„Ohne großes Federlesen rausschmeißen”

Deutschland macht die Grenzen in Südosteuropa für Roma dicht

in (01.12.2013)


Seit 2010 übt die Bundesregierung massiv Druck auf die Nicht-EU-Staaten Südosteuropas aus, die Einreise von Roma in die EU zu stoppen. Die Folgen sind erhebliche Menschenrechtsverletzungen in den betroffenen Ländern – und eine Verschärfung der Übergriffe gegen Roma in Deutschland.

Es ist ja nicht so, dass niemand gewarnt hätte. Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, übte bereits im Oktober 2012 scharfe Kritik. Damals begann die Bundesregierung, immer heftiger gegen die Einreise von Roma aus Südosteuropa in die EU mobilzumachen, und holte das alte, brandgefährliche Stigma vom „Asylmissbrauch” aus der Mottenkiste. Eine Minderheit auf diese Weise zum Gegenstand allgemeinen Unmuts zu machen – das sei „mehr als diskriminierend”, sagte Rose: „Da betreibt man ein Stück weit Hetze.” Geholfen hat seine Kritik freilich nicht. In Duisburg ist es nun tatsächlich zu einer ersten Eskalation gekommen, die zeigt, wie schnell antiziganistische Ressentiments in Deutschland in offene Übergriffe umschlagen können. Wird die Bundesregierung ihre Agitation nun endlich einstellen? Zweifel sind angebracht; denn die politischen Ziele, die sie mit ihr verfolgt, hat sie noch nicht vollständig erreicht.

Keine Visumspflicht mehr

Die Auseinandersetzungen begannen letztlich im Herbst 2010. Keine zwölf Monate zuvor, am 19. Dezember 2009, war die Visumspflicht für Bürgerinnen und Bürger Serbiens, Montenegros und Mazedoniens bei der Einreise in die EU aufgehoben worden. Zum Jahresende sollten, wie das europäische Parlament am 7. Oktober beschlossen hatte, auch die Bürgerinnen und Bürger Bosnien-Herzegowinas und Albaniens in den Genuss der Visafreiheit kommen. Visafreiheit, wohlgemerkt, kein bisschen mehr – das heißt: Es war den Bürgerinnen und Bürgern der genannten Staaten nach wie vor nicht erlaubt, länger als 90 Tage in der EU zu bleiben oder dort eine Arbeit aufzunehmen, und sie mussten zudem biometrische Reisepässe besitzen. Letzteres ließ auch die deutsche Industrie an den Freuden der vorsichtigen Grenzöffnung teilhaben: Im Falle Mazedoniens etwa verdiente die Münchener Firma Giesecke & Devrient nicht schlecht mit der Lieferung von nicht ganz billigen Datenerfassungsstationen und zwei Millionen hochmodernen E-Reisepässen, deren kostspielige Einführung die EU netterweise zur Voraussetzung für die Visafreiheit gemacht hatte. Auch die Deutschen hätten also eigentlich ganz zufrieden sein können.

Waren sie aber nicht. Am 19. Oktober 2010 meldete sich der Innenminister des Freistaats Bayern, Joachim Herrmann, lautstark zu Wort. Seit der Aufhebung der Visumspflicht hätten doch glatt 130 Personen aus Serbien und 260 aus Mazedonien in Bayern Asyl beantragt, beschwerte er sich. Das ist nun ihr gutes Recht, wie sich die Bundesrepublik ja auch das Recht herausnimmt, Asylanträge in der übergroßen Mehrheit abzulehnen. Und überhaupt: Die Staaten Südosteuropas sollen, wie man so sagt, an die EU „herangeführt” werden, um irgendwann einmal beizutreten; die Visafreiheit ist ein Teil dieses Prozesses, also kein Geschenk, sondern ein politischer Schritt im Interesse der wachsen wollenden EU. Herrmann aber passten die 390 Asylanträge nicht, und deshalb erklärte er, die Visafreiheit müsse zurückgenommen werden. Seine Kabinettskollegin Emilia Müller, im Freistaat für Europapolitik zuständig, traf umgehend den serbischen Innenminister zusammen. Belgrad müsse, forderte sie, dringend etwas tun – und die 130 Personen starke „Einwanderungswelle” nach Bayern schnellstmöglich stoppen.

