Antidepressiva und die Arbeit am Selbst

Sie versprechen viel, tatsächlich helfen sie jedoch wenig, sie tragen sowohl zur  Biologisierung wie zur Ökonomisierung sozialer Probleme bei und sie sind Instrument der Individualisierung. Vielseitig ist die Kritik an Antidepressiva. Aber sollte deswegen ganz von ihnen abgeraten werden? Eine kritische Betrachtung der Diskussion.

Die Meldungen über die Zunahme an Stress, Burnout und Depressionen und anderen alt und neu definierten „Seelenkrankheiten“ in den Industrieländern überschlagen sich. Noch rangieren die „psychischen Belastungen“ auf Platz vier unter den Diagnosen, die Arbeitsausfälle bewirken. Prognostiziert wird aber, dass sie in den nächsten Jahren die ersten beiden Plätze erobern.(1)

Gleichauf mit dem Erschrecken über das Ausmaß psychischen Elends um uns herum wächst die Hoffnung, es in den Griff zu kriegen: Die inzwischen gar nicht mehr so neue Generation der so genannten „neuen“ Antidepressiva, die SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) verspricht, depressive Erkrankungen heilen zu können - mit erheblich weniger Nebenwirkungen und Abhängigkeit als ihre Vorgänger. Die SSRI, deren bekanntester Vertreter wohl das 1988 auf dem US-amerikanischen Markt eingeführte Medikament Prozac ist, erhöhen die Verfügbarkeit des Neurotransmitters Serotonin. Dessen Mangel gilt laut gängiger, allerdings nicht unumstrittener Hypothese als zentraler biochemischer Indikator für Depression.

Inzwischen greifen allerdings längst nicht mehr nur chronisch Niedergeschlagene, sondern auch durchschnittlich ‚Gesunde’ zu biochemischen Aufmunterern: Ritalin für bessere Konzentrationsfähigkeit, Fluoxetin für mehr Optimismus, Citalopram für mehr Selbstvertrauen und weniger Angst. Laut DAK ‚dopen’ sich rund fünf Prozent aller ArbeitnehmerInnen zwischen 20 und 50 Jahren.(2) So umstritten der Nutzen für die Einzelnen, so unzweifelhaft profitiert die Pharmaindustrie vom kontinuierlich steigenden Absatz der Antidepressiva. Das ebenfalls zur Gruppe der SSRI zählende Medikament Efexor etwa schaffte inzwischen den Sprung unter die Top Ten der weltweit verkauften Medikamente.

Gift, Plazebo oder Heilsbringer?

Vor allem die Praxis des so genannten Neuroenhancement, aber auch die mit der jüngeren Antidepressiva-Generation verbundenen Heilungsversprechen rufen Kritiken verschiedenster Art auf den Plan. Eine regelrechte Pro- und Contra-Debatte wabert durch Feuilletons und Netzforen. Wer sich über Chancen und Risiken der biochemischen Stimmungsaufheller informieren will, bleibt mehr oder weniger verwirrt zurück. Haben sie dazu beigetragen die Suizidrate zu senken oder erhöhen sie das Risiko der

Selbsttötung? Sind sie relativ nebenwirkungsfrei oder sind ihre unerwünschten Wirkungen enorm? Machen sie ihre Konsumenten lebenslang abhängig oder lassen sie sich relativ problemlos absetzen? Kurz: Schaden oder nutzen sie? Für beide Positionen lassen sich jeweils zahllose Belege, Meinungen, Untersuchungen und Erfahrungsberichte finden.

