oder Die realen Chancen des Theaters
I.
Wenn von „Realität“ auf der Bühne die Rede ist oder von „Realismus“, versteht man nicht selten darunter pures Abbilden der Wirklichkeit, weshalb heute viele, vor allem junge Theaterleute, Realismus für die Bühne ablehnen, Er sei ihnen zu „eng“ und lege sie nur auf das fest, was in Wirklichkeit eh vorhanden ist. Realismus verhindere jede Überschreitung und in Überschreitung sehen sie – zu Recht übrigens – das große Anliegen der Kunst. Realismus widerspräche somit auch den Absichten Brechts, der ja auf Veränderung der Wirklichkeit aus sei. Und Verändern bedeute immer zugleich auch Überschreiten usw.
Abgesehen davon, dass hier eine „klassische“ Verwechslung von Realismus mit Naturalismus vorliegt, scheint es nützlich, einmal die Frage zu stellen, was denn das eigentlich ist: Realität auf der Bühne. Und wie man sie herstellt. Vor allem, wodurch sie sich zum Beispiel von Realitäten auf der Filmleinwand oder dem Bildschirm unterscheidet.
Um es vorwegzunehmen: Es geht um den generellen „Zeichencharakter“ des Theaters. Unter „Zeichen“ versteht man in diesem Falle etwas, das „doppelt“ vorhanden ist. Erstens als realer Gegenstand, zum Beispiel als ein rundes Blechschild mit weißem Querbalken am Straßenrand, ein Punkt mit einem Längsstrich auf einem Blatt Notenpapier, ein voll beladener Planwagen auf der Bühne oder ein Holzbalken, der angekohlt ist. Zweitens aber ist ein „Zeichen“ ein Gegenstand, der etwas „bedeutet“. Das Blechschild am Straßenrand zum Beispiel „Einbahnstraße“, der Punkt mit einem Längsstrich eine Note in einer Partitur, der voll beladene Planwagen ist ein „Zeichen“, dass die Mutter Courage gerade gut verdient, und ein angekohlter Balken auf der Bühne kann ein Haus „bedeuten“, das der Krieg gebrandschatzt hat. Es ist klar, dass die „Bedeutung“ dem Gegenstand selbst nicht unbedingt von Natur anhaftet, da ist er eben nur ein Stück Blech oder Druckerschwärze auf Notenpapier. Was er bedeutet, kommt erst durch die Menschen hinzu, die die entsprechende „Verabredung“ kennen: Zum Beispiel die Verkehrsregel, um die Einbahnstraße zu erkennen oder Noten, um den richtigen Ton zu treffen. Und man muss bei der Vorführung der MUTTER COURAGE „mitgekriegt“ haben, dass der voll beladene oder leere Planwagen jeweils „bedeutet“, wie es um die Geschäfte der Courage steht, und in dem COURAGE-Bühnenbild „bedeutet“ ein angekohlter Balken eben ein zerstörtes Haus. Es ist der generelle Zeichencharakter des Theaters, der das ermöglicht und der so alt ist wie das Theater selbst. Er veranlasst die Zuschauer, ohne besondere Aufforderung diese Verabredungen einzugehen und die Bedeutung der Zeichen zu „entschlüsseln“. Und zwar zu ihrem Vergnügen.
Ohne an dieser Stelle näher auf die „Semiotik“ eingehen zu können, denn so heißt die Lehre von den Zeichen, möchte ich auf die Arbeiten von Charles William Morris, Georg Klaus und auch auf meine Arbeit „Theater und Wissenschaft“ verweisen, in der der „Zeichencharakter“ des Theaters untersucht wird. Hier will ich nur eine Geschichte erzählen, wie ich selbst „Opfer“ jener „klassischen“ Verwechslung von Naturalismus und Realismus wurde, kurz, wie ich vergeblich versuchte, Lösungen einer Bühnen-Inszenierung unverändert auf den Film zu übertragen. Denn im Gegensatz zum „Zeichencharakter“ der Bühne bildet der Film (und manchmal sogar das Fernsehen) „Realitäten“ real ab. Oder wie Brecht es nannte: Film ist die Montage von wirklichen oder erfundenen Dokumenten.
II.
