Von Athen ist der zündende Funke des Widerstands nach New York an die
Wall Street und von dort zum Frankfurter Bankenzentrum übergesprungen.
Die Forderung nach Regulierung und Reformierung der Finanzarchitektur
ist unüberhörbar geworden, weil sie die Massen zu ergreifen beginnt.
Doch niemand sollte sich von Beschlüssen wie denen des Treffens von
Cannes einlullen lassen. Denn die angekündigte Kontrolle von 29
Großbanken weltweit - beispielsweise die Bonizahlungen an die Manager
oder die Auflage hoch spekulativer Fonds betreffend - sind eher
Beruhigungspillen für das Gewissen der Akteure und für das öffentliche
Gemüt. Dennoch sind es - wenn auch viel zu kleine - Schritte in die
richtige Richtung. Diesen müsste die Beendigung der Spekulation an den
Finanz- und Warenmärkten folgen und schließlich die Einführung möglichst
weltweiter Mindestlöhne einerseits und Höchsteinkommen andererseits;
denn die ungeheuren Spannungen und Konflikte im sozialen und politischen
Bereich, die schon vorhandenen und vor allem die für die Zukunft
bereits absehbaren, resultieren aus den desaströsen Ungleichgewichten in
der Welt. All dies würde immer noch nicht das System in Frage stellen,
die leistungslose Vermehrung von Finanzreichtum durch Zinsnahme,
Renditen ...
Wie unendlich weit man von einer solch echten Beseitigung der
Krisenursachen noch entfernt ist, zeigte in Cannes die strikte Weigerung
des einstigen Hoffnungsträgers Amerikas, Obama, über die Einführung
einer Finanztransaktionssteuer auch nur zu reden. Der Präsident erweist
sich damit wieder einmal als Marionette der US-amerikanischen
Hochfinanz, die mit Finanzspekulationen offenbar unsäglich verdient und
nicht ablassen will von dem Grundsatz „Geld regiert die Welt!" - allen
Geschwafels von Demokratie zum Trotz.
Zu fragen ist nach der Verantwortlichkeit der Personen, die sich in
Cannes versammelten. Hätten andere in der heute gegebenen Situation in
der Welt bessere, weiter reichende Beschlüsse fassen und dann auch
realisieren können? Wohl kaum! Gregor Gysi soll in einer Stellungnahme
vom Fehlen einer europäischen Führungspersönlichkeit gesprochen haben;
sicherlich zu Recht. Doch hätte eine solche in der Auseinandersetzung
mit Amerika, China, Russland mehr bewirken können (wenn sie denn
überhaupt „klüger" wäre)? Offenbar ist die Welt zwar objektiv überreif
für die Einrichtung einer Institution zur solidarischen
„Bewirtschaftung" der Welt im allgemeinen Interesse (als Gegensatz zum
egoistischen Kampf aller gegen alle), doch subjektiv ist sie nicht in
der Lage, mutig die notwendigen Schritte dahin zu tun. Das gilt
besonders für die hoch industrialisierten Staaten. Sie müssten
beispielgebend voran gehen nach dem Kantschen Grundsatz „Handle so, dass
die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte!". Solchem Grundsatz wird die
Politik, betrieben von wem auch immer, wohl nur - wenigstens
einigermaßen - gerecht werden können, wenn der Druck, dem sie zu folgen
hat, groß genug ist. Das ist besonders auch der Druck gelebter
Demokratie, der Straße. Bezeichnend und zukunftsweisend ist, dass sich
der Bewegung für eine Reformierung des Finanzsystems nun auch
„Fachleute" des Bankwesens anzuschließen beginnen. Doch wo bleiben die
Stimmen aus der Wissenschaft? Wo sind die wirtschaftstheoretischen
Grundlagen für neues Denken in der Praxis? Die von Karl Marx im
„Kapital" entwickelte Theorie - so richtig und wichtig sie zu seiner
Zeit auch war - reicht für die heutige Situation und ihre Bewältigung
nicht mehr aus. Sie muss entsprechend den heutigen Bedingungen in der
Welt der Wirtschaft weitergedacht werden, um zur geistigen Grundlage
nicht nur der ökonomischen Fachwelt, insbesondere des Finanzsektors,
sondern auch einer breiten Volksbewegung für ein zeitgemäßes
Wirtschaften auf unserem Planeten werden zu können.
