Wir Depressiven

Alain Ehrenbergs Analyse des

Etwa acht Millionen Menschen in Deutschland leiden an leichten, mittelschweren oder schweren depressiven Störungen. Bei den über 65-Jährigen sind es sogar über 20 Prozent. Die Depression ist - nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen - die zweithäufigste Krankheit in westlichen Industriestaaten. Der Konsum von Antidepressiva steigt - auch außerhalb der Gruppe der als eindeutig depressiv Diagnostizierten. Eine sozialpsychologische Erklärung für die Ausbreitung der Depression wie der Antidepressiva liefert Alain Ehrenberg, dessen 1998 in Frankreich erschienenes Buch dort zum Bestseller wurde. Die sich epidemisch ausbreitenden depressiven Störungen sind, so Ehrenbergs Diagnose in Kürze, der folgerichtige Reflex auf eine Gesellschaft, die in immer größerem Maße von den Individuen fordert, ein kreatives, produktives und flexibles Selbst zu sein. Die Parole: "Machen Sie aus sich die Ich-AG!" (1) bringt die Verbindung aus Wertschätzung und Wertschöpfung des allzeit fähigen Individuums auf den Punkt. Das individuelle Selbst hat im selben Maß eine Aufwertung erfahren, wie bestimmte überkommene Normen - das allüberall zu hörende Lamento vom "Werteverlust" ist nur ein Symptom dafür - an Orientierungskraft verlieren. Die antiautoritären Revolten der 1968er finden darin einen späten und überaus ambivalenten Erfolg: "Authentische" Individualität in Zeichen eines globalisierten neoliberalen Kapitalismus basiert zu einem wesentlichen Teil auf der Fähigkeit zur Selbstvermarktung - bei Versagen droht umgekehrt sozialer Abstieg oder gar Ausschluss. Sowieso lässt sich das Selbst offenbar viel weniger leicht "verwirklichen", als es die Selbstbefreiungsdiskurse der 1970er und 1980er Jahre in Aussicht stellten. Die Folge: Das "sich selbst ähnliche Individuum", so Ehrenberg, bleibt in einem letztlich aussichtslosen Kampf stecken, ganz "es selbst" zu werden. Und wird depressiv.

