In Kurdistan besteht es ein dichtes Netz autoritärer Strukturen
Es heißt, dass der Arabische Frühling ab Dezember 2010 einen antiautoritären Impuls in die arabische Welt eingebracht hätte, der aber vielerorts autoritär gekontert wurde. Das hat etwa für Syrien einige Plausibilität. Doch der Autoritarismus in den kurdischen Gebieten hat mit dem Arabischen Frühling und der Konterrevolution in den betroffenen Staaten nur indirekt zu tun. Die politische Kultur Kurdistans weist einige Eigenheiten gegenüber anderen Regionen im Nahen Osten auf.
Zunächst ist die kurdische Gesellschaft bis heute stark von tribalen Strukturen geprägt. Diese haben strukturell eine autoritäre Schlagseite. Am deutlichsten ist das sicher in Irakisch-Kurdistan zu sehen, wo Stämme das politische und gesellschaftliche Leben bis heute am stärksten prägen. Allerdings sind diese auch in den iranischen, syrischen und türkischen Teilen Kurdistans nie verschwunden. Tribale Zugehörigkeit spielt auch in der Türkei eine Rolle, wenn es etwa um die Bewaffnung von ‚Dorfschützern‘ durch die türkische Regierung gegen die kurdische PKK geht. Oder wenn kurdische politische Parteien traditionelle Stammesführer für wichtige Positionen nominieren, wie das etwa die HDP im Falle Ahmet Türk getan hat. Diese bringen eben nicht nur sich selbst, sondern auch die traditionelle Gefolgschaft ihrer Familie ein.
Stämme und Familien
Die wichtige Rolle, die tribale und religiöse Führer – Führerinnen gibt es nicht – aus den beiden Sufi-Orden der Naqshibandiya (iz3w 372) und der Qadiriya für die Entwicklung des kurdischen Nationalismus spielten, wirkt besonders im Irak bis heute fort. Beide großen Parteien, die jeweils einen Teil Irakisch-Kurdistans kontrollieren, die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) wie auch die Patriotische Union Kurdistans (PUK), wurden von Familien gegründet und geführt. Beide Familien hatten schon zuvor eine wichtige Rolle in den Sufi-Orden gespielt: die Barzanis als Naqshibandi-Sheikhs (heute in der PDK) und die Talabanis als Qadiri-Sheikhs (heute in der PUK). Aber auch andere Sufi-Gemeinschaften, wie die Naqshibandi-Abspaltung der Haqqa, die dann die PUK unterstützten und mit Ali Askari einen wichtigen Gründer der PUK stellten, spielten eine wichtige Rolle.
Die autoritäre, auf die Person des Sheikhs hin ausgerichtete Struktur dieser Sufi-Gemeinschaften wurde teilweise in die Parteien übertragen. Die Parteien waren gewissermaßen die modernisierte Version der politischen Einflussnahme dieser Gemeinschaften. Die Führungsfamilien sind dabei unantastbar und geben die Führung innerhalb der Familie weiter. Innerparteiliche Konflikte werden so allenfalls als Familienkonflikt ausgetragen, etwa zwischen den beiden Cousins Lahur und Bafel Talabani innerhalb der PUK oder in der PDK zwischen den beiden Cousins Nechirvan und Masrour Barzani. Aber die grundsätzliche Vorherrschaft der jeweiligen Familien kann nicht in Frage gestellt werden.
Die Abwesenheit eines funktionierenden Staates mit formalen Strukturen, die tatsächlich Trägerinnen politischer Macht wären, hat diese Tendenz in den letzten 30 Jahren in Irakisch-Kurdistan noch deutlicher sichtbar gemacht als in anderen Teilen Kurdistans. Irakisch-Kurdistan, das durch Parteiübereinkommen regiert wird und in dem das Parlament schon seit seiner Gründung in den 1990er-Jahren nicht das wirkliche Machtzentrum ist, wird über die Parteien de facto durch Abkommen zwischen Familien regiert: Familienbündnisse innerhalb der Parteien und die informellen Aushandlungsprozesse zwischen diesen zwei familiendominierten Parteien geben den Ausschlag.
Abgeschwächt ist dies auch bei kurdischen Parteien in anderen Teilen Kurdistans zu beobachten. So wird etwa die 1991 in Iranisch-Kurdistan gegründete Freiheitspartei Kurdistans (PAK) von der Familie Yazdanpanah dominiert. Gegründet von Said Yazdanpanah, der aus den linken Volksfedajin stammte, wurde die Partei nach dessen Tod von seinem Bruder Hussein übernommen. Und selbst in der sozialistischen PKK spielte bis zu deren Zerwürfnis 1995 und erneut nach der Festnahme ihres Vorsitzenden Abdullah Öcalan dessen Bruder Osman Öcalan bis 2004 eine wichtige Rolle.