Der Druck auf die Politik wird nicht nachlassen, solange die Krise nicht
wirklich bewältigt ist, ihre Ursachen beseitigt sind. Das Wenige, was
dazu in jüngster Zeit europaweit und international beschlossen wurde,
lässt vermuten, dass die Feuerwehreinsätze auf oberster Ebene so schnell
nicht abreißen werden. Natürlich ist Sparen dringend angesagt - doch im
Sinne eines vernünftigen Wirtschaftens, eines vernünftigen Umgangs mit
den Ressourcen unseres Planeten, auch mit denen der Gesellschaft,
insbesondere was ihr Arbeits- und Denkvermögen betrifft. Diese
Sparsamkeit hat mit dem, was derzeit alles unter dieser Bezeichnung für
Europa beschlossen wurde, nichts zu tun. Sie setzt sich auch nicht
spontan durch das Wirken der Kräfte und Gesetze des vom Egoismus
beherrschten Marktes durch, wie uns vergangene Jahrzehnte, ja ein ganzes
Jahrhundert gelehrt haben. Sie bedarf einer ziel- und zweckgerichteten,
zunehmend international orientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik -
auch unter Nutzung eines regulierten Marktes als Wirkungsfeld
persönlicher Initiative und Verantwortung sowie als Messfeld der
ökonomischen Effektivität.
So verstandene Sparsamkeit bedarf eines ökonomischen Umdenkens und der
Reformierung des Geld- und Finanzsystems mit dem Ziel, eine solche
Verteilung des erzeugten Reichtums der Gesellschaft herbeizuführen, die
zu vernünftigem Wirtschaften führt und den sozialen Frieden in Europa
und der Welt sichert. Vordringlich sind dabei Maßnahmen, welche die
leistungslose Bereicherung durch Zinsen und Renditen in all ihren
Erscheinungsformen einschränken und schließlich ganz abschaffen. Denn
der im Geld ausgedrückte Wert als Sinnbild von Reichtum ist das Produkt
von Arbeit für die Gesellschaft. Er wird durch Arbeit geschaffen,
entsteht weder aus sich selbst heraus (durch „natürliche" Vermehrung)
noch durch Verleih oder Spekulation. Die Behauptung, wir lebten in einer
Leistungsgesellschaft, ist eine große Zwecklüge. Denn in dieser
heutigen Gesellschaft sind die Privatvermögen umgekehrt proportional zu
der geleisteten Arbeit ihrer Besitzer. In Griechenland beispielsweise,
heißt es, besitzen zweitausend Familien 80 Prozent der griechischen
Vermögenswerte. Früchte ihrer Arbeit? Ihnen verordnen die EU-Oberen
keine Spar- oder Zahlungsauflagen, obwohl es doch vor allem ihr Staat
war, der sich in ihrem Interesse und zum leistungslosen Nutzen fremder
Geldgeber verschuldete. Das Volk Griechenlands wehrt sich darum gegen
die Sparauflagen der EU. Es hat die Aktion der Demokratie wieder zum
Leben erweckt. Seine Signale treffen vielerorts auf offene Ohren. Die
Proteste in aller Welt gegen die Bankenwelt zeigen es eindrucksvoll.
Auch Politiker und Banker weltweit sollten sie nicht überhören. Der
soziale Friede steht auf dem Spiel.
Buchveröffentlichungen des Autors: „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum", Projekte-Verlag, Halle 2005; „Gesellschaft im Irrgarten - Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse", Nora-Verlag, Berlin 2009