Der in Weimar direkt gewählte Landtagsabgeordnete Dr. med. Thomas Hartung verläßt Thüringer Linkspartei und Fraktion
Heute früh schrieb Thomas Hartung seiner Partei und Fraktion die Abschiedsmail, heute mittag begründete er vor der Presse in Erfurt, warum er die LINKE-Landtagsfraktion sowie die Partei DIE LINKE verlasse hat, um ab sofort als parteiloser Linker in der Landtagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands weiterzuarbeiten.
Fast auf den Tag genau vor 21 Jahren hatte ebenfalls in Erfurt Erich Honecker, der Generalsekretär der LINKE-Vorläuferpartei Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und Staatsratsvorsitzender der DDR doziert: Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf (dazu mein Beitrag hier). Mag sein, daß nun Bodo Ramelow (Foto [v.l.n.r.] mit Autor Günter Platzdasch sowie Nietzsche-Kolleg-Leiter Rüdiger Schmidt-Grépály am 23. Juni 2009 in Weimar) in die Fußstapfen des E.H. tritt, um zu verkünden, warum Hartungs Abgang der Sache der Linkspartei in Thüringen nicht schadet, sondern womöglich gar nützt; erste Rechtfertigungsversuche lassen nichts Gutes ahnen: Da wird die Realität ins Gegenteil verkehrt, indem Hartungs persönlicher, gegen den Widerstand der Parteioberen errungener Wahlsieg zu einem Erfolg der Linkspartei umstilisiert wird, weshalb Hartung nun, bitteschön, sein errungenes Direktmandat seinem Widersacher Fraktionschef Ramelow abgeben möge.
Der Vorgang um diesen Abgang paßt zu den derzeitigen Berichten über den LINKE-Niedergang (dazu demoskopisch argumentierend Thomas Petersen: Das Verblassen der Linkspartei; FAZ vom 21. Juli 2010). Die alten, oft noch aus SED-Zeiten stammenden und inzwischen sowohl intellektuell als auch in praktischer Politik immobilen Kader halten der Partei die Treue; die jungen, engagierten und nicht durch die 'Schule' der SED-Entmündigung gegangenen, selbstbewußten Kräfte laufen den nicht selten autoritär sich gebärdenden Parteioberen wieder davon. Bemerkenswert ist, daß etwa Bodo Ramelows "Aufruf zur Demokratisierung der Demokratie" dieser Tage gerade die Frage nach der innerparteilichen Demokratie der Linkspartei ausspart. Wer nimmt einer Partei aber heutzutage noch ihr zukunftsorientiertes Demokratie-Gesäusel, das sie dem Rest der Gesellschaft verordnen mag, ab, wenn sie ihre Versprechen nicht heute schon im eigenen Haus unter Beweis stellt?
Thomas Hartung, Jahrgang 1970, war von 1990 bis 1992 zunächst im Neuen Forum und bei Bündnis 90/Die Grünen engagiert bevor er im Jahr 2000 Mitglied der PDS wurde. Zeitweise gehörte er dem Thüringer LINKE-Landesvorstand an. Bei der Landtagswahl in Thüringen 2009 wurde der umtriebige Chirurg als Direktkandidat im Wahlkreis Weimar mit 28,4 Prozent der Stimmen in in den Thüringer Landtag gewählt; der Wahlkreis war bis dahin eine Bastion der CDU. Außerdem ist Hartung schon länger kommunalpolitisch im Weimarer Stadtrat tätig. Daß sich von der ebenfalls 2009 gewählten achtköpfigen Stadtratsfraktion just die vier jüngeren, noch voll im Berufsleben stehenden Abgeordneten als Neue Linke abspalteten, war ein Menetekel. In der Linken reagierte man darauf jedoch zunächst mit gegenseitigem Mobbing - wenn Linke Linke linken, hilft irgendwann auch keine Mediation mehr, die sich schließlich der Landesverband einige Tausend Euro kosten ließ; damit steht man nun im Regen.