Einer der großen Eindrücke der Theater-Aufführung von MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER war der Schluss. Mutter Courage hat durch den Krieg alles verloren und zieht, immer noch unbelehrbar, den zerlumpten Heerhaufen nach, um im fünfundzwanzigsten Jahr des mörderischen Krieges doch noch ihren Schnitt zu machen. Unter dem grölenden, müden Gesang der aufbrechenden Truppen spannt sie sich, umständlich die Traggurte über die Schulter ordnend, vor ihren leeren Planwagen und zieht ihn mit zäher Anstrengung den abrückenden Soldaten nach. Brecht wollte zeigen, dass sie sich – unbelehrbar – in der Unendlichkeit des überfälligen Krieges verliert. Er gab der Szene den Titel MUTTER COURAGE ALS ZULETZT GESEHEN. Nahe liegend war es, den Wagen mit der Courage auf der Bühne nach hinten fahren zu lassen. Er hätte dann auf der Hinterbühne verschwinden können, sodass sich die Courage auf der Bühne wirklich verliert. Die Wirkung war minimal: Es war ein normaler Abgang. Die Lösung kam durch einen Zufall: Nach einem Versuch, den Wagen hinten verschwinden zu lassen, kam die Weigel mitsamt dem Wagen wieder nach vorn, um zu hören, was die Regisseure sagten. Die Wirkung war enorm. Denn sie kam nicht wirklich nach vorn, sondern es wirkte, als setze sie ihren Weg ins Unendliche fort, da das Rund der Drehscheibe während der ganzen Aufführung als der „lange Weg“ durch den Krieg etabliert war. Während der ganzen Aufführung fuhr der Wagen der Courage, wenn er kreuz und quer durch Europa streifte, am Rand der Drehscheibe immer im Kreis herum. Der Zuschauer war diese Verabredung durch das ganze Stück eingegangen. Er nahm den fahrenden Wagen nicht als pure Realität, sondern als „Zeichen“. Selbst wenn nun der Wagen auf ihn zurollte, nahm er dies für ein Wegfahren des Wagens, solange er auf dem Rand der Drehscheibe fuhr. Wir begriffen, dass wir bei der Darstellung des „Verlierens des Wagens in der Unendlichkeit“ nicht den Wagen in Wirklichkeit verlieren durften, sondern wir mussten uns an die während des Stückes verabredeten Zeichen halten: Brecht ließ dann den Wagen, gezogen von der zerlumpten Courage, wieder auf dem Rand der Drehscheibe fahren: zunächst nach hinten, dann am Rundhorizont entlang, bis er wieder nach vorn kam, direkt auf den Zuschauer zu. Schwenkte er dann erneut nach hinten, schloss sich der Vorhang. Selten ist mir der Unterschied zwischen der Realität auf der Bühne und ihrer realen Bedeutung deutlicher geworden als hier! Obwohl die Realität der Bedeutung widersprach (denn der Wagen kam schließlich wieder nach vorn), nahm der Zuschauer dies als Zeichen des Wegfahrens in die Unendlichkeit.
1960/61 verfilmten wir diese Inszenierung bei der DEFA. Und hier verlief der Prozess umgekehrt. Natürlich wollten wir den Schluss, der inzwischen weltberühmt war, auch im Film erhalten. Ja, wir versprachen uns durch einige Großaufnahmen, die wir von der zerlumpten Courage dazwischenschnitten, zusätzliche Wirkungen. Doch schon bald sollten wir mit dem Unterschied zwischen Theater und Film Bekanntschaft machen. Denn die Filmbilder von der Fahrt der Courage, die sich im Nichts verlieren sollte, waren niederschmetternd. Von einer „Fahrt in die Unendlichkeit des Krieges“ konnte gar keine Rede sein. Vor einer weißen Pappwand, dem Rundhorizont des Ateliers, kurvte auf der Filmleinwand unentschlossen ein Planwagen hin und her, um zum Schluss wieder auf die Kamera zuzufahren, was den Eindruck erweckte, die Courage habe es sich anders überlegt und kehre zurück. Trotz aller Tricks und Kunst unseres Kameramannes behauptete hier der Film sein Wesen: Er dokumentierte die Realität. Oder wie es Brecht einmal, um den Unterschied zum Theater zu zeigen formulierte Film ist die Montage von Dokumenten, echten oder erfundenen.
Der Film nahm das „Zeichen“ für das „Dokument“, also für direkte Realität: Der Wagen kehrte ja wirklich um und kam wieder zurück. Im Theater dagegen „bedeutete“ es etwas anderes „Reales“: Fuhr der Wagen auf der Bühne am Rand der Drehscheibe auf den Zuschauer zu, nahm der das, als entferne er sich. Denn die „Verabredung“ (der Szenentitel) lautete MUTTER COURAGE VERLIERT SICH IN DER UNENDLICHKEIT DES KRIEGES. In unserem COURAGE-Film mussten wir, um die gleiche große Wirkung zu erzielen, „real“ zeigen, dass sich die Courage in der Unendlichkeit des Kriegs verliert.
Wir ließen den Wagen sich in die Tiefe des großen Filmateliers entfernen und verstärkten die „Weite“, indem wir einen Cash verwendeten, wie ihn der Stummfilm kannte. Bei verengtem schmalem Bildformat zeigten wir den Wagen von hinten, der sich allmählich von der Kamera entfernt. Während des Entfernens zogen wir ganz langsam den Cash auf, der zum Schluss das ganze Atelier in voller Breite des Cinemascope-Formats öffnete, so die unendliche Weite zeigend, in der sich die Courage verliert.
