Ein notwendiges Projekt der Linken
»Der Regen fällt nicht mehr zurück
nach oben. Schmerzt die Wunde nicht,
so kanns die Narbe sein.«
(frei nach B.B.)
Eurobonds und Transaktionssteuer, Rekordzinsen und Flucht ins Gold, die Teilhabe von Banken und Spekulanten an den Kosten der Finanz- und Schuldenkrisen, die Rolle und Zukunft der Europäischen Zentralbank und damit auch der Deutschen Bundesbank waren öffentliche und parteipolitische Diskussionspunkte in den letzten Wochen. Jetzt gehts um mehr, um Insolvenzen und Bankrotte von Staaten. Soll Griechenland raus aus dem Eurosystem oder gar aus der EU, eigenmächtig oder verstoßen? Gibts noch Gelder aus den Rettungsschirmen, für wen unter welchen Bedingungen? Wer stellt die Bedingungen, wer formuliert Strafen und Sanktionen bei Verstößen? Sollen die ›Schwächlinge‹ unter Europas Nationalstaaten an deutschen Wesen – wie der Schuldenbremse, Produktivität, Konkurrenzfähigkeit – genesen? Soll Europa eine Fiskalunion werden? Bedarf es eines EU-Finanzministers, einer EU-Wirtschaftsregierung? Was wird aus den Nationalstaaten, deren Parlamenten und Regierungen? Soll die EU zu Vereinigten Staaten von Europa werden? Wäre nicht ein »Kern-Europa«, komponiert aus wirtschaftsmächtigen Nationalstaaten, ein Zukunftsmodell für den Konkurrenzkampf zwischen Staaten und Kontinenten? Soll all dies als außergewöhnliches, aber dazugehörendes Geschäft den sog. politischen, wirtschaftlichen und publizistischen Eliten überlassen bleiben? Oder sollen die Völker, die (Wahl-)BürgerInnen und Zivilgesellschaften, die alten und neuen sozialen Bewegungen Europas mit- oder gar selbstbestimmen?
Eine nationalpopulistische Debatte
Die derzeitigen Diskussionen sind oft unverständlich, politisch unangenehm, aber notwendig. Sie reizen zum Widerspruch, einige provozieren Ekelgefühle und mehr. Was wollen die Nationalpopulisten in FDP, CSU und CDU? Wer und was bewegt bzw. bestimmt politisches Spitzenpersonal in Deutschland wie FDP-Rösler, CSU-Seehofer, CDU-Bosbach und ihren parteiischen und publizistischen Anhang! Der Gedanke von einem weiteren Ausbau des geeinten Europa, selbst in den derzeit noch bescheidenen, aber gegenüber den 1980er-Jahren beträchtlich veränderten politischen, juristischen und menschlichen Bedingungen kann es nicht sein. Auch die Vermutung eines Verzweiflungskampfes der FDP um ihre fünf Prozent dürfte als Erklärung nicht reichen. Und wie FDP-Rösler als Wirtschaftsminister in einem Zeitungsbeitrag dazu beigetragen hat, Griechenland aus der EU bzw. dem Eurosystem zu mobben, kann nicht allein auf seinem Mist gewachsen sein. Nicht nur, weil er seinen Beitrag kaum selber geschrieben, sondern wohl nur unterschrieben haben dürfte. Wer also hat diese nationalpopulistische Feder geführt? Die FDP-Zentrale, das neoliberale Wirtschaftsministerium? In wessen ökonomischem und politischem Interesse?
Die durch die EU-Gründung für das deutsche Kapital deutlich erweiterten Verwertungs- und verbesserten Konkurrenzbedingungen würden durch die Realisierung solcher Positionen verschlechtert. Die aktuellen Träume, ein Zurück zur ›harten DM‹ sei die Lösung, kann man bei verunsicherten, sog. einfachen Menschen verstehen (s. Bert Brecht). Bei den o.g. Eliten ist das Gerede davon reaktionär wie ehedem. Auch die Rücktritte deutscher Zentralbänker wie Stark und Weber lassen sich so bewerten: Sie erlebten in der EZB, wie die monetaristischen und neoliberalen Prinzipien der deutschen Bundesbank angesichts der ökonomischen und politischen Bedingungen in anderen EU-Ländern trotz der europäischen Verträge nicht durchzusetzen waren. Diese Be- bzw. Verhinderung potenzieller deutscher Euro-Imperialisten sollte als Ermunterung für die Auseinandersetzungen über die Gestaltung der EU gesehen werden.