Beispielhaft belegt dies die Diskussion um die Anfang 2008 veröffentlichten Ergebnisse einer klinischen Studie in Großbritannien, wonach die Wirkung von Antidepressiva größtenteils auf einem Plazebo-Effekt beruhe. Während dieses Ergebnis den einen als endgültiger Beleg für die Machenschaften der Pharma-Industrie gilt, warnen andere in drastischen Worten vor den Konsequenzen. Ulrich Hegerl etwa, Sprecher des Kompetenznetzwerkes Depression, befürchtet: „Diese Berichte werden Menschenleben kosten“, denn der Rückgang der Suizidrate in Europa sei definitiv ein Ergebnis der Wirksamkeit von Antidepressiva. Ein problematisches Argument, denn über den tatsächlichen Einfluss von Antidepressiva auf die Suizidrate kann allenfalls spekuliert werden, empirisch messbar ist er nicht. Interessanter ist Hegerls Argument, dass der Plazebo-Effekt bei klinischen Studien jeglicher Art eine große Rolle spielt, weil den Probanden mehr Aufmerksamkeit seitens des medizinischen Systems zukommt.(3)

Zusammenfassen lässt sich hinsichtlich der Frage nach der Wirksam- beziehungsweise Schädlichkeit der neuen Antidepressiva nach Durchsicht der Debatte vorsichtig folgendes: Für Euphorie besteht kein Grund. Dafür ist die Wirksamkeit der Medikamente zu wenig eindeutig belegt. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen scheint die Einnahme von Antidepressiva die Suizidalität zu erhöhen. Oftmals ist es eine langwierige und mühsame Angelegenheit, bis das passende Medikament gefunden wird, und dabei ist die Wirkung oft schwächer als gewünscht oder sie hält nur für eine begrenzte Zeit an. Das Absetzen erweist sich häufig als schwierig, sei es, weil die depressiven Symptome mit Wucht zurückkehren oder sei es, weil andere unerwünschte Begleiterscheinungen auftreten. Andererseits scheinen die Medikamente insbesondere manchen schwer Depressiven tatsächlich auch zu helfen oder die Symptome doch wenigstens signifikant zu lindern. Eine Psychotherapie, so der einhellige Tenor, ersetzen sie nicht, aber deren medikamentöse Begleitung kann sinnvoll sein. Entsprechend vorsichtig lauten die Empfehlungen zum Beispiel des britischen „National Institute for Health and Clinical Excellence“.(4)

Vollständig unklar scheint hingegen, ob Antidepressiva bei Nicht-Depressiven überhaupt wirken und ob und wie ‚Neuro-Enhancement’ eigentlich funktioniert. Alles in allem: Ebenso wenig wie Euphorie scheint eine pauschale Verdammnis der neuen Antidepressiva angebracht, vielmehr stellt sich die Frage, welches Mittel unter welchen Umständen und zu welchem Preis welchen Personen helfen könnte.

Antidepressiva als Symptome einer kranken Gesellschaft...

Neben der beschriebenen ‚funktionalen’ Kritik der neuen Antidepressiva existiert allerdings noch ein weiterer Kritiktyp, der für eine Einschätzung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung wesentlich interessanter ist. Dabei geht es um die Frage, inwiefern Hype, Produktion, Konsum und Sorge um die Depression und ihre Bekämpfung typisch sind für die Gesellschaft, in der wir leben - und dazu beitragen, bestehende Machtverhältnisse und Individualitätsformen zu stabilisieren. Ein Strang dieser ‚gesellschaftsanalytischen’ Kritik problematisiert Antidepressiva, weil sie ein neues Modell von Wohlbefinden oder Glück propagieren, das auf dem Ideal der Schmerzfreiheit und ewigen Leistungsfähigkeit beruht. Der Konsum von Antidepressiva

trage dazu bei, die Subjekte immer intensiver und immer effektiver in das Verwertungssystem einzupassen und bürdet ihnen die gesamte Verantwortung für eventuelles Scheitern auf. Aus dieser Sicht sind Antidepressiva ein weiteres mächtiges Instrument der inzwischen nahezu allumfassenden ökonomischen Individualisierung der Lebenswelten. Sogar die Gefühle gerieten zum Objekt ökonomischer Zurichtung; wir rasen „mit ‚mother’s little helpers’ in den Turbokapitalismus“.(5)

