Über »Frühschicht« von Jan Ole Arps
Jan Ole Arps hat mit »Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren« den überfälligen Versuch vorgelegt, jenen Bereich der 68er-Aufbrüche, deren Vorgeschichte und Folgen historisch aufzuarbeiten, der bislang durch die Raster des Gedenkentertainments à la Guido Knopp oder »Joschka und Herr Fischer« (Pepe Danquart) gefallen ist: den Aufbruch in die Betriebe. Ein schwieriger Versuch, denn ein Großteil der Dokumente fällt unter die Rubrik »graue Literatur«, die nicht ohne Weiteres in Bibliotheken und im Buchhandel zu finden ist, sondern ein mehr oder weniger lebendiges Dasein in Kellern und Archiven der verstreuten Linken fristet. Schwierig auch deshalb, weil die Eule der Minerva ihren Flug bekanntlich erst starten kann, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist (Hegel). Da zumindest die Zeitzeugen grau geworden sind, wird es also einerseits Zeit, die Büchsen der Erkenntnis zu öffnen. Andererseits sind wir nicht nur Philosophen, sondern auch – und zum Teil immer noch – politische Zeitgenossen. Insofern, aber nicht nur deshalb ist die Frage der »Fabrikinterventionen« keineswegs, wie es bei Jan Ole Arps den Anschein hat, abgeschlossen. Die Welt der Arbeit wird nach wie vor verschieden interpretiert, und es kömmt auch immer noch darauf an, sie zu verändern. Um das Wie der Interventionen wird bekanntlich gestritten – nicht zuletzt in den laufenden Organizing-Projekten bei ver.di, IGM und anderen. Dafür möchten wir mit der in dieser und den nächsten Ausgaben erscheinenden Serie von Kommentaren zu dem Buch und mit einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Buchmesse (s.u.) ein Forum bieten. Wir laden herzlich ein zu Beiträgen und Einmischungen:
»Eines ist klar«, behauptet Jan Ole Arps, »eine Politik, die die Welt des Alltags und die Macht des Alltäglichen ignoriert, kann nicht gelingen« (9). So wendet er sich »an alle, die die Widersprüche der Arbeitswelt noch immer als politische Fragen begreifen« (12) und fragt »nach einer Verbindung von radikaler Kritik und Arbeitsalltag« (9).
Als Lehre aus der »Linken Fabrikintervention in den 70er-Jahren« – so der Untertitel seines Buches »Frühschicht« – resümiert Arps:
»Heute besteht die Frage revolutionärer Politik ... darin, ... ob und wie die heterogenen, dezentralen Kämpfe Verbindungen eingehen.« (211) Etwas später heißt es: »Wie könnten sich die Konflikte des Arbeitsalltags mit einer Perspektive verbinden, die darüber hinausweist? Geht das überhaupt?« (216) Und: »Allerdings ist das Beziehungsgeflecht, das die Voraussetzung für die mehr oder weniger alltägliche Renitenz in der Fabrik des Fordismus gefunden hat, verschwunden. (...) Die Frage ist, welche neuen Beziehungen entstanden sind und entstehen, die die Realität der Arbeit prägen, welche Möglichkeiten für Widerstand und solidarisches Verhalten sie schaffen – und was daraus für linke Organisierung folgt.« (220)
»Die Frage der Organisierung« sei auch zu diskutieren unter dem Blickwinkel: »Wie könnte man die eigenen sozialen Beziehungen zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen machen? Wo geschieht das?« (221)
Dazu einige Anmerkungen aufgrund meiner Erfahrungen aus 40 Jahre langer »politischer Intervention in der Arbeitswelt«:
I. Arps grenzt »die Widersprüche der Arbeitswelt« heute zu schnell von der Fabrikrealität der 70er-Jahre ab, wenn er erklärt, jetzt bestehe »das Problem nur noch selten in Monotonie und Fremdbestimmung, sondern in zu viel Eigenverantwortung und dem Druck zur permanenten Kreativität« (211). Kapitalistisch organisierte Arbeit bleibt »fremdbestimmt«. Und wenn er behauptet, »nach und nach traten flexible Produktionsstraßen an die Stelle des alten Fließbandes« (170), unterschätzt er die verbleibende Fließbandarbeit und die immer noch und wieder organisierte Monotonie in den Fabriken, Geschäften und Verwaltungen völlig.