Mit diesem Scheitern ist noch wenig passiert. Die »Wettbewerbsfähigkeit der Staaten« herzustellen ist noch immer ein bedeutsamer Impuls für jegliche Politik der EU und in den EU-Staaten. Angesichts der sog. Schuldenkrisen und der verordneten Arzneien sind die Bedeutung und die Folgen von »Wettbewerbsfähigkeiten« in der politischen Öffentlichkeit verstärkt zu diskutieren. Dies erfordert auch Diskussionen in den Gewerkschaften, vor allem den deutschen. »Wettbewerbsfähigkeit« und »Standortkonkurrenz« sind Zwillinge. Die in Deutschland erlebbaren »Wettbewerbsfähigkeiten« auf alle EU-Länder auszuweiten, bedeutet eine permanent funktionierende Spirale von »Vernichtungswettbewerben«. Konkurrenzen auszutragen kann Fortschritt bedeuten, aber auch Zerstörung und Vernichtung.
Sichtbar wird dies angesichts der Schuldenkrise an der verordneten Arznei. Griechenland und Italien sollen u.a. den öffentlichen Dienst »verschlanken«, Renten und Pensionen, Löhne und Gehälter kürzen, das Renteneintrittsalter erhöhen, staatliches Eigentum privatisieren. Mal sehen, wann diesen »Schuldenstaaten« die deutschen Erfahrungen mit der Treuhandanstalt bei der Privatisierung des staatlichen DDR-Vermögens empfohlen werden. Vielleicht müssen in Griechenland die Kataloge mit den zur Privatisierung angebotenen, bislang im Staatsbesitz befindlichen Objekten wie Inseln, Häfen, Unternehmen, Akropolis etc. schon gedruckt werden. Das hierzulande zu erlebende politische Handeln und die veröffentlichten Wortschöpfungen sollen wohl die Zustimmungsbereitschaft in Deutschland auf chauvinistische Art fördern. Warum Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien als PIIGS-Staaten bezeichnen! Wer denkt da nicht an Pigs = Schweine? Und der Gedankensprung von »Schuldenstaaten« zu »Schurkenstaaten« ist auch nicht allzu weit.
Die verordneten Arzneien und ihre Wirkungen bedeuten weitere Siege des Neoliberalismus und seiner Profiteure. Die Staaten werden »verschlankt« durch die Privatisierungen. Dies sind nichts anderes als Enteignungen der Gesellschaften und Menschen sowie gigantische Umverteilungen der Vermögen und daraus zu erzielender Renditen. Die horrenden Kreditzinsen und Schulden bedeuten für diese Staaten, ihre demokratisch gewählten Parlamente und Regierungen auf Jahrzehnte eine Enteignung und Privatisierung der Steuereinnahmen zu Gunsten des kreditgebenden Finanzkapitals.
Die Verfasstheit der EU – eine überfällige Debatte!
Wer die neoliberalen Enteignungen der verschuldeten Staaten und ihrer Gesellschaften verhindern, mindestens jedoch behindern will, muss den europaweiten Widerstand gegen diese Formen des Neoliberalismus ermöglichen. Dazu gehört auch, sich massiv in die Diskussionen um die EU-Strukturen einzumischen und den Widerstand in die momentanen EU-Strukturen zu kanalisieren.
Es kann nicht genügen, die Streiks in Griechenland und Italien, die Proteste und Aktionen in Spanien gut zu finden und mangels anderer Gelegenheit nur verbal zu unterstützen. Es kann auch nicht genügen, die tagtäglich erlebbaren Demokratiedefizite zu kritisieren. Natürlich ist diese Kritik notwendig! Es kann für Demokraten nicht angehen, dass die Regierungschefs der EU-Länder bzw. deren Finanzminister unter Mitbestimmung der Europäischen Zentralbank die Entwicklung Europas fast allein bestimmen, wobei die nationalen Parlamente nur noch eine untergeordnete Rolle spielen können. Das diesbezügliche Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bietet keine Perspektiven zur Weiterentwicklung, sondern versucht, das aktuelle Regierungshandeln nationalstaatlich mit den Rechten des Parlaments in Verbindung zu bringen. Auch bei Beachtung der Vorgaben des BVerfG können Merkel und Sarkozy weiterhin ihre Absichten verabreden, wobei andere, die am Finanztropf hängen, wie bisher folgen müssen. Zudem werden die begrenzten und ungenügenden Rechte des EU-Parlamentes bei jeder neuen finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahme immer wieder offenkundig.