Statt Debattenkultur und linken Kontroversen: Mobbing, Intrigen, Verleumdungen und Gerüchte. Dies beklagt der Weimarer Verein Neue Linke, zu dem auch LINKE-, SPD- und GRÜNE-Mitglieder sowie Parteilose gehören, der aber mehrheitlich und entstehungsgeschichtlich aus dem Milieu der Linkspartei stammt. Déjà vu: Die Revolution frißt ihre Kinder...
Vis-à-vis des jämmerlichen Niedergangs des LINKE-Experiments (es gibt ja keineswegs nur in Weimar gespaltene Stadtparlamentsfraktionen, die Saar-LINKE verringert sich über Nacht um Karteileichen-Hundertschaften; in Rheinland-Pfalz verzeichnet Ministerpräsident Beck Monate vor der Landtagswahl bei der Linken suizidale Tendenzen "mit viel Freude an der Selbsthinrichtung"; Parteichef Klaus Ernst kneift vor der Berliner Presse, nachdem er dem Fernsehen ein Potemkinsches Dorf, pardon: eine falsche Almhütte vorgeführt hat usw.usf.), da sei das Weiter- oder Wiederlesen im 1986 bei Matthes & Seitz erschienenen Buchs "Die göttliche Linke" von Jean Baudrillard empfohlen. Dieser mokierte sich bereits vor der für Kundige ja nicht so überraschenden Implosion der Alten Linken in Staaten und Parteien über den realpolitikfernen Ohnmachtskult "einer jungfräulichen Linken, die darauf wartet, von der Rechten vergewaltigt zu werden". Der Franzose erläuterte: "Auf diese Weise kann sie ihr Image wahren, ohne über ihren Schatten zu springen und sich mit der Realität der Macht auseinanderzusetzen."
Baudrillard über jene Linke: Die "jammernde und jämmerliche Gegenbeschuldigung ist der einzige Inhalt all ihrer Diskurse". Wer denkt nicht an die gewiß unappetitliche Verfassungsschutzaffaire (Bodo und die Detektive) bei Baudrillards Verortung der von ihm kritisierten Linken: "Ihre ideale Position ist die einer Opposition, die ungerechterweise in ihren Rechten beschnitten wird - die triumphale Position des Ressentiments." Und schließlich Baudrillard über eine Linke, die glücklicherweise "nicht mehr über die politische Gewalt des Stalinismus" verfügt: "sie hat eher das Aussehen eines Stalinisten auf Urlaub, herausgeputzt mit dem Flitterrock eines New Look, der ihr das Aussehen eines Transvestiten der modernen Geschichte gibt." Treffender kann man die Renegatenhatz nicht kennzeichen, zu der anläßlich der causa Hartung geblasen wird.
Es liest sich wie ein verfrühter Kommentar zu Bodo Ramelow Koalitionsverhandlungen nach dem Wahlerfolg der Linken letztes Jahr ("Verbalinkontinenz" attestierten ihm damals sogar Mitstreiter im eigenen Lager), die schließlich zur Großen Koalition von SPD und Wahlverlierer CDU führten, weil Matschie mit einer unberechenbaren Linken haderte, die zwar vor Karft kaum noch laufen kann, aber in der Opposition verharren muß: "Die Linke ist wie Poulidor. Sie radelt stolz in Richtung Macht, die Massen jubeln ihr zu, und, kurz vor dem Sieg, fällt sie auf den zweiten Platz zurück." Baudrillards Beschreibung ist natürlich für ein französisches Publikum gedacht, aber vielleicht verstehen sie auch hierzulande nicht nur mit der Geschichte der Tour de France Vertraute.
Seinen Abgang begründete Hartung in einer E-Mail wie folgt: "Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dazu entschlossen, die Partei DIE LINKE und ihre Landtagsfraktion mit sofortiger Wirkung zu verlassen. Die Blockade meiner Arbeit und fortgesetzter Rufmord durch den Vorsitzenden der Landtagsfraktion, Bodo Ramelow, und führenden Vertretern von Stadtratsfraktion und Kreisverband der Linkspartei Apolda/Weimar haben diesen Schritt schließlich unvermeidbar gemacht. Ich will in Zukunft damit fortfahren, für konkret linke und soziale Politik von Unten zu arbeiten und dafür mit politischen Kräften zusammenarbeiten, die mir diese Arbeit ermöglichen. Ich möchte mich ausdrücklich bei den vielen Mitgliedern und Anhängern der Partei, die mich in den schwierigen Monaten seit der Landtagswahl und davor unterstützt haben, für ihr Vertrauen und ihr Engagement bedanken. Es schmerzt mich sehr, Euch meinen Entschluss mitteilen zu müssen."
