Die documenta als Event

in (01.12.2012)

Wer die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen will, muss zunächst den entsprechenden Einbürgerungstest bestehen. Im hessischen Integrationstest gibt es – neben allgemeinen Fragen  nach den Farben der deutschen Nationalflagge, Prinzipien des Sozialstaats, Grundpfeiler des Presse- und Demonstrationsrechts – sehr aussagekräftige Fragen unter der Rubrik Kultur und Wissenschaft. Die zukünftigen Deutschen müssen z.B. den Namen des bekanntesten Bildes des Malers Casper David Friedrich kennen und mit der gleich anschließenden 85. Frage beantworten können, welchen Namen eine der bedeutendsten Ausstellungen für moderne und zeitgenössische Kunst trägt, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet. So wichtig ist die documenta-Ausstellung, dass das Wissen um sie in einen Test mündete, der nationale Zugehörigkeitsgrenzen definiert und eine kulturelle Hegemonie prägt.

Im gleichen Maße wie die Kenntnisnahme der documenta offenbar für zukünftige BürgerInnen eine Rolle zu spielen scheint, lässt sich auch fragen, welche Kenntnis die documenta von den BürgerInnen haben sollte, für welche die Ausstellung gemacht wird. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, wie die „Weltkunstausstellung“ (so die Eigenbeschreibung der documenta GmbH) sich mit dem lokalen Kontext, nämlich Kassel, verbindet: wie nehmen die jeweiligen künstlerischen Leitungen den lokalen Kontext auf, wie nutzen sie lokales Wissen, wie werden lokale Themen und  Kontexte für die Ausstellungskonzeption und für die einzelnen Werke der Künstler_innen aufgegriffen? Welche Formate der Kunstvermittlung werden entwickelt und welche inhaltliche Kontinuitäten werden von der einen zur nächsten Ausstellung fortgesetzt oder gebrochen.
Im Zusammenhang der Eventisierung von Kunstausstellungen erscheint mir die Frage wichtig, ob und wie Kunstinstitutionen Kooperationen zu vorhandenen lokalen Einrichtungen eingehen, ob es zu einer win-win Situation kommt oder ob der Tausch ausschließlich mit der Währung des symbolischen Kapitals anstelle realer finanzieller Ressourcen vollzogen wird. Eventisierung einer Ausstellung könnte in diesem Zusammenhang auch bedeuten, dass eine Ausstellung mit einer starken Eigendynamik ankommt, maximale Aufmerksamkeit er- und einfordert und am Ende jedoch flüchtig ist und nichts hinterlässt. Als exemplarische Beispiele zur Untersuchung dieser Frage werden die letzten beiden Ausstellungen, documenta 12 und dOCUMENTA (13), dienen.
Für die Stadt und ihre Bewohner_innen ist die documenta-Ausstellung wichtig. Das Verhältnis ist  jedoch auch von skeptischer Distanz geprägt. Dies mag vor allem an der Wahrnehmung liegen, dass die documenta alle fünf Jahre wie ein Ufo in Kassel landet und so wieder abzieht. Dennoch wird jede Vorbereitung und die Ausstellung selbst geschätzt, weil mit den internationalen Gästen Kassel aus seinem Dornröschenschlaf erweckt wird. Das Entstehen und die Ausweitung von gastronomischen Angeboten um die Ausstellungsorte, die kulturelle Belebung der Stadt und ihrer Bewohner_innen und der internationale Flair sind Aspekte, die die Wichtigkeit der Ausstellung für die Stadt begründen.