II. Ebenso wird die Bedeutung der Unternehmen z.B. im Maschinenbau, im Chemie-Bereich, in der Elektronik, Autoproduktion usw. für »die Frage revolutionärer Politik heute« verkannt, auch wenn die Aussage, »die Fabriken leerten sich« (171), in vielen Fällen zumindest teilweise zutrifft. Allerdings müsste der schnell zur Erklärung herangezogene »Dienstleistungssektor« genauer daraufhin untersucht werden, welche Anteile davon direkt der Industrieproduktion angegliedert sind.
»Eine andere Welt ist möglich«, Revolution? In der »Charta der Grundsätze des Weltsozialforums« heißt es: »Die auf dem WSF vorgeschlagenen Alternativen widersetzen sich einem Prozess der Globalisierung, der von den großen multinationalen Konzernen und den ihren Interessen dienenden internationalen Institutionen, bei Komplizenschaft der nationalen Regierungen, gelenkt wird.« Und: »Das WSF ist als Ort der Debatte eine Bewegung von Ideen, die zum Nachdenken anregen, und Ort der transparenten Verbreitung der Ergebnisse dieses Nachdenkens über die Herrschaftsmechanismen und Herrschaftsinstrumente des Kapitals, über die Mittel und Aktionen des Widerstands gegen seine Herrschaft und für ihre Überwindung.« Die WSF-Parole »Eine andere Welt ist möglich« scheint hiernach die Entmachtung der »großen multinationalen Konzerne« vorauszusetzen. Eine andere Welt ist in der Tat nur vorstellbar ohne »Herrschaft des Kapitals«, das heißt auch ohne die Macht solcher Multis wie Microsoft, Deutsche Bank, Siemens, VW, Toyota, General Motors/Opel usw. Wie ist deren Macht jemals zu brechen? – das bleibt die Frage für »revolutionäre Politik«.
III. Arps kritisiert heute noch anzutreffende »blinde Passagiere aus den 70er-Jahren ...: die Vorstellung, Wahrheiten zu kennen, die die meisten Menschen und Bewegungen nicht kennen und die man ihnen deshalb beibringen muss; folglich die Vorstellung, dass politisches Handeln vor allem darin bestehe, andere (und zwar möglichst viele) von diesen Wahrheiten zu überzeugen und sie hinter den eigenen Losungen zu versammeln (...) auf der einen Seite die Aufklärer und Agitatoren, auf der anderen die Adressaten der Agitation ... und weiter gedacht auf der einen Seite die potenzielle neue politische Führung und auf der anderen Seite die zukünftige Gefolgschaft.« (216)
Erstens habe ich unsere Lehren anfangs der 70er-Jahre mal so beschrieben: »Bald wurden wir zu der bitteren Erkenntnis gezwungen: Wir können gar keine Avantgarde anbieten; wir wissen ja selbst gar nicht, wo wir hinwollen. Wir haben mit dem Begriff Sozialismus etwas angesprochen, wo wir uns eher an vergangenen Erfahrungen festhalten, ohne aber eine Antwort auf die Frage geben zu können, die mir viele Kollegen gestellt haben: ›Wir können das nicht, wir haben das gar nicht gelernt. Das, was Ihr da erzählt, dass wir die Gesellschaft, die Produktion, dass wir das alles selber machen...‹ Also: der erste Zusammenbruch unserer Ideale war eben auch die Erkenntnis und – damit verbunden bei mir – das schnelle Verlassen aller Parteiaufbauideen, dass wir mit dem Übertragen historischer Erfahrungen auf die damals von uns hochgejubelte Arbeiterklasse nicht weit kommen würden, sondern erst mal selbst sehr viel zu lernen hatten.« (Vgl. »Budenzauber – Oder: ›Behaltet die Ideen für Euch‹ – eine Diskussion mit Wolfgang Schaumberg«, veröffentlicht im express 11-12/2002)
Zweitens haben wir als Opel-Betriebsgruppe GoG nie davon abgelassen, das, was wir als »Wahrheit« zu erkennen glaubten, nämlich dass wir es mit einem zu überwindenden kapitalistischen Gesellschaftssystem zu tun haben, aufklärend unter die Leute zu bringen, gegen die »Wahrheiten«, die alle in der Schule, Ausbildung und tagtäglich in den Medien zu schlucken hatten und haben. Wir waren z.B. oft im Betriebsrat nur ein, zwei Leute, die zu den Verzichtsvereinbarungen seit den 90er-Jahren Nein gesagt haben. Doch die Be-legschaft hat das meistens mitgemacht, und wir haben trotzdem zur Debatte gestellt, ob diese Rücksichtnahme auf die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebes uns wirklich ein Stück Sicherheit für die Zukunft bringen kann. Wir haben diese Wettbewerbsfähigkeit auch nicht abgeleitet von der Profitgier der GM-Aktionäre, son-dern von den Zwängen, unter denen das Management operiert. Wir haben über »die Wahrheit« aufgeklärt, dass es keinen Zweck hat, sich gewerkschaftlich an so etwas wie Wettbewerbsfähigkeit zu orientieren. Und diese Aufklärung beinhaltete auch, dass wir unter diesen Zwängen, unter denen die andere Seite operiert, niemals glücklich werden können. Wir haben z.B. auch über Rationalisierungen unsere »Wahrheit« verbreitet: ›Rationalisierung ist doch wunderbar. Wenn da Ideen von uns kommen, wie man etwas schneller und mit weniger Leuten machen kann, dann ist das doch astrein. Dann bräuchten wir eigentlich alle weniger ar-beiten. Aber das funktioniert hier nicht.‹ Das hieß auch zu diskutieren, warum es nicht funktioniert, und die Frage zu stellen: Kann man sich denn nicht vorstellen, dass es vielleicht doch so organisiert wird unter uns, die da jeden Tag in die Fabrik rennen, mit all den anderen Leuten, die da am Wuseln sind und machen und tun, dass wir das vielleicht mal hinkriegen, ohne dass uns unsere Ideen wieder auf die Füße schlagen?