III.
Doch neben dem Zweifel an der Nützlichkeit „realistischen“ Theaters, besteht der größere Zweifel, ob Theater heute überhaupt noch von Nutzen ist oder nicht nur komfortabler Selbstzweck. Die Zweifel kommen allerdings weniger von zu hohen Erwartungen, wie sie zum Beispiel die 68-ziger an das Theater hatten, indem sie unmittelbare und direkte Veränderungen der Gesellschaft nach jeder Aufführung erwarteten, als von der Tatsache, dass man heute eigentlich nichts mehr erwartet, schon gar nicht vom Theater. Jedenfalls nichts, was die Gesellschaft betrifft. Da man offiziell das Ende der Geschichte erklärt hat und mit dem „Neoliberalismus“ den Abschluss der menschlichen Entwicklung erreicht haben will, gilt es, diesen Zustand – preisend oder maulend – zu verewigen und mit den Betroffenen einen – wie es Noam Chomsky nennt – „Konsens ohne Einsicht“ herzustellen. Die neue Religion, verkündet von Katheder, Kanzel und Bildschirm, heißt „Alternativlosigkeit“. Was früher „Schicksal“ war, ist heute „Sachzwang“; „kategorischer Imperativ“ heißt nun Steigerung der Quote und das „sittliche Gesetz in mir“ regelt die Niederringung der Konkurrenz. Vom Theater erwartet man, wenn man überhaupt noch etwas erwartet, dasselbe wie vom Fernsehen: „Events“ wie „Wetten dass“, „Millionenspiel“, „Deutschland sucht den Super-Star“ usw. Events sind Ereignisse, die das „Was“ hinter dem „Wie“ verschwinden lassen. Wo Künstlichkeit die Menschen überzeugt, braucht es keine Kunst mehr. Kultur bringt mehr ein, wenn sie zum Kult wird. Bei diesen aufwendigen Unternehmungen reicht natürlich die „Beschränktheit“ des Theaters nicht aus, es wird immer mehr durch die „unbegrenzten Möglichkeiten“ des Medien-Kults ersetzt oder es wird selbst zum Kult.
Die Zeit der großen Mystifikationen oder, wie es manche nennen, die Zeit des „konstitutionellen Irrationalismus“ ist angebrochen. Und zwar in einem bisher nie gekanntem Ausmaß. Gnadenlose Kriege um Öl und Gas, Märkte und Handelszonen, Umsatz und Absatz, Gewinne und Surplusgewinne, um Renditen und Ressourcen sind wieder an der Tagesordnung. Doch diese Kriege werden, „imbedded“ in Mystizismus und Irrationalismus, von einem ganz anderen Krieg begleitet: dem Krieg gegen die Wahrheit. Unaufhörliches Verbreiten von Unwahrheiten soll die Menschen dazu bringen, das Unfassliche als das Normale hinzunehmen. Kriege seien wie Naturereignisse, sie kommen und gehen wie der Wechsel des Wetters oder der Jahreszeiten. Man kann das bedauern, aber man kann es nicht ändern. Darum heißen Kriege heute auch nicht mehr Kriege, sondern „Sanktionen zur Friedensgewinnung“ oder „Präventivschläge zur Bewahrung westlicher Werte“ oder einfach „Kampf gegen Terrorismus“. Überfälle auf andere Länder, einst Angriffskriege genannt, heißen, da Angriffkriege von der UNO-Charta und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verboten sind, nun „punktuelle Militäreinsätze gegen Verletzung der Menschenrechte“. Besatzungsregime, die man errichtet, sind lediglich Hilfeleistungen bei der „Einführung von Demokratie“ oder beim Brunnenbau. Und immer geht es um Freiheit, um jene „enduring freedom“, was man wohl am besten mit „Freiheit zum Dauerschlag“ übersetzt. Denn Terrorismus droht immer und überall. Da man die Terroristen im Einzelnen aber nicht kennt und nicht weiß, wo sie sich aufhalten, muss man sie überall suchen. Zum Beispiel in Afghanistan, wohin der Deutsche Bundestag gegen den Willen von 77 Prozent der Deutschen deutsche Kampfflugzeuge schickte, aber nur um den umkämpften Süden des Landes „landschaftlich aufzuklären“. Fallen dann anschließend US-Bomben auf die aufgeklärte Landschaft, sind unsere Flieger längst wohlbehalten wieder in ihrer Luftwaffenbasis im ruhigeren Norden und haben mit den „Kollateralschäden“ nichts zu tun. Es sind ja nur „Aufbauhelfer“. Sicher, es sterben dabei auch Zivilisten (im Irak inzwischen fast eine Million), doch das ist unvermeidlich, wie eben auch beim Hobeln Späne fallen. Woher sollen die Bomberpiloten wissen, ob sich unter den Zivilisten nicht auch Terroristen aufhalten? Auch das Mittelalter ist zurückgekehrt. Aber was damals Folter hieß, mit der man Geständnisse erpresste, heißt heute im Dienstreglement „Manipulation des Befragungsumfeldes“, darunter das „Scheinersäufen“ das längere Bewässern des Kopfes, das, an eine Wellnessbehandlung erinnernd, „Waterboarding“ heißt. Und es waren nur „Sachzwänge“, die deutsche Unternehmer veranlassten, einem Despoten mit Namen Saddam Hussein, den sie heute natürlich verteufeln, mit Giftgas auszustatten, da im globalen Wettbewerb sonst die Konkurrenz das Gas geliefert hätte. Wenn heute deutsche Konzerne Weltmeister im Export von Waffen in Kriegsgebiete sind, so nur um in Deutschland „Arbeitsplätze zu sichern“ und sei es um Billiglohn. Denn allen geht es nur um den „Standort Deutschland“, was nur ein anderer Ausdruck für „deutsche Heimat“ sei. Sang man einst zu Kaisers Zeiten von der „Wacht am Rhein“, die fest und treu steht, damit das deutsche Vaterland ruhig schlafen kann, sind es heute „unsere Jungs“, die Deutschland am Hindukusch verteidigen, damit es weiter schlafen kann.
