Zehn Überlegungen zur Aktualität von `68
1. Die Dialektik der Rebellion anerkennen …
Wenn wir heute nach dem Erbe von `68 fragen, können wir das in zweifacher Hinsicht tun: Entweder, in dem wir fragen, wie der neoliberale Kapitalismus Diskursfragmente des Mai `68 okkupiert und umgeschrieben hat – also wie seine Revolte abgebrochen ist. Oder wir können fragen, welche Kämpfe erfolgreich waren und was das Unabgegoltene ist, das bis heute Gültigkeit hat und (vorläufig) uneingelöst blieb.
2. … statt zeitgeistig Aufbrüche zu denunzieren
Eine heutzutage bis weit in die Linke verbreitete Argumentationsfigur ist, dass der Aufbruch des Mai `68 letztlich unter dem Namen der Individualisierung, Freiheit und Globalisierung das ideologische Schmiermittel des Neoliberalismus sei. Die Suche nach Freiheit und Befreiung wird in dieser Erzählung letztlich zur neoliberalen Freiheit von sozialer Sicherheit, zur Eigenverantwortung und zur ungezügelten Konkurrenz umdefiniert. Das Schlagwort vom „progressiven Neoliberalismus“ soll das auf den Punkt bringen.
3. Das andere Achtundsechzig und dessen Zerrbilder
In dieser Erzählung wird der Mai `68 letztlich zu einem sozial entkernten Projekt erklärt, das sich zur sozialen Frage und zur Klassenherrschaft indifferent verhalte – und dessen Erben daher heute logischerweise Identitätspolitik betreiben. Diese Denunziation behauptet: Der Mai sei ein studentisches Ereignis und ein Aufstand der Privilegierten gewesen. Dies ist jedoch historisch unzutreffend und übernimmt die medial aufbereitete Erzählungen einer kleinen, männlichen, westdeutschen, urbanen, akademisch gebildeten Minderheit. Kurz gesagt: Die der Cohn-Bendits und Joschka Fischers. Historisch bedeutsam ist sowohl in Deutschland aus auch globalgeschichtlich „das andere Achtundsechzig“, insbesondere die feministische Revolutionierung der Geschlechterverhältnisse (s. dazu auch den Beitrag von Christina von Hodenberg in dieser Ausgabe).
4. `68 war Antwort auf Fordismus …
Treffender lässt sich der Mai `68 in Europa als Revolte gegen den fordistischen Kapitalismus begreifen, die nicht ausschließlich in den Fabriken stattfand, sich aber zentral gegen das Arbeits- und Disziplinierungsregime des Nachkriegskapitalismus richtete. Diese Rebellion richtete sich gegen die reelle Subsumption der Menschen unter das Kapital, gegen die Monotonie der Fabrikarbeit und die disziplinierende Zurichtung in Schule und Universität. Sie war gegen die rassistische, koloniale und imperiale Weltordnung sowie gegen Gewalt und patriarchale Arbeitsteilung in Familie und Gesellschaft gerichtet. Ein Aufstand gegen die Stillstellung sozialer Kämpfe im korporatistischen Klassenkompromiss.
Der Mai `68 enthält – auch wenn er sich nicht darauf reduzieren lässt (siehe dazu auch den Text von Thomas Seibert) — ein Moment von Klassenkämpfen, die eher gegen die Herrschaft der Arbeit über das Leben, als ein Kampf um höhere Löhne waren. Augenfälligstes Beispiel dafür sind die Kämpfe in den italienischen Fabriken, die sich gegen die Arbeit an sich richteten.
5. … und dessen Geschlechterordnung
Die Erweiterung der Kämpfe um die Verfügungsgewalt über die Produktivkräfte um die Auseinandersetzungen um die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper und das eigene Leben sprengten auch die fordistische Geschlechterordnung. Das feministische Aufbegehren verdichtete sich zum Aufkommen der zweiten Frauenbewegung: „Die Frauen, gewohnt ihre spezifischen Probleme je einzeln, privat, für sich zu bewältigen, traten ins Öffentliche, erkannten sich als anders und eben auch als gleich. [...] Aus den vielen Tabubrüchen wurde sichtbar, in welchen Fesseln, welchen Begrenzungen in welcher Stickluft Frauen gewöhnlich existierten“, wie Frigga Haug in ihrem Beitrag schreibt.
