who the fuck is mehrheitsgesellschaft?

Thesen der Redaktion zu Inklusion und Migration

1. Zurück zu politischen Begriffen!

Alle Menschen sind unterschiedlich, aber normativ gleich. Diese humanistische Grundannahme formal wie materiell durchzusetzen ist Aufgaben der Linken. Ein linker Antirassismus akzeptiert also keine ungleichen Rechte von Menschen, er akzeptiert aber auch keine ungleichen faktischen Möglichkeiten, diese Rechte wahrzunehmen. Nationalstaatlichkeit schafft erst die Unterscheidung zwischen „uns“ Deutschen und „ihnen“, also jenen, die nicht über einen entsprechenden deutschen Schäferhundsstammbaum verfügen und entweder stupid als „Ausländer“, liberal als „Zuwanderer“, ganz politisch korrekt wiederum als „Menschen mit Migrationshintergrund“ bezeichnet werden. Alle diese Bezeichnungen können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei nicht um eine natürliche, sondern um eine gesellschaftlich gesetzte, also politische Zuweisung handelt. Deshalb ist auch der Begriff der Mehrheitsgesellschaft abzulehnen, der fällt, sobald man über Rassismus spricht. Denn dieser ist bereits ein Kampfbegriff, der eben keine politischen Mehrheiten meint, sondern eine Dominanzkultur. Ob es diese wiederum so deutsch und homogen gibt, wie behauptet, ist zu bezweifeln. Die gesellschaftliche Realität in Deutschland und Europa – vor allem in den Städten – ist längst nicht monokulturell, wie sie vielleicht in den „seeligen“ Zeiten des Fordismus war. Die postfordistische Gesellschaft besteht vor allem als mehr oder minder lose miteinander verknüpfte „Parallelgesellschaften”. Das neuköllner MigrantInnen-Milieu unterscheidet sich genauso vom linksalternativ-kreativ-biodeutschen Milieu der Weserstraße (ebenfalls in Neukölln), wie diese sich wiederum von der ländlichen Bevölkerung Niedersachsens oder der Münchener High-Society unterscheiden. Es gibt in dieser Gesellschaft also viele Gesellschaften, die parallel existieren und in der Summe dennoch eine Gesellschaft bilden.

2. Migration keine Frage von „Fluchtursachen“

Die MigrantInnenabwehr an den EU-Außengrenzen unter FRONTEX wird – trotz gigantischen Ressourcenaufwandes und Schaffung barbarischer Zustände – nicht verhindern können, dass Migration stattfindet oder ein von der „1. Welt“ erwünschtes Maß nicht übersteigt. Denn Migration ist nicht funktionale Folge, sondern eigensinnige Praxis und genau deswegen nicht steuerbar. Hinter individuellen Migrationsstrategien stehen vielfältigste Projekte und Motivationen. Gleichzeitig sind ganze Wirtschaftszweige, etwa der Pflegebereich oder die Landwirtschaft, von so illegalisierter Migration abhängig. Eine staatliche Planung und Einschränkung der Migration über Quoten und Kontingente führt also nur bedingt zu einer Beschränkung der Migration, sondern zu ihrer Illegalisierung. Deshalb sind linke Positionen, die der Migration mit globaler Sozialpolitik längerfristig durch Bekämpfung so genannter „Fluchtursachen“ begegnen wollen, illusorisch. Viel mehr muss die Linke laut „Ja“ zur Migration sagen, weil sie die damit verbundenen Emanzipationsansprüche und den Wunsch nach einem besseren Leben ernst nimmt. Wie dieses zu erreichen ist, ob durch Migration oder andere Strategien, entscheiden die Leute sowieso selbst, nicht die Migrationssteuermänner und -frauen in den Ministerien.