Es widerspricht der Demokratie, wenn die Politik auf allen Ebenen nur reagiert. Die Reaktion beschränkt sich auf notwendige Einzelmaßnahmen, für die es angeblich »keine Alternativen gibt«. Diese Reaktionen werden von der Ökonomie und ihren Märkten erzwungen, so die seit Jahren wiederholte und zutreffende Einsicht. Vom viel beschworenen Primat der Politik und daraus resultierenden strukturell wirkenden Konsequenzen ist dementsprechend nicht viel sichtbar. Die Regierungschefs funktionieren, viele Abgeordnete beklagen sich über ihre Bedeutungslosigkeit, die (Wahl-)BürgerInnen sitzen auf den Tribünen und gucken grummelnd zu. In Athen, Madrid und Rom streiken die Arbeitenden, die StudentInnen und RentnerInnen protestieren. Aber gegen wen? Gegen die Politik? Die Märkte? Die Spekulanten? Die Ratingagenturen? Gegen anonyme Mächte, und bei den kommenden Wahlen werden dann Konservative in die Regierungen gewählt, während gegen ihre WählerInnen regierende Sozialdemokraten in die Opposition gehen. Sind dies die einzigen Alternativen? Sollen dies die Perspektiven für eine Demokratie im 21. Jahrhundert bleiben? Erfordert und gestaltet von irgendwelchen ›anonymen‹, aber durch Handeln vermenschlichten Märkten, die nun mal schnelles Handeln gebieten, während Demokratie ja zu viel Zeit erfordert.
Wie wäre es denn, die Macht der Märkte und des Finanzkapitals zu beschneiden, die Entmachtung der fast alleinherrschenden Regierungschefs und Finanzminister durch die Schaffung und Stärkung der Rechte der WählerInnen und Parlamente zu betreiben?
Die Rolle der Linken
Kritik alleine genügt nicht. Sie ist berechtigt und notwendig, aber noch keine Perspektive. Die augenblickliche Verfasstheit der EU ist hinlänglich von den Linken kritisiert. Angesichts der Krisen sind Visionen und Ideen erforderlich. Dies bedingt Diskussionen und Debatten in allen Teilen der Linken. Die kapitalorientierten Konservativen und Rechten können mit dem aktuellen Europa trotz Differenzen in FDP, CSU und CDU gut weitermachen. Sie dürfen dabei nur den einheitlichen Wirtschaftsraum Europa nicht gefährden, mahnen ihre Altvorderen Kohl und Genscher. Den sog. »Mosaik-Linken« (SPD, Grüne, »Die Linke«, auch die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen)[1] kann ein weiteres kritisches Rumdoktern und Kritisieren der konservativen Regierungen nicht genügen.
Es sollte um das Verständigen auf einen zunächst auf Europa bezogenen, zeitgemäßen Internationalismus gehen. Wie wenig politisch wirksam das verbale Versichern von Solidarität ist, ist bekannt. Vor allem, wenn es in den hergebrachten Strukturen erfolgt. Dazu gehören die heutigen Nationalstaaten und die nationalen Gewerkschaften. Die Konservativen und Rechten verteidigen die Nationalstaaten. Wohl nicht so sehr, weil diese allen BürgerInnen demokratische Rechte, relative soziale Sicherheiten und Schutz vor dem großen Unbekannten, vielleicht Bösen geben, sondern eher weil sie selbst in und durch diese Nationalstaaten gestärkt werden. Die EU als Bündel von Nationalstaaten mit geöffneten (Wirtschafts-)Grenzen erlaubt es, Geschäfte und Gewinne zu machen. In einer Notsituation – wie der, in der die FDP gerade steckt – kann da mit Nationalismen, Vorurteilen, Verlustängsten konservative Politik und Wählerfang betrieben werden. Ist es denn ein Zufall, dass gerade jetzt durchgesickert ist, dass die Bundesregierung ein Renteneintrittsalter von 69 Jahren prüfen lässt, mit der Begründung, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise die Risiken für die dauerhafte Solidität der deutschen Staatsfinanzen zuletzt (!) spürbar erhöht habe? (FTD, 12. September 2011) Wir sollen kapieren: Wir müssen für die Griechen usw. noch länger arbeiten – und was machen die!