Von der Neurose zur Depression

Das heutige Bild vom Subjekt unterscheidet sich, wie Ehrenberg zeigt, drastisch gegenüber Freuds Bild zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Analog dazu hat sich auch die vorherrschende Konzeption von Gesellschaft verschoben. Ehrenberg diagnostiziert eine umfassende "Dekonfliktualisierung" im Psychischen wie im Sozialen. Im Rahmen der so genannten "Disziplinargesellschaft" entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert das System der Sozialversicherung sowie die politische Repräsentation antagonistischer gesellschaftlicher Gruppen in Massenorganisationen und Parteien als wesentliche Stützpfeiler von Gesellschaft. So konnte der Klassenkampf gezähmt und Bürgerkrieg verhindert werden. Auf psychischer Ebene entspricht dem bei Freud das Bild vom Subjekt als dauernder Konflikt zwischen Selbst und Selbst, also zwischen Trieben, Wünschen, Begehren einerseits und den im Über-Ich zusammengefassten Regeln, Normen und Gesetzen andererseits. So wie der Konflikt und seine Befriedung die Gesellschaft einte, formen Gehorsam, Disziplin, Gesetz auf der einen und Verweigerung, Lust, Angst auf der anderen Seite aus psychoanalytischer Sicht die Matrix des individuellen Selbst. Geht die Spaltung zwischen dem disziplinierten und dem triebhaften Selbst jedoch zu tief, wird das Individuum "krank", genauer gesagt: neurotisch. Das Verbindungsglied zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Selbst bildet im Rahmen des konfliktiven Neurosemodells die Schuld: Die Individuen wissen intuitiv, dass sie (sofern sie nicht gehorchen) "schuldig" sind und unterwerfen sich deshalb "freiwillig" Disziplin und Autorität. Im Gegenzug "sorgt" sich um den Mensch mit seinen Konflikten ein höherstehendes Außen - in Form der gesellschaftlichen Institutionen, der Gesetze und Normen oder der patriarchalen Familie. Heute jedoch geht es, so Ehrenberg, nicht so sehr darum zu gehorchen, sondern vor allem darum, sich Herausforderungen zu stellen: "Wir stehen in einem Normgefüge, das von uns verlangt, wir selbst zu werden und uns durch unser Handeln selbst zu übertreffen." Selbstmanagement ist mithin Leitformel für das Subjekt der postdisziplinären "Kontrollgesellschaft". Das heutige Individuum fragt eher danach, was möglich ist als danach, was erlaubt ist. Nicht mehr: Habe ich das Recht, dies oder das zu tun, sondern: Bin ich in der Lage, es zu tun? Praktiken der Selbstveränderung, von selbst verordneter dauernder Weiterbildung über Fitnessprogramme bis Coaching gehören inzwischen, so Ehrenberg, zum Alltagsrepertoire des Überlebens. Doch parallel nimmt die Erfahrung der Unzulänglichkeit zu - und damit auch die Depression, die dem bundesdeutschen Ministerium für Bildung und Forschung zufolge ein Zustand der "gefühlten Gefühllosigkeit" ist, der die Betroffenen irgendwann sogar unfähig zu trauern oder zu weinen sein lässt: Depression, die "tränenlose Trauer". (2) Gleichzeitig kommt es zu einer Verschiebung der vorherrschenden Konzeption von Gesellschaft: An die Stelle der Kämpfe zwischen sozialen Gruppen tritt die individuelle Konkurrenz und die Ausbalancierung von Konflikten: Die Mediation zwischen Individuen, die allesamt sorgfältig ihr Selbst bewirtschaften, repräsentiert demnach das Idealbild einer Gesellschaft, in der der Antagonismus und damit auch der Konflikt zwischen verschiedenen sozialen Gruppen als Orientierungsrahmen ausgedient hat. Damit einher geht auch ein Paradigmenwechsel innerhalb der Psychiatrie. Orientierte sich die Psychiatrie vordem an der Gegenüberstellung Krankheit/Heilung, so geht es nunmehr um intelligentes Management von Stimmungen, Gefühlen und Störungen - und nicht um ihre Abschaffung. Dieses Management erfolgt zum Beispiel mit Hilfe der so genannten neuen Antidepressiva, die anders als ihre Vorgänger weniger Nebenwirkungen haben, passgenauer verschrieben werden, flexibler und damit bedarfsorientierter eingesetzt werden, kurz: in vielen Fällen effektiv helfen können. Die leichte Handhabbarkeit führt jedoch dazu, dass der Konsum steigt und etwa in England bei einer Einwohnerzahl von 59 Millionen jährlich 24 Millionen Rezepte für Antidepressiva ausgestellt werden (3) - das bekannteste Antidepressivum Prozac ist dort inzwischen zur Alltagsdroge geworden, die längst über den Kreis der im klinischen Sinne Depressiven hinaus zur Verbesserung von Stimmung und Leistungsfähigkeit eingeworfen wird. Die Grenze zwischen "krankem" und "gesundem" Individuum verschwimmt. Ehrenberg pointiert: "Das Individuum von heute ist weder krank noch geheilt. Es ist für unterschiedliche Wartungsprogramme angemeldet". Nicht zufällig wird die Wirkung und Verbreitung der neuen Antidepressiva gerade auch von links kritisch gesehen. Nahe liegt etwa der Einwand, die "Glückspillen" dienten vor allem dazu, Menschen leistungsfähiger und ausbeutbarer zu machen, indem sie sie auch unter inhumanen Arbeitsbedingungen zufrieden und angepasst bleiben lassen. Oder auch die Befürchtung, es finde auf dem Weg des geringsten Widerstands lediglich eine Korrektur der Wahrnehmung seelischer Probleme statt, die die tiefer liegenden Ursachen der Störungen unangetastet lasse. Ehrenberg fordert aber dazu auf, gerade diese Kritik genauer zu hinterfragen. Liegt dahinter nicht eine bestimmte, vom protestantischen Arbeitsethos gefärbte Moral, getreu dem Motto: ohne Arbeit, Mühe, Leid und Geduld kein Anspruch auf Glück? Konflikte zu vermeiden, mit möglichst wenig Aufwand nach Wohlbefinden zu streben, so Ehrenberg lakonisch, ist jedoch kein objektiv-moralisch zu kritisierendes Defizit, sondern lediglich ein Vergehen gegen ein begrenztes Ideal der Person. Und was den ersten Einwand betrifft: Der umgekehrte Nachweis, dass niedergeschlagene, gehemmte oder ängstliche Menschen besonders rebellisch wären, steht wohl noch aus.

Ohne Arbeit (k)ein Recht auf Glück?