IV.
Dieser, wie Ernst Bloch sagt, reale Nebel, der sich da tagein, tagaus als konstitutioneller Irrationalismus über die Gehirne der Menschen legt, hat einen ganz rationalen Zweck: er soll die Menschen an Barbarei gewöhnen. Sie können sie bedauern, sie können dagegen protestieren, ja, sie mögen dagegen demonstrieren, verändern könne man es nicht. Versuche man es trotzdem, hieße das „Systemveränderung“ und die führe, wie die Vergangenheit beweise, nur zur allgemeinen Verschlechterung. Denn selbst die fehlende Arbeitslosigkeit in dem untergegangenen Staat DDR war – wie in einer renommierten Wirtschaftszeitschrift zu lesen ist – nichts als Ausdruck verordneter Unfreiheit, da die Stasi Entlassungen rücksichtslos verhinderte und Vollbeschäftigung erzwang. Darum Hände weg und immer bedenken: Ob man es gut findet oder nicht – THERE IS NO ALTERNATIVE, kurz TINA genannt.
Noch in einer seiner schlimmsten Krisen, behauten seine Verteidiger und Nutznießer, dass der Kapitalismus ohne Alternative sei. Ganz gleich, in welcher Weise die Krisenlasten auf die Bevölkerungsmehrheit abgewälzt werden (alleine aus den Milliardenhilfen und -garantieleistungen, mit denen bisher die Verluste der Hypo Real Estate in München ausgeglichen wurden, hätten jedem bundesrepublikanischen Erwerbslosen fast 30.000 Euro überwiesen werden können!) – stets wird kleine Wörtchen „alternativlos“ verwendet. In seiner Harmlosigkeit, an ein Bridge-Spiel erinnernd, lässt es vergessen, dass damit ganze Zeitalter der Menschheit rückgängig gemacht werden. Denn der Mensch wurde nur zum Menschen, indem er Alternativen, die es immer und überall gibt, erkannte und nutzte. Verkündend das „Ende aller Ideologien“, ist diese Verkündigung selbst die größte aller Ideologien, behauptet sie ja nichts Geringeres als das Ende der Geschichte. Die Entwicklung sei mit der heutigen Gesellschaft auf dem Höhepunkt angelangt und zum „natürlichen“ Stillstand gekommen. Man deklariert den Stillstand als unvermeidlich, um die eigenen Geschäfte umso mehr in Bewegung zu bringen. Wo vom Ende des Klassenkampfes die Rede ist, beabsichtigt man, ihn umso gründlicher zu führen. Unter dem Hoffnung erweckenden Wort „Reformen“ veranstaltet man den größten Sozial-Abbau, den es in der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre gegeben hat. Auch Kriege um Rohstoffe und Absatzmärkte lassen sich wesentlich erbarmungsloser führen, wenn man sie zum natürlichen Teil der Schöpfung deklariert, da es Kriege gäbe, solange es Menschen gibt. Und bringen Kriege viele Menschen ins Unglück, dann ist eben auch das Unglück alternativlos. Usw.
Eigentlich ist das für Theater eine einzigartige Chance. Wie kein anderes Instrument ist Theater geeignet, den „realen Nebel“ zu zerreißen. Es vermag Mystifiziertes, und zwar zum Vergnügen des Publikums, als das zu entmystifizieren, was es ist: Nichts als die ihre Zwecke verfolgenden Menschen. Jene schicksalhaften „Sachzwänge“ entpuppen sich als das „Geschick“ von Leuten, sich „Sachen“ zu erzwingen (Rendite, Immobilien, Hegde-Fonds usw.) Und der unergründliche Irrationalismus enthüllt schnell seine rationalen Gründe: Es ist erfolgreiche Tätigkeit von Beraterfirmen wie McKinsey, die jederzeit in der Lage sind, Massenentlassungen in „menschenfreundliche Daseinsvorsorge“ zu verwandeln, da Menschen vom „drückenden Zwang der Arbeitsgesellschaft befreit werden, um selbstbestimmt handeln zu können“ usw.