Eine Antwort der Mosaik-Linken sollte eine öffentlich kommunizierte Abkehr vom nationalstaatlichen Denken, die Benennung der – durchaus vorhandenen – Ansatzpunkte zur Überwindung des Nationalstaats und die Vorstellung eines gemeinsamen, neuen Staats Europa sein.
Dabei gilt es, Verlustängste bei den BürgerInnen ernst zu nehmen. Perspektive sollte nicht eine angesichts der globalen Ökonomien kaum noch nationalstaatlich zu realisierende soziale und gerechte Gesellschaft alten Stils sein. Es geht um soziale und demokratische Vereinigte Staaten von Europa! Mit klaren Rechten für die BürgerInnen – auch auf kulturelle Eigenheiten und sozialstaatliche Errungenschaften. Die dazu erforderlichen, jahrelangen Transformationsprozesse ermöglichen und erfordern die aktive Beteiligung der Demokraten mit ihren zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften, Parteien und sozialen Bewegungen. Unter den heutigen Bedingungen werden die Krisenlasten in den Nationalstaaten verteilt. Die Widerstände finden dort isoliert statt. Dies stärkt die Konservativen und Kapitalbesitzer. In den Vereinigten Staaten von Europa könnte dabei vereint über die heutigen Grenzen hinweg auch über die (Um-)Verteilung des Reichtums und des Wohlstandes, der Einkommen und Vermögen in ganz Europa gestritten werden.
»Vertiefung« – durch wen und wie?
Die Mosaik-Linke muss offensiv vertreten, dass über die Finanzkrisen und den Umgang damit ohnehin bereits ein neues, staatsähnliches Gebilde in Europa entsteht, das in vielen Bereichen zunehmend den Nationalstaat verändert bzw. aushöhlt. Ohne unser aktives und gefragtes Mittun! Dieses Staatsgebilde voller Demokratiedefizite wird von der kapitalistischen Ökonomie erzwungen. Uns bleibt sinnvollerweise wohl nur übrig, den europäischen Stier und seine Ökonomie bei den Hörnern zu packen und ihn zu reiten! Im 19. Jahrhundert haben dies unsere Uromas und Uropas getan, als sie versucht haben, die Kleinstaaterei zu überwinden. 1871 haben die damals Herrschenden dagegen dann ihre Vorstellung von Deutschland realisiert. Das von den Demokraten und Linken gewollte, demokratische Deutschland konnte erst 1918/19 durch die Novemberrevolution für eine kurze Zeit durchgesetzt werden. Die Demokratisierungsprozesse nach dem Faschismus und Naziterror dauern gerade mal ca. 60 Jahre. Mit dem erfolgreichen Kampf für die Vereinigten Staaten von Europa sollten wir uns nicht soviel Zeit lassen.
Zu diesem Kampf gehört auch das Entrümpeln und Überprüfen der Parteiprogramme und -entwürfe. Die von SPD und Die Linke basieren auf rein nationalstaatlichen Überlegungen. So sehr, dass die darin enthaltenen Forderungen und Aussagen für ein demokratisches, friedvolles und soziales Europa angesichts der Entwicklungen in Europa vor allem anachronistisch wirken. Kein Gedanke darüber, dass die kapitalistische Ökonomie auch einen neuen linken Internationalismus erfordert. Wer Europa den reaktionären Populisten überlassen oder sich gar auf deren Melodie einlassen will, der kann sich auf Kritik beschränken und braucht dann auch keine Idee bzw. Utopie, denn er hat ja Recht. Die Linke muss mehr sein als eine gutgemeinte Antwort auf und gegen die Rechts- und Nationalpopulisten. Vielleicht tritt die Propagierung von Vereinigten Staaten von Europa durch den DGB-Vorsitzenden Sommer die überfälligen Diskussionen dazu in den Gewerkschaften los. Mal sehen, was Kollege Sommer dazu auf dem gerade stattfindenden ver.di-Bundeskongress in Leipzig sagt. Auch für die Gewerkschaften gilt »Die Hoffnung stirbt zuletzt«.
erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8-9/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express
[1] Siehe Hans-Jürgen Urban: »Die Mosaik-Linke«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2009, S.71-78