert hatte, dass die Opel-Produktion von Eisenach nach Spanien verlagert werden könnte, führte er jetzt aus: »Der gemeinsame Währungsraum ist in Gefahr. Ich betone: Wir sind für den Euro, für das vereinte Europa; denn die deutsche Wirtschaft profitiert massiv vom Euroraum. Wir brauchen ein politisch starkes Europa auch, um auf die weltwirtschaftlichen Entwicklungen und Prozesse Einfluss zu nehmen. Wir brauchen eine einheitlich agierende und mit Weisungsrecht ausgestattete europäische Wirtschaftsregierung. Dazu gehört zuerst ein klares und eindeutiges Bekenntnis zum vereinten Europa. Auf die IG Metall – das will ich auch für die Öffentlichkeit sagen – kann man sich dabei verlassen! (...) Ich will eines unmissverständlich festhalten. Das sage ich ausdrücklich auch an Sie als Bundeskanzlerin der Republik: Die IG Metall steht uneingeschränkt zu Europa.«
Neben diesen »Solidaritätsbekundungen« wurde die »Karlsruher Erklärung« mit wichtigen und guten Positionen zu Europa verabschiedet: demokratisch legitimierte Wirtschafts- und Finanzregierung; Festigung eines sozialen Europas; Zukunftsperspektiven für die Jugend; Ausweitung von Mitbestimmung; einheitliche Besteuerung von Unternehmen und Einkommen; Solidarpakt in Bildung und Forschung, um Dynamik und Konvergenz zu fördern; Regulierung des Finanzmarktes, u.a. durch die Finanztransaktionssteuer und einen »Marshallplan für Europa«. Die IG Metall fordert die europäischen Gewerkschaften auf ... und wird ihren Beitrag zur Umsetzung leisten müssen, eine Aktionsplanung zu erarbeiten, um mit einheitlicher und machtvoller Stimme die Interessen der Beschäftigten in die politischen Entscheidungen einzubringen. Das müsste jetzt ziemlich schnell gehen, um weiteren sozialen Grausamkeiten des Kapitals und seiner Regierungen wirksam entgegenzutreten.
Fragezeichen und Widersprüche
Durch den gesamten Kongress zieht sich die »Interessenvertretung der Beschäftigten« – nirgendwo erwähnt sind die »Überflüssigen«, die Erwerbslosen, die Abgehängten – von der IG Metall wurde der Zusammenhang zwischen Erwerbslosigkeit und prekärer Beschäftigung einerseits und Druck auf das »Normalarbeitsverhältnis«, auf Arbeitszeit, Entgelt und Sozialstandards andererseits nicht thematisiert. Das ist es, was inzwischen als »exklusive Solidarität« definiert ist und wofür die IG Metall schlechte Beispiele liefert. Dass dabei zunehmend »Normalarbeitsverhältnisse« zerstört werden, nimmt die Gewerkschaft mindestens billigend in Kauf (so aktuell bei der VW-Tochter Sitech in Wolfsburg, s. diese Ausgabe, S. 6).
Welche Position wird sich in der Gewerkschaft praktisch durchsetzen: die neokorporatistische Linie des Vorstandes oder die mehrheitlich beschlossene, auf Aktion und Widerstand gerichtete Position? Selbst wenn der Vorstand über das Geld und die Medien verfügt, wenn er Verwaltungsstellen und Vertrauensleute unterstützen oder ausbremsen kann, so hängt es doch von den Verwaltungsstellen, von den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und den Beschäftigten in den Betrieben ab, wohin sich die große, wichtige und traditionsreiche Gewerkschaft entwickelt.
Bezogen auf eine andere Organisation und auf einen anderen Kongress, dennoch passend für die IG Metall und ihren Gewerkschaftstag folgende Feststellung:
»Bei ... soviel Pragmatismus und sowenig Utopie verelendet auch die Kritik. Den heutigen politischen Antworten auf die Krise fehlt es ... an Durchblick, Kriterien und Begriffen. Manchen ist sogar der Begriff der kapitalistischen Produktionsweise abhanden gekommen.« (Kamil Majchrzak in »Ossietzky«, Nr. 21/2011)
* Stephan Krull, aktiver Gewerkschafter, von 1990 bis 2006 Mitglied des Betriebsrates bei VW in Wolfsburg, in diesem Zeitraum auch Mitglied des Ortsvorstandes der IG Metall und der Tarifkommission für Volkswagen.
erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express