Rassistischer Hass

Worum es eigentlich ging, teilte der damalige serbische Innenminister Ivica Daèiæ nach seinem Treffen mit Europaministerin Müller mit. Bei den Asylsuchenden handele es sich, soweit sie aus Serbien kämen, vor allem um Roma aus der Vojvodina, berichtete er. Weshalb sie nach Westeuropa kamen, konnte man damals etwa bei der staatlichen Schweizer Entwicklungsbehörde DEZA erfahren. Die Roma lebten in der Vojvodina „oft an der absoluten Armutsgrenze” und müssten sich „vom Müllsammeln und von Gelegenheitsjobs” ernähren, schrieb die Institution, die deswegen gerade ein Projekt zur sozio-ökonomischen Integration der Vojvodina-Roma gestartet hatte. Im Juni 2010 hatte sich darüber hinaus bis in westeuropäische Medien herumgesprochen, dass die Roma in der serbischen Provinz auch von rassistischer Gewalt betroffen waren. Als nach einem Streit unter Jugendlichen ein 17-jähriger Rom in einem Vojvodina-Dorf einen ebenfalls 17-jährigen nicht der Minderheit zugehörigen Serben erstochen hatte, da belagerte in dem Ort ein rassistischer Mob die Wohnhäuser mehrerer Roma-Familien. „Ihre Häuser, die in den letzten Tagen von Dorfeinwohnern immer wieder mit Steinen beworfen wurden, werden inzwischen von der Polizei und einer Sondereinheit rund um die Uhr bewacht”, berichtete der österreichische Standard; die Roma sähen sich „mit einer Welle des ethnisch motivierten Hasses konfrontiert”.

Kann man Menschen, die aus absoluter Armut vor rassistischen Gewalttätern fliehen, die Zuflucht verwehren? Na klar, man kann. In Deutschland und der EU ist das sogar gängige Praxis. Nachdem der Freistaat Bayern dem serbischen Innenminister mitgeteilt hatte, mit den Roma-Flüchtlingen könne es so nicht weitergehen, sah sich dieser zum Handeln gezwungen. Die fünf bitterarmen Staaten Südosteuropas, die noch nicht Mitglied der EU, aber gänzlich von ihr umschlossen sind, können es sich schlicht nicht leisten, gegen westeuropäische Anmaßungen aufzubegehren. Serbien werde „besondere Maßnahmen” gegen den angeblichen „Missbrauch der Visafreiheit” ergreifen, teilte Ivica Daèiæ noch am 19. Oktober 2010 der serbischen Tageszeitung Blic mit, die übrigens einem profitablen Joint Venture der Verlage Ringier (Schweiz) und Springer (Deutschland) gehört. Blic berichtete weiter, die serbische Polizei habe nach entsprechenden Hinweisen deutscher Behörden bereits begonnen, Mazedonierinnen und Mazedonier, die in Richtung EU unterwegs gewesen seien, an der Grenze zurückzuweisen. Diese hätten daraufhin wütend vor der serbischen Botschaft in der mazedonischen Hauptstadt Skopje protestiert.

Passentzug

Die Lage spitzte sich rasch zu. Neben der Bundesrepublik machten vor allem Belgien und Schweden Druck; die EU-Kommission schloss sich ihnen an. Bereits am 18. Oktober hatte EU-Kommissar Štefan Füle, der in Brüssel für die „Nachbarschaftspolitik” und die EU-Erweiterung zuständig ist, an die Außenminister Serbiens und Mazedoniens geschrieben, es müsse etwas geschehen. Die Tatsache, dass Bürgerinnen und Bürger der beiden Länder in der EU Asyl beantragten, werde die „Glaubwürdigkeit” Belgrads und Skopjes negativ beeinflussen. Zudem gebe es „ein konkretes Risiko”, dass einige EU-Mitglieder „ihre Position hinsichtlich der Visapolitik für den Westbalkan verhärten” könnten. Dass damit unter anderem Deutschland gemeint war, lag auf der Hand. Noch offener drohte EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström in einem Brief an die Innenministerien Serbiens und Mazedoniens vom 20. Oktober 2010. Darin forderte sie ausdrücklich, gegen Bürgerinnen und Bürger der beiden Staaten vorzugehen, die in der EU Asyl beantragen wollten. Unterbleibe dies, dann sei, drohte Malmström, „der gesamte Prozess der Visa-Liberalisierung” in Gefahr.