3. Gegen Integration, für Inklusion!

Wir setzen uns für das Recht aller Menschen ein, sich an jedem Ort der Welt niederzulassen. Doch linke antirassistische Politik kann nicht dabei stehenbleiben, Migration zu ermöglichen und dann jene ihrem Schicksal zu überlassen. Aus ihrer Anwesenheit müssen für die hier Lebenden Rechte auf demokratische und soziale Teilhabe erwachsen. Integration umfasst dies gerade nicht. Integration meint die Anpassung einer erklärten Minderheit an die kulturellen Gepflogenheiten einer sich als solche erklärenden Mehrheit. Wir setzen den Begriff der Inklusion entgegen. Er meint aber die gleichberechtigte Einbezogenheit aller Individuen in die Gesellschaft. Hiernach ist es nicht die Frage, wie sich ein_e Migrant_in ändern muss, um gleichberechtigten Zugang zur Gesellschaft zu erhalten. Gefragt werden muss stattdessen: Wie müssen sich die gesellschaftlichen Institutionen verändern, um gleichberechtigten Zugang zu gewährleisten. Inklusion muss mehr sein als das Recht darauf, ungestört nebeneinander her zu leben. Identitätsbezogene Konzepte müssen kritisch hinterfragt werden, die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen deutlich werden. Sie zielt auf Weiterentwicklung und Veränderung aller. Statt herrschender „Integrationspolitik“ setzen wir damit auf die Methode des aufgeklärten demokratischen Republikanismus.

4. Für kompromisslose Teilhabe …

Aus dem demokratischen Republikanismus folgt auch die Ablehnung von sozialen, demokratischen Sonderrechten für bestimmte Bevölkerungsgruppen: Gesetze dürfen an die Herkunft und die Staatsangehörigkeit keine ausschließenden Rechtsfolgen knüpfen. Praktisch bedeutet das den sofortigen Zugang aller hier lebenden Menschen zu den sozialen Sicherungssystemen, zum Arbeitsmarkt, zum Wahlrecht auf allen Ebenen, zu Räumen des Staates, sei es öffentlicher Dienst, sei es Bildung in KiTa oder Schule und auf angemessene Repräsentation in den Medien. Solange eine angemessene Repräsentation und Teilhabe nicht „automatisch“ sichergestellt ist, sondern sich reproduzierende faktische Ausschlüsse ergeben, erfordert der demokratische Republikanismus eine staatliche „Affirmative-Action“-Politik: Menschen mit Migrationshintergrund müssen solange – durch Quotierungen oder andere materielle Ausgleichsmaßnahmen – faktisch bevorzugt werden, um ihre bestehende Benachteiligung auszugleichen, bis diese reproduzierenden Ausschlüsse nicht mehr wirken (können).

5. …und Laizismus

Aus dem demokratischen Republikanismus folgt zudem eine säkulare Normorientierung auf die Demokratie und die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Linke antirassistische Politik verweigert kulturelle Relativierungen bei politischen Praxen, etwa mit dem Verweis darauf, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen „eine andere Kultur“ hätten oder „noch nicht so weit“ seien. Diese Relativierungen schaffen Sonderrechte und untergraben auf Dauer die Gleichheit der Bürger_innen untereinander und damit die Methode nichtrassistischen Zusammenlebens. Teile der Linken reagieren jedoch auf die zunehmende Islamophobie mit einer besonders emphatischen Bezugnahme auf islamische Organisationen. Wir meinen, jegliche negative Zuschreibung einer Menschengruppe, jegliche Diskriminierung eine Person ist konsequent zurückzuweisen. Die Antwort auf Islamophobie kann jedoch nicht in einer antithetischen Fesselung – namentlich der Islamophilie – bestehen. Unsere Antwort lautet: Konsequenter Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion. Der Laizismus erteilt allen Anhänger_innen der Integrationsforderung, die auf eine christlich-abendländische Leitkultur hin fabulieren, eine deutliche Absage sowie den religiösen Organisationen, die für ihre jeweilige Religion die Vorherrschaft beanspruchen. Der Ort des politisch Gemeinsamen darf also allein die Demokratie, nicht jedoch die Kultur, auch nicht eine (oder mehrere) Religionen sein. Jegliche religiösen Bezugnahmen, Symbolverweise, Feiertage, Unterrichtungen durch den Staat sind abzulehnen, weil sie den demokratischen Prozess der „Andersgläubigen“, aber auch der „Nichtgläubigen“ behindern und diese damit in der Teilhabe benachteiligen, also ausgrenzend wirken. Auch die alternative Ausweitung dieser Bezugnahmen auf andere „Migrationsreligionen“, wie etwa durch die Wulff-Rede („Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“), ist mit einem säkularen demokratischen Republikanismus nicht vereinbar. Linke antirassistische Politik unterstützt daher nicht die Einführung von islamischen Religionsunterricht (neben dem christlichen) unter staatlicher Aufsicht oder die Gründung islamischer Bildungseinrichtungen oder Krankenhäuser oder Anstalten öffentlichen Rechts (neben den christlichen), sondern baut auf säkulare Bildungseinrichtungen und Krankenhäuser, verweist die religiöse Betätigung in den privaten Bereich außerhalb der staatlichen Institutionen.