Gerade die „Beschränktheit“ des Theaters, alles, was es zeigt, „nur“ als Vorgänge zwischen Menschen zu zeigen, könnte sich hier als geeignet erweisen, Irdisches und Überirdisches, Physisches und Metaphysisches, Untaten und Heldentaten als nichts anderes zu zeigen als die Tätigkeiten von Menschen, die ihre Zwecke verfolgen. Damit zeigend, dass der Mensch letzten Endes „alles in der Hand hat“, wenn er es nur weiß und will. Theater kann durch seine „Simplizität“ dem Menschen helfen, „seine Lage zu erkennen“ und sich trotz des „Nebels“ als sein eigener Schöpfer zu begreifen, so Hoffnung zu seinem Prinzip machend, vor allem da, wo trostlose Finsternis herrscht. Denn Theater vermag bei allem, auch im scheinbar Hoffnungslosesten, den „Vorschein des Menschseins“ zu zeigen. Jedenfalls schlägt Ernst Bloch in seinem PRINZIP HOFFNUNG so etwas vor und nennt es kühn „Ontologie des Noch-Nicht-Seins“.
Wenn von „Realität“ auf der Bühne die Rede ist oder von „Realismus“, versteht man nicht selten darunter pures Abbilden der Wirklichkeit, weshalb heute viele, vor allem junge Theaterleute, Realismus für die Bühne ablehnen, Er sei ihnen zu „eng“ und lege sie nur auf das fest, was in Wirklichkeit eh vorhanden ist. Realismus verhindere jede Überschreitung und in Überschreitung sehen sie – zu Recht übrigens – das große Anliegen der Kunst. Realismus widerspräche somit auch den Absichten Brechts, der ja auf Veränderung der Wirklichkeit aus sei. Und Verändern bedeute immer zugleich auch Überschreiten usw.
Abgesehen davon, dass hier eine „klassische“ Verwechslung von Realismus mit Naturalismus vorliegt, scheint es nützlich, einmal die Frage zu stellen, was denn das eigentlich ist: Realität auf der Bühne. Und wie man sie herstellt. Vor allem, wodurch sie sich zum Beispiel von Realitäten auf der Filmleinwand oder dem Bildschirm unterscheidet.
Um es vorwegzunehmen: Es geht um den generellen „Zeichencharakter“ des Theaters. Unter „Zeichen“ versteht man in diesem Falle etwas, das „doppelt“ vorhanden ist. Erstens als realer Gegenstand, zum Beispiel als ein rundes Blechschild mit weißem Querbalken am Straßenrand, ein Punkt mit einem Längsstrich auf einem Blatt Notenpapier, ein voll beladener Planwagen auf der Bühne oder ein Holzbalken, der angekohlt ist. Zweitens aber ist ein „Zeichen“ ein Gegenstand, der etwas „bedeutet“. Das Blechschild am Straßenrand zum Beispiel „Einbahnstraße“, der Punkt mit einem Längsstrich eine Note in einer Partitur, der voll beladene Planwagen ist ein „Zeichen“, dass die Mutter Courage gerade gut verdient, und ein angekohlter Balken auf der Bühne kann ein Haus „bedeuten“, das der Krieg gebrandschatzt hat. Es ist klar, dass die „Bedeutung“ dem Gegenstand selbst nicht unbedingt von Natur anhaftet, da ist er eben nur ein Stück Blech oder Druckerschwärze auf Notenpapier. Was er bedeutet, kommt erst durch die Menschen hinzu, die die entsprechende „Verabredung“ kennen: Zum Beispiel die Verkehrsregel, um die Einbahnstraße zu erkennen oder Noten, um den richtigen Ton zu treffen. Und man muss bei der Vorführung der MUTTER COURAGE „mitgekriegt“ haben, dass der voll beladene oder leere Planwagen jeweils „bedeutet“, wie es um die Geschäfte der Courage steht, und in dem COURAGE-Bühnenbild „bedeutet“ ein angekohlter Balken eben ein zerstörtes Haus. Es ist der generelle Zeichencharakter des Theaters, der das ermöglicht und der so alt ist wie das Theater selbst. Er veranlasst die Zuschauer, ohne besondere Aufforderung diese Verabredungen einzugehen und die Bedeutung der Zeichen zu „entschlüsseln“. Und zwar zu ihrem Vergnügen.