Ehrenberg geht es nun im Gegenzug nicht darum, in das Loblied der Pharmaindustrie auf die "anything-goes"-Pillen einzusteigen, sondern darum, deren Wirkung genau zu untersuchen. Seiner Einschätzung nach helfen die neuen Antidepressiva "gut bis sehr gut" in akuten Krisensituationen, ändern aber langfristig an der Chronizität der Depression wenig, weshalb mit ihrem Erfolg zugleich die Angst vor (psychischer) Abhängigkeit steigt. Allerdings verweist er auch darauf, dass der von KritikerInnen implizit für "besser" gehaltene Weg einer "harten, aber ehrlichen Arbeit am Selbst" durch jahrelange Psychotherapie keineswegs vor Chronifizierung schützt: Oft werde die Therapie zur Endlos-Angelegenheit, in der den PatientInnen zwar interessante Einblicke in ihr Inneres gewährt werden, eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität aber ausbleibt - von "Heilung" ganz zu schweigen. Ehrenbergs Buch lohnt sich zu lesen, weil er einen wichtigen Paradigmenwechsel darstellt und zugleich Verbindungen aufzeigt zwischen sozialem und psychischem Wandel. Schade ist jedoch, dass der Bereich des sozialen Wandels vergleichsweise kurz kommt. Zwar fällt das Stichwort "Wirtschaftskriegsneurose" und es wird erwähnt, dass in den letzten Jahren Therapien vermehrt aufgrund von Entlassung, Arbeitslosigkeit oder sozialer Unsicherheit angefangen werden. Dies lediglich zu erwähnen, greift jedoch zu kurz.

Ein Rest, der sich entzieht

Inwieweit der von Ehrenberg am Beispiel psychiatrischer Subjektkonzeptionen gezeigte Paradigmenwechsel tatsächlich Effekt von veränderten sozialen Bedingungen, neuen Produktionsweisen oder konkreten ökonomischen Lagen ist, bleibt in seiner Perspektive ausgeblendet. Auch scheint Ehrenberg in gewisser Weise selbst zu tief in das "post-konfliktive" Paradigma eingetaucht und kann deshalb nicht sehen, dass die Vorstellung vom "Verschwinden des Konflikts" selbst nicht nur Indiz für einen Wandel, sondern zugleich ein spezifischer ideologischer Einsatz im Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um (politische, kulturelle, ökonomische) Hegemonie ist, der nicht zuletzt dazu dient, soziale Hierarchien zu stabilisieren und den uneingeschränkten Zugriff auf die Potenziale des "Humankapitals" der Individuen zu sichern. Aus dieser Beschränkung des analytischen Blicks resultieren durchaus auch ein paar Peinlichkeiten: So behauptet Ehrenberg etwa, staatlicher Politik gehe es nunmehr darum, kollektiv das individuelle Handeln zu "erleichtern". Gesellschaftliche Zwänge seien zurückgegangen, psychische hätten statt dessen ihren Platz eingenommen. Böse könnte man sagen, dass eine solche Diagnose mehr über die relativ privilegierte soziale Position des Autors als über irgendeine soziale Realität aussagt. Interessant wäre gewesen zu erfahren, wie sich die offensichtliche Zunahme materieller Zwänge und ökonomischer Exklusionen für eine größer werdende Zahl von Menschen zu den neuen psychischen Zwängen verhält. Ist die Depression z.B. aufgrund faktischer Perspektivlosigkeit, sozialer Ausgrenzung und Nicht-Repräsentiertsein im öffentlichen Diskurs und die Depression aufgrund mangelnder Selbsterfüllung und -erfahrung tatsächlich ein- und dasselbe Phänomen? Wo stößt das Paradigma vom "erfüllten Selbst" - wie jedes Paradigma - an Grenzen der Glaubwürdigkeit und praktischen Relevanz? Welche Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden hat es, sich der Maxime vom lebenslangen Selbstmanagement zu verweigern - und welche Formen nimmt eine solche Verweigerung an? Diese Fragen jedoch lassen sich nicht nur gegen Ehrenberg stellen, sondern zugleich an seine Arbeit anschließen - nicht zuletzt deshalb, weil er selbst am Ende davor warnt, irgendein Subjekt-Modell für allmächtig zu halten. In Bezug auf das Individuum sei bei allem Wandel stets eines konstant: ein letzter Rest der unerklärlich bleibt, ein Versagen aller psychologischen oder soziologischen Theorien, eine Leerstelle, die sich entzieht. Das Unbekannte, so Ehrenberg, verlässt den Bereich des Menschlichen nicht, sondern konstituiert ihn; es "verändert sich lediglich - nicht mehr und nicht weniger - und diese Veränderung ist es, zu deren Erhellung der Autor dieses Buches beitragen möchte." Das ist ihm zweifellos gelungen. Stefanie Graefe Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus, 305 S., EUR 24,90 Anmerkungen: 1) Zur Herkunftsgeschichte dieser Parole vgl. Christine Resch: Politik als Aufputschmittel oder: Wir machen aus Ihnen eine ICH-AG! In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, 23. Jg. (2003), H.87, S. 55-57 2) Bundesministerium für Bildung und Forschung: Es ist, als ob die Seele unwohl wäre ... Depression - Wege aus der Schwermut. Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis; www.gesundheitsforschung-bmbf.de/_media/ Depression.pdf 3) Matthias Becker: Ein Land auf Prozac. Die Wochenzeitung, 10.2.05, S. 27 ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 494/15.4.2005