6. Rinks und Lechts

Bisher ist es nicht ausreichend gelungen, mit einem popularen Antirassismus Einfluss auf die Mehrheitsmeinungen zu nehmen. Antirassistische Politik muss als plurales Zusammenspiel unterschiedlicher Ansätze funktionieren: Linksradikaler Antirassismus übt radikale Kritik an der Schließung und Formierung der sich zur Mehrheitsgesellschaft Erklärenden; linksliberaler Antirassismus setzt darauf, Rechtsgarantien auf möglichst alle hier Lebenden auszuweiten. Sozialistischer Antirasssismus bringt die Klassenfrage ins Spiel: Die hier lebenden subalternen Migrant_innen sollen gemeinsam mit den Deutschen, also als Genoss_innen und Kolleg_innen (nicht als „Ausländer“!), Teil des Prozesses der Klassen-Selbstorganisierung sein und soziale Kämpfe gemeinsam und im Bewusstsein der Interessenanalogie oder gar -identität geführt werden. Dies ist nicht nur eine innergesellschaftliche Machtfrage, sondern auch das wirksamste Mittel gegen die Spaltung der Subalternen durch rassistische Propaganda und die Kulturalisierung der Konfliktlagen auf allen Seiten. Aber Achtung! Auch die politische Linke hat eine lange und unselige Tradition des Rassismus. Die ArbeiterInnenbewegung hat es in ihrer Geschichte nicht vermocht, eine kontinuierliche und verankerte antirassistische Praxis zu entwickeln. Die eigene Interessenvertretung und Organisierung blieb vielfach im nationalen Rahmen gefangen und ließ sich häufig auch noch im Konfliktfall gegen die angeblichen „nationalen Interessen“ anderer Nationen instrumentalisieren. Während z.B. die französischen SozialistInnen Kolonialreiche aufbauten und verteidigten, demolier(t)en die KommunalpolitikerInnen der PCF irreguläre Siedlungen von Papierlosen mit Bulldozern: 1980 in Vitry-Sur-Seine und im vergangenen Jahr in Bagnole. In Österreich und Deutschland war und ist das Ausspielen des weißen Facharbeiters gegen die MigrantInnen nicht nur in den Gewerkschaften Teil der politischen Klaviatur. Und insgeheim gibt es auch den ein oder anderen LINKEN, der irgendwie findet, dass der Herr Sarrazin dann doch ein bisschen Recht habe. Eine politische Linke mit diesen Positionen ist dann eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Deswegen: Rassismus findet sich nicht immer nur bei den anderen. Blick umdrehen und auch die eigenen Strukturen verändern.

7. Antirassistische Praxen

Eine linke antirassistische Praxis ist radikal republikanisch und popular, sie durchdringt alle Lebensbereiche von der Wiege bis zur Bahre. Konkrete Vorschläge für eine antirassistische radikale Reformpolitik und eigene Praxis haben wir in unserem Beitrag „antirassismus praktisch“ auf Seite 33 und mit Beispielen aus der Praxis auf Seite 364 zusammengestellt.