Diese Kritik bezieht sich hauptsächlich auf das ‚Gehirndoping’ bei ‚Gesunden’, wodurch sich die Frage stellt, wo genau die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit im Falle der Depression eigentlich liegt. Zumal eben diese Grenze durch die Popularisierung der Depression immer diffuser wird. Und auch hier stellt sich natürlich die Frage der Wirksamkeit: Ist es tatsächlich möglich, sich erfolgreich mit Psychopharmaka zu dopen, so dass daraus echte Konkurrenzvorteile gegenüber nicht Gedopten resultieren? Die Autoren der weiter oben zitierten DAK-Studie jedenfalls plädieren dafür, das Phänomen des ‚Neuro-Enhancements’ nicht überzubewerten: Der weitaus größte Teil der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland verzichtet bislang allen Pharma-Versprechen zum Trotz auf ‚freiwilliges’ Gehirn-Doping. Eine Doping-Epidemie oder gar ‚Kultur’ herbeizuschreiben trägt deshalb nicht unbedingt zur Klärung der inhaltlichen Fragen bei - und bisweilen gerät die Skandalisierung der ‚Psychopillen’ und des „schnellen chemischen Glücks“ wiederum selbst zur Marketing-Strategie.(6)

Der mit seiner Analyse des „erschöpften Selbst“ inzwischen populär gewordene französische Soziologie Alain Ehrenberg weist darauf hin, dass die Kritik des schnellen Glücks viel älter ist als die modernen Antidepressiva. Es ist die Kritik der Droge an sich, die als „‚unverdiente Gnade’“ ihre Wirkung skandalöserweise „ohne Arbeit, ohne Weiterentwicklung“ entfaltet.(7) Provokant gefragt: Wie viel protestantische Arbeitsethik steckt in der Kritik am allzu einfachen Abschaffen von Leid? Und diese Frage stellt sich ganz unabhängig davon, ob ‚Neuroenhancemen’ tatsächlich so unglaublich glücklich und leistungsfähig macht, wie es seine Apologeten behaupten.

...als Instrumente einer ‚Therapeutisierung des Sozialen’...

Der komplexeste Typ der Kritik der neuen Antidepressiva und der vermeintlichen ‚Volkskrankheit Depression’ richtet sich gegen Tendenzen der Pathologisierung und damit auch der Normalisierung vermeintlich ‚abweichender’ seelischer Zustände und knüpft damit an die These von der Medikalisierung des Sozialen an. Demnach trägt nicht nur der gestiegene Konsum von Antidepressiva, sondern auch und vor allem die gesellschaftlich-mediale Aufmerksamkeit für die neuen Leiden an der Seele dazu bei, emotionale Zustände, die schlicht zum alltäglichen menschlichen Erfahrungsuniversum gehören, als ‚krank’ und ‚behandlungsbedürftig’ einem umfassenden pharmazeutisch-therapeutischen Normalisierungsregime zu unterwerfen (8), dem es gelungen ist, praktisch jeden existierenden sozialen Konflikt in die Sprache der Individualpsychologie und der erfolgsorientierten Persönlichkeitsbewirtschaftung zu übersetzen.

Diese umfassende ‚Therapeutisierung des Sozialen’ arbeitet nicht zuletzt modernen Managementideologien und Flexibilisierungsimperativen zu.(9) Sie sorgt dafür, dass wir niemals aufgeben, an uns selbst zu arbeiten - und über diesem Projekt der permanenten Selbstbearbeitung geht uns die Energie aus, für eine Veränderung von Bedingungen oder gar Machtverhältnissen zu kämpfen.

...oder als Mittel der Entlastung?