Unter massivem Druck leiteten Serbien und Mazedonien umgehend erste Schritte ein. Bereits am 29. Dezember 2010 verabschiedete das mazedonische Parlament in Skopje ein Gesetz, das intensivere Grenzkontrollen vorsah. So müsse beispielsweise festgestellt werden, hieß es darin, ob ausreisewillige Personen die „internationalen Beziehungen” gefährdeten. Das Gesetz dient bis heute als Grundlage, um all jene zurückzuhalten, die verdächtigt werden, in Westeuropa Asyl zu beantragen. Am 22. Mai 2011 kündigte die mazedonische Innenministerin Gordana Jankulowska weitergehende Maßnahmen an. Demnach würden die Reisepässe all derjenigen Ausreisewilligen mit einem Stempel versehen, die man des „Asylrechtsmissbrauchs” bezichtige. Am 28. September 2011 wurde erneut ein Gesetz in Sachen Ausreise verschärft. Seitdem kann Personen, die aus dem Ausland nach Mazedonien abgeschoben werden, für ein Jahr der Reisepass entzogen werden. Nun platzte Thomas Hammarberg, dem damaligen Menschenrechtskommissar des Europarats, der Kragen; er ging mit einer geharnischten Erklärung an die Öffentlichkeit.

Rassistisches Profiling

Hammarberg wies zunächst darauf hin, dass die mazedonischen Maßnahmen eine klar benennbare Ursache hatten: den Druck der übermächtigen EU. Er erinnerte daran, dass auch weitere Staaten die Ausreise in ähnlicher Weise erschweren mussten; in der Tat trifft das prinzipiell, wenn auch mit länderspezifischen Unterschieden, auf alle fünf Nicht-EU-Länder Südosteuropas zu. Hammarberg fügte hinzu, dass in der Praxis auch blanke Armut zum Anlass genommen wird, Ausreisewillige zurückzuhalten: Wer am Flughafen kein Rückticket oder am Grenzübergang keine hohen Bargeldbeträge vorweisen kann, kann bis heute jederzeit am Verlassen der fünf südosteuropäischen Nicht-EU-Länder gehindert werden. Hammarberg war stinksauer: Das Recht, sein Land zu verlassen, schrieb er, werde immerhin in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert. Dort heißt es in Artikel 13 Absatz 2: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.” Faktisch werde dieses grundlegende Menschenrecht nun auf Druck der EU außer Kraft gesetzt, wetterte der Europarats-Kommissar; das sei indiskutabel.

Deutliche Worte – umso mehr, als Hammarberg ebenfalls darauf hinwies, dass die Maßnahmen vor allem Roma treffen. Die mazedonische Innenministerin räumte denn auch ganz offen ein, dass die Grenzbehörden ihres Landes gezielt „Profiling” betreiben – und zwar auf der Grundlage von Informationen, die sie von EU-Mitgliedstaaten erhalten. Die Bundesrepublik ist ganz offenkundig daran beteiligt; die Grenzbehörden Serbiens gaben ja schon im Oktober 2010 an, sie hätten mit der damaligen Ausreiseverweigerung auf Hinweise aus Deutschland reagiert. Die EU-Kommission hielt in einem Monitoring über die Lage an den mazedonischen Außengrenzen im Jahr 2011 fest: „Das allgemeine Profil der Asylsuchenden ist im zweiten Halbjahr 2011 bestätigt worden. Die überwiegende Mehrheit der Asylgesuche stammt von Personen, die zur Roma-Minderheit gehören, die oft mit ihren Familien ankommen.” Auch das US-Außenministerium vermerkte in seinem Mazedonien-Länderbericht 2011 ausdrücklich, „in Antwort auf ein Ersuchen der EU” habe Skopje unter anderem „Profiling an Grenzstationen” eingeführt.

„AZ” für „azilant”

Chachipe, eine in Luxemburg ansässige Organisation, die sich dem Kampf für die Menschenrechte der Roma verschrieben hat, hat ausführlich dokumentiert, wie das „Profiling” in praktische Maßnahmen umgesetzt wird. Demnach wurden die Reisepässe von Personen, denen die Behörden die Ausreise aus Mazedonien verweigerten, mit den Buchstaben „AZ” markiert. „AZ” steht wohl, mutmaßt Chachipe, für die ersten beiden Buchstaben des mazedonischen Wortes „azilant”. Laut Berichten von Nicht-Regierungsorganisationen werden zur Markierung zuweilen auch zwei parallele Linien benutzt. „Personen mit markierten Reisepässen”, schreibt die Schweizerische Flüchtlingshilfe, „wurde von den Behörden die Ausreise aus Mazedonien verwehrt.” Am Verlassen ihres eigenen Landes gehindert wurden laut Auskunft der mazedonischen Innenministerin zwischen dem 29. April 2011 – an diesem Tag begannen die Behörden, eine entsprechende Statistik zu führen – und dem 24. November 2011 2.888 Bürgerinnen und Bürger des Landes. Einem Sprecher des Innenministeriums zufolge hatte sich die Zahl bis April 2012 auf rund 4.000 Personen erhöht, bis Oktober 2012 auf 6.500. Das sind 0,3 Prozent der mazedonischen Bevölkerung.