Ohne an dieser Stelle näher auf die „Semiotik“ eingehen zu können, denn so heißt die Lehre von den Zeichen, möchte ich auf die Arbeiten von Charles William Morris, Georg Klaus und auch auf meine Arbeit „Theater und Wissenschaft“ verweisen, in der der „Zeichencharakter“ des Theaters untersucht wird. Hier will ich nur eine Geschichte erzählen, wie ich selbst „Opfer“ jener „klassischen“ Verwechslung von Naturalismus und Realismus wurde, kurz, wie ich vergeblich versuchte, Lösungen einer Bühnen-Inszenierung unverändert auf den Film zu übertragen. Denn im Gegensatz zum „Zeichencharakter“ der Bühne bildet der Film (und manchmal sogar das Fernsehen) „Realitäten“ real ab. Oder wie Brecht es nannte: Film ist die Montage von wirklichen oder erfundenen Dokumenten.
II.
Einer der großen Eindrücke der Theater-Aufführung von MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER war der Schluss. Mutter Courage hat durch den Krieg alles verloren und zieht, immer noch unbelehrbar, den zerlumpten Heerhaufen nach, um im fünfundzwanzigsten Jahr des mörderischen Krieges doch noch ihren Schnitt zu machen. Unter dem grölenden, müden Gesang der aufbrechenden Truppen spannt sie sich, umständlich die Traggurte über die Schulter ordnend, vor ihren leeren Planwagen und zieht ihn mit zäher Anstrengung den abrückenden Soldaten nach. Brecht wollte zeigen, dass sie sich – unbelehrbar – in der Unendlichkeit des überfälligen Krieges verliert. Er gab der Szene den Titel MUTTER COURAGE ALS ZULETZT GESEHEN. Nahe liegend war es, den Wagen mit der Courage auf der Bühne nach hinten fahren zu lassen. Er hätte dann auf der Hinterbühne verschwinden können, sodass sich die Courage auf der Bühne wirklich verliert. Die Wirkung war minimal: Es war ein normaler Abgang. Die Lösung kam durch einen Zufall: Nach einem Versuch, den Wagen hinten verschwinden zu lassen, kam die Weigel mitsamt dem Wagen wieder nach vorn, um zu hören, was die Regisseure sagten. Die Wirkung war enorm. Denn sie kam nicht wirklich nach vorn, sondern es wirkte, als setze sie ihren Weg ins Unendliche fort, da das Rund der Drehscheibe während der ganzen Aufführung als der „lange Weg“ durch den Krieg etabliert war. Während der ganzen Aufführung fuhr der Wagen der Courage, wenn er kreuz und quer durch Europa streifte, am Rand der Drehscheibe immer im Kreis herum. Der Zuschauer war diese Verabredung durch das ganze Stück eingegangen. Er nahm den fahrenden Wagen nicht als pure Realität, sondern als „Zeichen“. Selbst wenn nun der Wagen auf ihn zurollte, nahm er dies für ein Wegfahren des Wagens, solange er auf dem Rand der Drehscheibe fuhr. Wir begriffen, dass wir bei der Darstellung des „Verlierens des Wagens in der Unendlichkeit“ nicht den Wagen in Wirklichkeit verlieren durften, sondern wir mussten uns an die während des Stückes verabredeten Zeichen halten: Brecht ließ dann den Wagen, gezogen von der zerlumpten Courage, wieder auf dem Rand der Drehscheibe fahren: zunächst nach hinten, dann am Rundhorizont entlang, bis er wieder nach vorn kam, direkt auf den Zuschauer zu. Schwenkte er dann erneut nach hinten, schloss sich der Vorhang. Selten ist mir der Unterschied zwischen der Realität auf der Bühne und ihrer realen Bedeutung deutlicher geworden als hier! Obwohl die Realität der Bedeutung widersprach (denn der Wagen kam schließlich wieder nach vorn), nahm der Zuschauer dies als Zeichen des Wegfahrens in die Unendlichkeit.
1960/61 verfilmten wir diese Inszenierung bei der DEFA. Und hier verlief der Prozess umgekehrt. Natürlich wollten wir den Schluss, der inzwischen weltberühmt war, auch im Film erhalten. Ja, wir versprachen uns durch einige Großaufnahmen, die wir von der zerlumpten Courage dazwischenschnitten, zusätzliche Wirkungen. Doch schon bald sollten wir mit dem Unterschied zwischen Theater und Film Bekanntschaft machen. Denn die Filmbilder von der Fahrt der Courage, die sich im Nichts verlieren sollte, waren niederschmetternd. Von einer „Fahrt in die Unendlichkeit des Krieges“ konnte gar keine Rede sein. Vor einer weißen Pappwand, dem Rundhorizont des Ateliers, kurvte auf der Filmleinwand unentschlossen ein Planwagen hin und her, um zum Schluss wieder auf die Kamera zuzufahren, was den Eindruck erweckte, die Courage habe es sich anders überlegt und kehre zurück. Trotz aller Tricks und Kunst unseres Kameramannes behauptete hier der Film sein Wesen: Er dokumentierte die Realität. Oder wie es Brecht einmal, um den Unterschied zum Theater zu zeigen formulierte Film ist die Montage von Dokumenten, echten oder erfundenen.