Die zeitdiagnostische Relevanz dieser Kritik kann kaum bestritten werden, im Gegenteil: Diesbezügliche Forschung, Diskussion und politische Auseinandersetzung stehen erst noch am Anfang. Dennoch bleibt die Frage, an welcher Stelle diese gesellschaftsanalytische Diagnose die Antidepressiva (be-)trifft. Dass sie Teil des „therapeutischen Regimes“ sind und seiner zunehmenden Biologisierung zuarbeiten, ist ohne Zweifel richtig. Die - paradoxe - Frage ist nur, ob sie im Konkreten zwangsläufig immer und in jedem Fall einer weiteren Selbstpsychologisierung Vorschub leisten oder, anders etwa als zeitintensive Psychotherapien, davor nicht auch schützen können? Gehen wir einmal davon aus, dass sich ‚das Biologische’ und ‚das Soziale’ weder eindeutig voneinander trennen lassen, noch in irgendwelchen klar definierten Ursache-Wirkungs-Verhältnissen zueinander stehen, dann wäre zumindest theoretisch durchaus denkbar, dass die Einnahme von Antidepressiva den kritischen Handlungsspielraum der Einzelnen nicht in jedem Fall verkleinern muss. Sie kann ihn unter Umständen sogar vergrößern, ob nun als Effekt einer biochemischen Veränderung oder eines Plazebos, und sei es schlicht dadurch, dass es wieder möglich wird, sich mit anderen Themen zu beschäftigen als dem eigenen Leid. Ähnlich wie im Falle der Anerkennung von Alkoholismus als ‚Krankheit’ kann auch der Akt der Pathologisierung (also die Diagnose Depression) als entindividualisierende Entlastung erlebt werden, entbindet sie das Individuum doch zumindest partiell von der Verantwortung für sein psychisches Schicksal.

Die vorläufige Konsequenz aus alldem? Letztlich schlicht die, dass eine simple Schwarz-Weiß-Logik hier nicht greift. Es kann nicht darum gehen, entweder die Pharma-Industrie für ihre überhöhten Versprechen und ihre aggressive Werbepolitik zu kritisieren oder das individuelle Leiden der Betroffenen als tatsächliche und behandlungsbedürftige Not ernst zu nehmen. Beides muss sein und beides schließt nicht aus, genauer und schärfer nach den Ursachen dieses zwar individuell erlittenen, letztlich aber gesellschaftlich - wie auch sonst - produzierten psychischen Elends zu fragen. Vermutlich ist eine der spannendsten offenen Frage in diesem Zusammenhang, ob und wie ‚Krankheit’ im Feld seelischer Gesundheit unter Einbeziehung der genannten gesellschaftsanalytischen Kritiken überhaupt zu begreifen wäre.

Stefanie Graefe ist Soziologin an der Universität Jena.

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Fußnoten:

(1)            Vgl. zum Beispiel das BKK-Projekt psychische Gesundheit, http://kurzlink.de/GID_208_d.

(2)            Vgl. DAK-Gesundheitsreport 2009, S. 55. http://kurzlink.de/GID_208_e.

(3)            Zum Plazebo-Effekt bei Antidepressiva vgl. den Text von Stefan Weinmann in diesem Heft, S. 11 f.

(4)            Vgl. Ausgabe 11/2005 der pharma-kritik: http://kurzlink.de/GID_208_g.

(5)            Vgl. http://kurzlink.de/GID_208_h.

 

(6)            Vgl. dazu etwa den 1994 in den USA erschienen Roman „Verdammte schöne Welt. Mein Leben mit der Psycho-Pille“ von Elisabeth Wurzel (“Prozac-Nation“). Während der Titel eine saftige Abrechnung mit der Pharma-Industrie suggeriert, beschreibt die Autorin in dem Buch die eindrückliche Geschichte ihrer schweren Depression, die sie unter anderem auch mittels Prozac so weit in den Griff bekommt, dass sie wieder halbwegs im Alltag klarkommt. Nüchtern resümiert sie, Prozac sei „nicht nur das Ende der alten Probleme, sondern auch der Anfang der neuen“ gewesen.

(7)            Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/M. (Campus), S.265.

(8)            Vgl. Jurk, Charlotte (2008): Der niedergeschlagene Mensch. Depression: Geschichte und gesellschaftliche Bedeutung einer Diagnose, Münster (Westfälisches Dampfboot).

(9)            Vgl. Illouz, Eva (2009): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt/M. (Suhrkamp).