Brüche und Kontinuitäten
Familien und Stämme sind allerdings keineswegs die einzige Ursache für eine autoritäre politische Kultur. In allen Teilen Kurdistans waren Kurd*innen über das 20. Jahrhundert mit autoritären Systemen konfrontiert. Diese Autoritarismen sind auch in den Gebieten, in denen kurdische Parteien 1991 im Irak und 2012 in Syrien die Herrschaft übernahmen, nicht spurlos verschwunden. Vielmehr zeigt sich eine überraschende Kontinuität in verschiedenen Aspekten der politischen Kultur. Bilder von Führern wurden zwar ersetzt. Allerdings prangen seit über drei Jahrzehnten im Irak statt den Bildern von Saddam Hussein nun Masoud und Mulla Mustafa Barzani oder Jalal Talabani an den Wänden. In Rojava ist statt Assad nun Öcalan allgegenwärtig. Egal ob es sich um die grüne (PUK) oder gelbe (PDK) Zone im Irak oder die Autonome Administration Nord- und Ostsyriens handelt: Kritik hat zwar einen gewissen Spielraum, aber wenn es um die sakrosankten Führer (Serok) geht, hört der Spaß auf.
Von der Beamtenmentalität bis hin zur Schulpädagogik wirkt das Erbe der autoritären Systeme der arabisch-nationalistischen Baath-Parteien nach: sowohl in Syrien als auch im Irak. Teilweise ist dies sogar in direkten personellen Kontinuitäten zu sehen. Einige der wichtigsten Geschäftsleute Irakisch-Kurdistans sind ehemalige kurdische Kollaborateure, die ihren Gewinn aus dem Regime der Baath-Partei nach 1991 für ihren weiteren Aufstieg im Business-Bereich nutzten. Den Parteien blieb teilweise gar nichts anderes übrig, als viele alte Funktionäre und militärische Kollaborateure wieder in das neue System zu integrieren. Erleichtert wurde dieser Prozess dadurch, dass viele der so genannten Jahsh, der kurdischen Hilfstruppen Saddam Husseins, 1991 die Seiten wechselten und eine wichtige Rolle bei der Befreiung der kurdischen Gebiete spielten. Auch wenn 1991 im Irak und 2012 in Syrien ein revolutionärer Bruch stattfand, bedeutet das eben nicht, dass es gleichzeitig nicht auch ein Fortleben bestehender autoritärer Strukturen gab.
Neue Generation – Neue Autoritäten
Das langsame Ende der alten Führungsgarde in Irakisch-Kurdistan, die noch im militärischen Kampf gegen das irakische Baath-Regime Saddam Husseins ihre Meriten erlangte, hat eher den vorhandenen Autoritarismus verstärkt. Die neue Generation muss erst ihre Positionen stabilisieren und kann dies mangels möglicher Heldentaten gegen ein autoritäres Regime nur mittels Repression. Zudem ist in den PDK-beherrschten Teilen Irakisch-Kurdistans mit Masrour Barzani der langjährige Chef des Sicherheitsrates der Regionalregierung Kurdistans an die Stelle des langjährigen Parteiführers Masoud Barzani getreten. Als Chef des Sicherheitsrates war er für sämtliche Geheimdienste und Sicherheitsbehörden zuständig, die von der PDK kontrolliert werden. Entsprechend sind auch seine politischen Ansichten keine gute Voraussetzung für eine Demokratisierung.
Befördert werden autoritäre Ansätze durch die terroristische Gefahr. Mit dem Sicherheitsargument lassen sich auch in Irakisch-Kurdistan Überwachungsmaßnahmen leicht begründen. Kaum eine Stadt ist ähnlich flächendeckend mit Überwachungskameras ausgestattet, wie die irakisch-kurdische Hauptstadt Erbil. Nach dem tödlichen Anschlag auf Hawkar Abdullah Rasoul, einen ehemaligen hochrangigen Kommandanten der Anti-Terror-Einheiten der PUK, der als Angehöriger des 2021 unterlegenen Lahur-Flügels der PUK in Ungnade gefallen war und sich von der PUK-Zone nach Erbil abgesetzt hatte, konnten die Polizeikräfte der PDK den Hergang des Anschlags auf sein Auto fast vollständig durch die Auswertung von Überwachungskameras rekonstruieren. Nur einen Tag nach dem Anschlag im Oktober 2022 veröffentlichten die Polizeikräfte der PDK ein Video in dem sie, unterlegt mit dramatischer Musik, die PUK der Urheberschaft für den Anschlag beschuldigten. Auf dem Video war der gesamte Anschlag aus verschiedenen Perspektiven zu sehen.
Weder im irakischen, noch im syrischen Teil Kurdistans ist es bislang gelungen verbindliche politische und Sicherheitsstrukturen aufzubauen, die unabhängig von den jeweiligen Parteien funktionieren. De facto sind alle bewaffneten Einheiten jeweils einer kurdischen Partei zuzuordnen, es sind also Parteimilizen. Damit tragen politische Konflikte zwischen den Parteien aber auch innerhalb der Parteien, wie zuletzt innerhalb der PUK, immer das Potential einer militärischen Eskalation in sich. Die Angst vor einem erneuten Bürgerkrieg wie in den 1990er-Jahren wirkt dabei systemstabilisierend und befördert die Festigung autoritärer Strukturen.