documenta 12 in Kassel
Der in Wien lebende Ausstellungsmacher Roger M. Buergel wurde November 2003 als neuer künstlerischer Leiter der documenta 12 berufen. Zwei Jahre vor der Ausstellung begann er mit der Kuratorin Ruth Noack, seiner Partnerin, in Kassel aktiv Kontakte zu suchen und aufzunehmen. Sie zeigten ein großes Interesse an der Stadt, an ihrer Geschichte und Bevölkerung. Kassel sei für sie ein besonderer Ort, da seit der Gründung der ersten documenta 1955 hier eine Öffentlichkeit für die moderne Kunst entstehen konnte, die es an anderen Orten nicht gebe. Diese Öffentlichkeit müsse angesprochen werden, um das Potenzial der zeitgenössischen Kunst zur Wirkung zu bringen. Das Interesse der documenta 12-Leitung an der Stadt wie auch die Verlegung ihres Wohnortes von Wien nach Kassel wurde damals von der lokalen Presse und der Kasseler Bevölkerung als Geste der Zuwendung zu ihrer Stadt sehr positiv wahrgenommen.
Die documenta 12 -Verantwortlichen nahmen den Kontakt zu drei in Kassel ansässigen sozio-kulturellen Zentren auf. Bei einem gemeinsamen Gespräch im Herbst 2005 formulieren sie ihren Wunsch nach einer Kooperation mit lokalen Einrichtungen, um die documenta 12 stärker mit der Stadt zu verbinden. Sie formulierten das Anliegen, dadurch bestehende Initiativen und Einrichtungen stützen, Ideen anfachen und Energien fortsetzen zu wollen. Die Auseinandersetzung mit Kunst an anderen Orten könne das Potenzial von Kunst zur Geltung bringen, da dadurch die Wahrnehmung von Kunst konkret werde.
Zwei Vertreterinnen des Kulturzentrum Schachthof zeigten Interesse und begrüßten die Initiative. Sie waren bereit, im Rahmen einer Kooperation ihre Kenntnisse über die lokalen Gegebenheiten sowie auch ihre Kontakte zu unterschiedlichen Bevölkerungs- und Interessensgruppen zu öffnen.  Ende Dezember 2005 wurde in das Kulturzentrum Schlachthof in Abstimmung mit seinem neuen Kooperationspartner eine Gruppe von rund 40 Personen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen aus Kassel einladen. Es entsteht der documenta 12 Beirat, ein Gesprächs- und Aktionskreis, der ab 2006 aktiv wird. Die drei Leitfragen[1] der documenta 12 werden zunächst in monatlichen Treffen diskutiert und daraus werden eigene Aktivitäten entwickelt. Die lokalen Experten des documenta 12-Beirats beraten und geben den Ausstellungsmachern Feedback. Einige der von der documenta 12- Leitung ausgesuchten Künstler_innen, die ihre Werke zu Themen in Kassel entwickeln wollen, nutzen die Gesprächsrunde mit den lokalen Expert_innen, um ihre Arbeitsweisen, ihre vagen oder konkreten Ideen vorzustellen.
Der documenta 12-Beirat war die erste strukturierte Zusammenarbeit einer documenta mit ihrem lokalen Kontext Kassel. Es wurden zwar personelle Ressourcen zur Entwicklung, Begleitung und Moderation des Beirates bereitgestellt, aber es wurde kein Budget für den Beirat und seine Aktivitäten zugeteilt. Finanziert durch Drittmittel (der Bundeszentrale für politische Bildung) entwickelten die Beiratsmitglieder ausgehend von den kuratorischen Leitfragen sechs Aktivitäten.
Auch die Kunstvermittlung auf der documenta 12 wurde aus dem kuratorischen Interesse heraus entwickelt: Mit dem dritten Leitmotiv „Was tun?“ wurde die Aufmerksamkeit auf die Frage von Bildung und dem Bildungsauftrag von Kulturinstitutionen und Museen gerichtet. Die bisher einstündigen Führungen wurden auf der documenta 12 erstmals als zweistündige und dialogische Kunstvermittlungsformate konzipiert. Rund 70 Kunstvermittler_innen, wurden unter Vertrag genommen. Der Bereich der Kunstvermittlung im Rahmen der documenta 12 erhielt einen hauptverantwortlichen Mitarbeiter sowie eine wissenschaftliche Begleitung.