Bemerkenswert ist, wie schnörkellos und unangestrengt heutzutage der Abschied von 'der Partei' vollzogen wird. Waren früher in der Geschichte der linken Bewegung Abspaltungen motiviert und begründet etwa mit Abstimmungen und Sachentscheidungen in wichtigen Angelegenheiten (von den Kriegskrediten bis zur Agenda 2010) oder mit programmatischen Plattformen, so geht man heute fast kommentarlos: Was soll da die Vorhaltung beim Übertritt zur sozial-demokratischen Fraktion, daß er, Hartung, mal irgendwo bei der "Antikapitalistischen Linken" unterschrieben habe in Zeiten, da Ex-CDU-Generalsekretär Geißler mit Antikapitalismus shooting star der talk shows ist? Was soll das Herausklauben SPD-kritischer Hartung-Zitate, wenn gleichzeitig SPD-Chef Gabriel frühere Fehler konzediert und, beispielsweise, von der Rente mit 67 abrückt, diese - wie früher DIE LINKE - eine verkappte Rentenkürzung nennend? Nach einem Manifest der Neuen Linken in Weimar sucht man vergebens, und auch die dürre Austrittserklärung Hartungs paßt nicht in die lange Reihe der Abspaltungserklärungen von der Resolution der Kronstädter Kommune über die Kritik kommunistischer Politik des Sexpol-Aktivisten Wolfgang Teschitz, die Resolution des ungarischen Petöfi-Klubs die Plattform Wolfgang Harichs oder Karanins Offenen Brief an Jewtuschenko. Verglichen damit muten heutige Quereles geradezu privat an. Es geht, wie der FAZ-Feuilletonchef anläßlich der letzten Thüringer Regierungsbildung formulierte, um Die verheerenden Wirkungen des Ressentiments: Jedermann weiß inzwischen, daß der Gemeinplatz, es komme in der Politik nur auf die Inhalte und nicht auf Personen an, falsch ist. Denn die Personen sind oft das Wichtigste. Und so erscheint der Abgang Thomas Hartungs wie ein Beleg dafür, daß Christoph Matschie recht hatte mit seinem Mißtrauen gegenüber Bodo Ramelow, als letztes Jahr SPD, Grüne und LINKE um eine Regierungsbildung in Thüringen verhandelten. Neben dem in Talk-Runden zur Schau gestellten Gesicht hat mancher noch eine zweites, völlig anderes, das nur Insider erblicken können - oder müssen. Bevor sie das Weite suchen.
post scriptum - 13. August 2010:
Wohl nicht zuletzt dieser Artikel bewirkte, daß Bodo Ramelow mich ab heute aus seiner Gemeinde der rund 1400 Twitter-Follower exkommunizierte (dabei verbreitete Lügen ad personam sollen hic et nunc nicht weiter interessieren). Mit der Errichtung dieses antiinformationellen Schutzwalls liefert der ach-so-progressive-und-geläuterte LINKE-Fraktionschefs nicht nur seinen aparten Beitrag zum Jahrestag des Mauerbaus, er bezeugt auch seine Ahnungslosigkeit bezüglich Internetsperren (wie 2008 sein Bundestag-Fraktionsgenosse Lutz Heilmann mit Blockadebegehren gegen Wikipedia) und vor allem sein wahres Verständnis von Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit, die er offenbar im Zweifelsfall nur für seine eigenen Ansichten gewähren mag. Danke für diese Verdeutlichung!
pps - 17. September 2012:
Nach weiteren Abspaltungen hat sich die o.g. Abspaltung "Neue Linke" Weimar aufgelöst...