6. Der Neoliberalismus war eine Reaktion auf soziale Kämpfe …
Historisch war also der Neoliberalismus eine Antwort auf die Krise von Fordismus, seiner Geschlechterordnung und das ihm zugehörige Disziplinarregime, hervorgerufen durch die vielfältigen Aufbrüche, die in dieser Krise stattfanden. Der neoliberale oder „progressive“ Kapitalismus, die Reorganisation der Produktion und die Ausweitung der Fabrik auf die Gesellschaft ist eine Reaktion auf die Massivität dieser Kämpfe gewesen. So wie die Gewerkschaften unter der Drohung der Revolution nach dem ersten Weltkrieg institutionalisiert wurden, so wurde auch der Mai `68 zur Grundlage einer neuen Produktionsweise. Man darf nicht vergessen: In Frankreich war der Auftakt ein Generalstreik mit Millionen Beteiligten, in Italien entstand eine militante und bewaffnete Generation junger Proletarier*innen.
7. Die Niederschlagung von `68 im Ostblock als Keim für Scheitern
Im Ostblock bedeutete `68 ein Aufbegehren gegen die bürokratische Erstarrung und die ökonomische Krise der staatssozialistischen Ökonomien. Geführt wurde er in der Tschechoslowakei von einer kommunistischen Partei, die begonnen hatte ernsthaft die stalinistischen Verbrechen aufzuarbeiten. In Polen waren es progressive Studierende und marxistische Intellektuelle, die den Aufbruch begannen. Die brutale Niederschlagung des Prager Frühling mit der Augustinvasion und die Exilierung und Schauprozesse in Polen haben die letzte Chance auf Erneuerung des Sozialismus aus sich selbst beendet und den Weg für den globalen neoliberalen Durchmarsch nach Ende des kalten Kriegen gebahnt. Die Ignoranz der westeuropäischen Linken hat dazu beigetragen. Der autoritäre Weg und die Schwäche der emanzipatorischen Linken in den Staaten der Visegrád-Gruppe sind ein Nachhall der fehlenden Aufarbeitung von Prag `68. (Siehe dazu auch die Beiträge von Rossana Rossanda, Luciana Castellina und Lena Dorn.)
8. Die Neuorganisation von Staat und Kapitalismus
Schaut man nach Paris, wird auch etwas anderes deutlich: Der Mai `68 antizipierte bereits die neue Zusammensetzung der Arbeitswelt und die Tatsache, dass das kapitalistische Kommando sich zunehmend nicht über die Disziplin am Arbeitsplatz, sondern über den Staat und die Ordnung organisiert. Impulsgeber waren nicht die sozialdemokratischen Gewerkschaften, sondern radikale, revoltierende Studierende, Oberschüler*innen und Jungarbeiter_innen, deren Mut und Auflehnung gegenüber der Autorität ausschlaggebend. Der Klassenkampf im Mai war politisch.
9. Solidarität braucht Bündnisfähigkeit
Das Bündnis von (jungen) Intellektuellen und Proletarier*innen ist seitdem fast rund um den Globus ein zentrales Erfolgskriterium linker Bewegungen und Dynamiken. Es ist absurd, sie heute gegeneinander ausspielen zu wollen.
10. Klassenpolitik muss ohne Homogenitätsfiktionen auskommen
Der Mai `68 war in dieser Hinsicht der endgültige und nicht mehr zurücknehmbare Impuls, dass jede linke Politik und jeder Klassenkampf sich auf eine innere Heterogenität beziehen muss. Ein einheitliches, homogenes Subjekt des Klassenkampfes existiert nicht mehr, wenn es denn überhaupt je existierte. Es kann auch nicht zum Ausgangspunkt einer Klassenpolitik gemacht werden, auch nicht durch abstrakte Gemeinsamkeiten, die man in einer „neuen Klassenpolitik“ zu konstruieren versucht. Damit ist das Erbe des Mai `68 heute auch für uns bestimmt: Eine Linke muss in sich demokratisch und heterogen sein. Nur das bewahrt sie davor, das Moment der Freiheit gegen das der Gerechtigkeit auszuspielen.