Der Film nahm das „Zeichen“ für das „Dokument“, also für direkte Realität: Der Wagen kehrte ja wirklich um und kam wieder zurück. Im Theater dagegen „bedeutete“ es etwas anderes „Reales“: Fuhr der Wagen auf der Bühne am Rand der Drehscheibe auf den Zuschauer zu, nahm der das, als entferne er sich. Denn die „Verabredung“ (der Szenentitel) lautete MUTTER COURAGE VERLIERT SICH IN DER UNENDLICHKEIT DES KRIEGES. In unserem COURAGE-Film mussten wir, um die gleiche große Wirkung zu erzielen, „real“ zeigen, dass sich die Courage in der Unendlichkeit des Kriegs verliert.
Wir ließen den Wagen sich in die Tiefe des großen Filmateliers entfernen und verstärkten die „Weite“, indem wir einen Cash verwendeten, wie ihn der Stummfilm kannte. Bei verengtem schmalem Bildformat zeigten wir den Wagen von hinten, der sich allmählich von der Kamera entfernt. Während des Entfernens zogen wir ganz langsam den Cash auf, der zum Schluss das ganze Atelier in voller Breite des Cinemascope-Formats öffnete, so die unendliche Weite zeigend, in der sich die Courage verliert.
III.
Doch neben dem Zweifel an der Nützlichkeit „realistischen“ Theaters, besteht der größere Zweifel, ob Theater heute überhaupt noch von Nutzen ist oder nicht nur komfortabler Selbstzweck. Die Zweifel kommen allerdings weniger von zu hohen Erwartungen, wie sie zum Beispiel die 68-ziger an das Theater hatten, indem sie unmittelbare und direkte Veränderungen der Gesellschaft nach jeder Aufführung erwarteten, als von der Tatsache, dass man heute eigentlich nichts mehr erwartet, schon gar nicht vom Theater. Jedenfalls nichts, was die Gesellschaft betrifft. Da man offiziell das Ende der Geschichte erklärt hat und mit dem „Neoliberalismus“ den Abschluss der menschlichen Entwicklung erreicht haben will, gilt es, diesen Zustand – preisend oder maulend – zu verewigen und mit den Betroffenen einen – wie es Noam Chomsky nennt – „Konsens ohne Einsicht“ herzustellen. Die neue Religion, verkündet von Katheder, Kanzel und Bildschirm, heißt „Alternativlosigkeit“. Was früher „Schicksal“ war, ist heute „Sachzwang“; „kategorischer Imperativ“ heißt nun Steigerung der Quote und das „sittliche Gesetz in mir“ regelt die Niederringung der Konkurrenz. Vom Theater erwartet man, wenn man überhaupt noch etwas erwartet, dasselbe wie vom Fernsehen: „Events“ wie „Wetten dass“, „Millionenspiel“, „Deutschland sucht den Super-Star“ usw. Events sind Ereignisse, die das „Was“ hinter dem „Wie“ verschwinden lassen. Wo Künstlichkeit die Menschen überzeugt, braucht es keine Kunst mehr. Kultur bringt mehr ein, wenn sie zum Kult wird. Bei diesen aufwendigen Unternehmungen reicht natürlich die „Beschränktheit“ des Theaters nicht aus, es wird immer mehr durch die „unbegrenzten Möglichkeiten“ des Medien-Kults ersetzt oder es wird selbst zum Kult.