dOCUMENTA (13) in Kassel, Kabul, Kairo und Banff
Im Dezember 2008 wird Carolyn Christov-Bakargiev als neue künstlerische Leitung der documenta 13 berufen. Auch die dOCUMENTA (13) nimmt Bezug auf eine regionale Einrichtung, die als thematischer Bezugs- und Ankerpunkt fungiert: die Gedenkstätte Breitenau in Guxhagen. Breitenau liegt in der Nähe Kassels in einer malerisch schönen Landschaft. Ein ungewöhnlicher Ort des mehrfachen Schreckens und geprägt durch jahrzehntelange Kontinuität in Sachen Einsperren, Bewachen, Züchtigen, Brechen von Menschen. Im ehemaligen Benediktinerkloster Breitenau wurden im 19. Jahrhundert so genannte Landstreicher, Bettler und Prostituierte inhaftiert. Nach der Umfunktionierung des Klosters zur Kirche wurde das Gebäude ab 1933 unter den Nationalsozialisten als KZ benutzt. Es wurde eine Mauer durch die Mitte des Kirchenschiffs gezogen: Während auf der einen Seite des Kirchengebäudes Gottesdienste stattfanden, wurden auf der anderen Seite politische Gegner der Nazis inhaftiert. Nach dem Ende des Krieges wurde die räumliche Bewahrungs- und Inhaftierungsstruktur des ehemaligen KZs belassen und ab 1952 bis zur Schließung 1973 als Heim für schwererziehbare Mädchen weiter benutzt.

Für die künstlerische Leitung wurde dieser Ort konzeptionell und inhaltlich für die Ausstellung unter der Überschrift Collapse and Recorvery maßgebend wichtig. So wichtig, dass alle für die documenta 13 ausgesuchten Künstler_innen – noch bevor sie nach Kassel kamen oder Vorschläge für ihre künstlerischen Werke einreichten – diesen Ort passieren müssten. Auf diese Weise entstanden einige Kunstwerke, die sich direkt auf die Geschichte Breitenaus bezogen. Auch Carolyn Christov-Bakargiev arbeitete mit einer Gruppe von 19 Experten zusammen: es waren die so genannten Agent_innen aus aller Welt – Kurator_innen, Schriftsteller_inn, Künstler-innen, Wissenschaftler_innen und Philosoph_innen –, die sich am Entwicklungsprozess der documenta 13 beteiligten. Allerdings war in diesem Kreis kein Agent oder Agentin aus Kassel dabei.
Unter der Regie der documenta 13-Leitung fand im Frühjahr 2011 ein dreitägiger Workshop unter dem Titel No education statt. Neben einigen Agent_innen nahmen auch zwei Personen teil, die bei der documenta 12 im Bereich der Kunstvermittlung tätig waren. Geladen wurden des Weiteren Personen aus Kassel, die einen Input oder eine Position mit Blick auf die Ausstellung geben und diskutieren sollten. Gerungen wurde in diesem Workshop um die grundsätzliche Bedeutung eines Formats der Kunstvermittlung für Erwachsene und für Kinder/Jugendliche auf der dOCUMENTA (13).
In Anschluss an diesen Workshop entstand ein Arbeitsgruppe mit dem Titel Maybe Education Group, die die Vielleicht-Vermittlung und andere Programme und Konzepte durch Beratung und Ideen unterstützte. Mit der Einrichtung des Bereiches Vielleicht-Vermittlung und anderer Programme ab Sommer 2011 werden von diesem Arbeitsbereich ein breites Angebot von publikumsbezogenen Aktivitäten in Kassel wie Künstlergespräche, Vorträge, Performances von Künstlern und das Filmprogramm entwickelt und koordiniert. Auch das neue Kunstvermittlungsformat unter dem Namen worldly companions/ weltgewandte Kunstbegleiter gehörte in dieses Arbeitsfeld. Für die Umsetzung der dTours wurden vorwiegend Personen aus Kassel mit unterschiedlichen beruflichen Backgrounds gesucht. Auf eine Anzeige in der lokalen Presse hin bewarben sich rund 700 Personen. Aus diesem Bewerberkreis wurden 170 Personen für die Aufgabe der worldly companions gewählt, die ab Januar bis zur Ausstellungseröffnung im Juni 2012 an sechs Wochenend-Terminen auf die künstlerischen Postionen der DOCUMENTA (13) vorbereitet wurden. Mehrheitlich kamen die worldly companions aus Kassel, waren Studierende der Kunsthochschule und hatten verschiedene Berufe wie z.B. Gärtnerin, Therapeuten, Ärzte, Rechtsanwält_innen, Richter_innen, Kunstpädagog_innen, Kunsthistoriker_innen. Auch die worldly companions sollten in der Ausstellung mit dem Publikum dem Prinzip von dialogischen Gesprächen folgen.
Bei einer der öffentlichen Sitzungen der maybe education Gruppe äußert die künstlerische Leitung, dass sie die worldly companions nicht gewollt habe, da es in ihrer Ausstellung viele performative Kunstwerke gebe. Daher käme die Ausstellung ohne Vermittlung aus. Auch wurden die wordly companions der dOCUMENTA (13) in den eigenen Katalogen und Publikationen namentlich nicht aufgeführt. Die Begründung dafür war, dass die worldly companions nicht das symbolische Kapital für künftige Aktivitäten im Kunstfeld bräuchten. Diese Äußerungen machen deutlich, dass es im Rahmen von Ausstellung unumstößliche Prioritäten und Gewichtungen gibt, die da heißen: zuerst die Kunstwerke und die Architektur für die Kunstwerke, danach erst der kommunikative, vermittelnde Teil der Ausstellung. Entsprechend dieser Logik werden auch Budgetierung (nicht) vorgenommen.