Drittens: Im Fabrikalltag fanden wir es allerdings ebenso wichtig und befriedigend, die Entdeckung der eigenen Würde, die Eigeninitiative zur Gegenwehr voranzubringen, aufrechten Gang vorzumachen und mit an-deren einzuüben. Indem wir Wut und Empörung der KollegInnen über ihren Alltagsstress auf die Notwendig-keit gemeinsamer Gegenwehr richteten, konnten wir auch Möglichkeiten der Betriebsratsarbeit nutzen, die so nicht vom Betriebsverfassungsgesetz mit seiner Doktrin friedlicher Sozialpartnerschaft gemeint sind.
Und viertens mussten wir dabei eben nicht zwangsläufig uns selber als die »neue politische Führung« und die KollegInnen als »zukünftige Gefolgschaft« anpeilen, im Gegenteil. Aufgrund der Überzeugung, dass die Konflikte des Arbeitsalltags sich nicht gleichsam automatisch »mit einer Perspektive verbinden, die darüber hinausweist«, haben wir eine ganz andere Diskussion versucht: Wie können wir die Leute in die notwendige Debatte mitnehmen, dass wir, also die große Mehrheit der Menschen, unser Zusammenleben, die Produktion und Verteilung der notwendigen und gewünschten Sachen unter eigene Regie bekommen? In der Produktion selber werden viele Erfahrungen gemacht, die wir nutzen können, um eine andere Organisation unserer gemeinsamen Arbeit zu diskutieren. Neue Arbeitsformen wie Gruppenarbeit, neue Technologien und Rationalisierungsformen sind daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie als kapitalistisch bedingte abzulehnen sind, aber auch, inwieweit sie im Widerspruch zu den Begrenzungen und Bestimmungen, denen sie unter kapitalistischen Bedingungen unterliegen, für eine ganz andere Form von Produktion und Verteilung nutzbar gemacht werden können. Am Beispiel unserer Erfahrungen in der modernen Autoproduktion, am Beispiel von Gruppenarbeit mit den regelmäßigen Versammlungen in der Arbeitszeit, der Wahlmöglichkeit von Gruppensprechern, der Devise vom »lebenslangen Lernen« etc. habe ich Schritte zu einer Vision der Aneignung der Produktion ausführlich zu erörtern versucht.[1] Ein Angriff auf die »Macht der Multis« muss auch von innen heraus entwickelt werden, von den Beschäftigten. Ihr Bewusstsein davon, ihre Produktions- und Lebenserfahrungen anders einsetzen zu wollen und zu können, wäre dabei eine wichtige Voraussetzung.
Die Frage nach einer »revolutionären Politik heute« kann jedenfalls nicht auf die Frage nach »Möglichkeiten für Widerstand und solidarisches Verhalten« und nach »linker Organisierung« beschränkt werden.
* Wolfgang Schaumberg, von 1970 bis 2000 bei Opel Bochum und bis heute aktiv in der betrieblichen Opposition.
erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8-9/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express
[1] Siehe www.labournet.de und die Broschüre: »Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkreten Vision... Zur Aufgabe von postkapitalistisch orientierten Linken am Beispiel des Kampfes in Auto-Multis«, Ränkeschmiede, Nr. 16, Juni 2006. Zu beziehen über die Redaktion des express.