Reicht’s nicht so langsam? Die Antwort in Berlin und Brüssel lautete: Nein. Im Oktober 2012 – die Zahl der Asylgesuche in der Bundesrepublik lag noch immer nicht bei Null – startete der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich, befeuert von seinem bayerischen Amtskollegen Joachim Herrmann, die nächste Kampagne gegen den angeblichen „Asylmissbrauch”. Man müsse den „massiven Zustrom serbischer und mazedonischer Flüchtlinge stoppen”, tönte er – und schlug vor, Asylbewerberinnen und Asylbewerbern aus Serbien und Mazedonien die Geldleistungen zu kürzen. Dazu passend mussten die EU-Innenminister auf ihrem Treffen am 25. Oktober diskutieren, ob man nicht doch die Visafreiheit für Serbien und Mazedonien zumindest zeitweise aussetzen solle. Einmal mehr zeigte der Druck Wirkung: Am 24. Dezember 2012, pünktlich zum westeuropäischen Weihnachtsfest, verabschiedete das serbische Parlament ein Gesetz, das die Reisefreiheit indirekt noch weiter beschränkt.

Haft für Fluchthilfe

Der neue Artikel 350a, der an diesem Tag in das serbische Strafgesetzbuch eingefügt wurde, behandelt die „Ermöglichung des Missbrauchs von Rechten in einem fremden Staat”. Zugrunde liegt die Unterstellung, Bürgerinnen und Bürger Serbiens würden in Asylverfahren im Ausland ihre Lebenssituation gezielt dramatisieren, um von „politischen, sozialen, ökonomischen oder anderen Rechten” in dem Land, in dem sie Asyl beantragten, zu profitieren. Der neue Paragraph sieht vor, alle diejenigen zu kriminalisieren, die den „falschen Asylbewerbern”, wie sie in der serbischen Öffentlichkeit inzwischen genannt werden, Unterstützung auf dem Weg ins erhoffte Asylland zukommen lassen. Dafür drohen bis zu drei Jahre Haft. Tun sich Unterstützerinnen und Unterstützer zu Gruppen zusammen, kann die Strafe auf bis zu acht Jahren steigen. Nebenbei: Ein vergleichbares Gesetz, das den „Missbrauch der Visafreiheit mit den Mitgliedstaaten der EU und des Schengen-Vertrags” unter Strafe stellt, ist in Mazedonien schon Ende 2011 verabschiedet worden. Dort wurden im Juni 2012 auch die ersten Urteile gegen vier Personen verhängt; sie müssen wegen Unterstützung für Asylsuchende für vier Jahre in Haft.

Roma entrechten

Der Bundesregierung aber reicht es immer noch nicht. Im März öffnete Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich das nächste Fass: Sogenannte „Sozialbetrüger” aus Rumänien und Bulgarien sollten, verlangte er, abgeschoben und mit einer Einreisesperre belegt werden. Im Juni hat er die Forderung wiederholt. „Wenn die dann irgendwo aufgegriffen werden”, erklärte er, „dann kann man ohne großes Federlesen sie wieder rausschmeißen”. Um wen geht es? Man rede von „Armutsmigranten”, beschreibe sie aber faktisch „ausschließlich als Roma”, beschwerte sich Romani Rose, und dann kriminalisiere man sie auch noch pauschal – „dass sie Sozialsysteme ausnutzen, dass sie Schmutz und Dreck vor die Haustür werfen und so weiter und so fort”. Antiziganistische Ressentiments wurden durch derlei Agitation schon im Herbst 2012 befeuert; in Duisburg sind sie nun schließlich offen ausgebrochen. Dabei ist das Ende der Fahnenstange womöglich noch nicht erreicht.

Denn: Hans-Peter Friedrichs jüngste Forderung ist noch nicht erfüllt. Sie geht über die bisherigen Zumutungen hinaus und zielt darauf ab, in EU-Staaten bestimmte Bevölkerungsgruppen von grundlegenden Rechten, in diesem Fall von der freien Wahl ihres Aufenthaltsorts, auszuschließen, wenn diese Rechte der EU-Kernmacht Deutschland nicht in den Kram passen. Bei den Auszuschließenden handelt es sich zumindest vorwiegend um Roma. Ihnen stehen in Deutschland, sollte die nächste Bundesregierung nicht überraschend eine Kehrtwende vollziehen, womöglich finstere Zeiten bevor.
 

Der Artikel erschien in Ausgabe #53 der antifaschistischen Zeitschrift LOTTA.