Jede documenta entsteht alle fünf Jahre als Institution neu: neu mit einer neuen künstlerischen Leitung und einem neuen Team. Allein dieser Umstand führt dazu, dass jede documenta-Ausstellung in dieser Größe automatisch zu einem Event wird. Allerdings hat die documenta 12 m. E. konzeptionelle Schritte unternommen, um lokale Strukturen zu unterstützen. Es wurden auch verschiedene Interessens- und Bevölkerungsgruppen adressiert und eingeladen, die ohne explizite Einladung nicht gekommen wären. Im Rahmen der documenta 12 wurden diese Aspekte Fragestellungen bearbeitet und führten zu spannenden Verschränkungen der Kunstvermittlung mit den Beiratsprojekten und zu Projekten der Kunstvermittlung[2] in und außerhalb der Ausstellung. Der Versuch das lokale Publikum zu beteiligen war dabei wichtig, damit sie nicht wie bei einem Event nur Konsument_innen blieben.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Winter 2012, „Eventisierung“.
 



[1] Die Leitfragen bildeten die Grundlage für die Recherche, Konzeption und Entwicklung der Ausstellung: Ist die Moderne unsere Antike? (Moderne als historische Form), Was ist das bloße Leben?  (Verletzbarkeit der menschlichen Existenz), Was tun? (die Frage nach Bildung)

[2] Publikation zur Kunstvermittlung auf der documenta 12:  Wanda Wieczorek, Claudia Hummel, Ulrich Schötker, Ayşe Güleç und Sonja Parzefall (Hg.): Kunstvermittlung –Arbeit mit dem Publikum, Öffnung der Institution , Formate und Methoden der Kunstvermittlung auf der documenta 12, Band 1: Zürich-Berlin 2009; Carmen Mörsch: Kunstvermittlung  – Zwischen kritischer Praxis und Dienstleitung auf der documenta 12, Ergebnisse eines Forschungsprojektes, Zürich-Berlin 2009.