Die Zeit der großen Mystifikationen oder, wie es manche nennen, die Zeit des „konstitutionellen Irrationalismus“ ist angebrochen. Und zwar in einem bisher nie gekanntem Ausmaß. Gnadenlose Kriege um Öl und Gas, Märkte und Handelszonen, Umsatz und Absatz, Gewinne und Surplusgewinne, um Renditen und Ressourcen sind wieder an der Tagesordnung. Doch diese Kriege werden, „imbedded“ in Mystizismus und Irrationalismus, von einem ganz anderen Krieg begleitet: dem Krieg gegen die Wahrheit. Unaufhörliches Verbreiten von Unwahrheiten soll die Menschen dazu bringen, das Unfassliche als das Normale hinzunehmen. Kriege seien wie Naturereignisse, sie kommen und gehen wie der Wechsel des Wetters oder der Jahreszeiten. Man kann das bedauern, aber man kann es nicht ändern. Darum heißen Kriege heute auch nicht mehr Kriege, sondern „Sanktionen zur Friedensgewinnung“ oder „Präventivschläge zur Bewahrung westlicher Werte“ oder einfach „Kampf gegen Terrorismus“. Überfälle auf andere Länder, einst Angriffskriege genannt, heißen, da Angriffkriege von der UNO-Charta und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verboten sind, nun „punktuelle Militäreinsätze gegen Verletzung der Menschenrechte“. Besatzungsregime, die man errichtet, sind lediglich Hilfeleistungen bei der „Einführung von Demokratie“ oder beim Brunnenbau. Und immer geht es um Freiheit, um jene „enduring freedom“, was man wohl am besten mit „Freiheit zum Dauerschlag“ übersetzt. Denn Terrorismus droht immer und überall. Da man die Terroristen im Einzelnen aber nicht kennt und nicht weiß, wo sie sich aufhalten, muss man sie überall suchen. Zum Beispiel in Afghanistan, wohin der Deutsche Bundestag gegen den Willen von 77 Prozent der Deutschen deutsche Kampfflugzeuge schickte, aber nur um den umkämpften Süden des Landes „landschaftlich aufzuklären“. Fallen dann anschließend US-Bomben auf die aufgeklärte Landschaft, sind unsere Flieger längst wohlbehalten wieder in ihrer Luftwaffenbasis im ruhigeren Norden und haben mit den „Kollateralschäden“ nichts zu tun. Es sind ja nur „Aufbauhelfer“. Sicher, es sterben dabei auch Zivilisten (im Irak inzwischen fast eine Million), doch das ist unvermeidlich, wie eben auch beim Hobeln Späne fallen. Woher sollen die Bomberpiloten wissen, ob sich unter den Zivilisten nicht auch Terroristen aufhalten? Auch das Mittelalter ist zurückgekehrt. Aber was damals Folter hieß, mit der man Geständnisse erpresste, heißt heute im Dienstreglement „Manipulation des Befragungsumfeldes“, darunter das „Scheinersäufen“ das längere Bewässern des Kopfes, das, an eine Wellnessbehandlung erinnernd, „Waterboarding“ heißt. Und es waren nur „Sachzwänge“, die deutsche Unternehmer veranlassten, einem Despoten mit Namen Saddam Hussein, den sie heute natürlich verteufeln, mit Giftgas auszustatten, da im globalen Wettbewerb sonst die Konkurrenz das Gas geliefert hätte. Wenn heute deutsche Konzerne Weltmeister im Export von Waffen in Kriegsgebiete sind, so nur um in Deutschland „Arbeitsplätze zu sichern“ und sei es um Billiglohn. Denn allen geht es nur um den „Standort Deutschland“, was nur ein anderer Ausdruck für „deutsche Heimat“ sei. Sang man einst zu Kaisers Zeiten von der „Wacht am Rhein“, die fest und treu steht, damit das deutsche Vaterland ruhig schlafen kann, sind es heute „unsere Jungs“, die Deutschland am Hindukusch verteidigen, damit es weiter schlafen kann.
IV.
Dieser, wie Ernst Bloch sagt, reale Nebel, der sich da tagein, tagaus als konstitutioneller Irrationalismus über die Gehirne der Menschen legt, hat einen ganz rationalen Zweck: er soll die Menschen an Barbarei gewöhnen. Sie können sie bedauern, sie können dagegen protestieren, ja, sie mögen dagegen demonstrieren, verändern könne man es nicht. Versuche man es trotzdem, hieße das „Systemveränderung“ und die führe, wie die Vergangenheit beweise, nur zur allgemeinen Verschlechterung. Denn selbst die fehlende Arbeitslosigkeit in dem untergegangenen Staat DDR war – wie in einer renommierten Wirtschaftszeitschrift zu lesen ist – nichts als Ausdruck verordneter Unfreiheit, da die Stasi Entlassungen rücksichtslos verhinderte und Vollbeschäftigung erzwang. Darum Hände weg und immer bedenken: Ob man es gut findet oder nicht – THERE IS NO ALTERNATIVE, kurz TINA genannt.
Noch in einer seiner schlimmsten Krisen, behauten seine Verteidiger und Nutznießer, dass der Kapitalismus ohne Alternative sei. Ganz gleich, in welcher Weise die Krisenlasten auf die Bevölkerungsmehrheit abgewälzt werden (alleine aus den Milliardenhilfen und -garantieleistungen, mit denen bisher die Verluste der Hypo Real Estate in München ausgeglichen wurden, hätten jedem bundesrepublikanischen Erwerbslosen fast 30.000 Euro überwiesen werden können!) – stets wird kleine Wörtchen „alternativlos“ verwendet. In seiner Harmlosigkeit, an ein Bridge-Spiel erinnernd, lässt es vergessen, dass damit ganze Zeitalter der Menschheit rückgängig gemacht werden. Denn der Mensch wurde nur zum Menschen, indem er Alternativen, die es immer und überall gibt, erkannte und nutzte. Verkündend das „Ende aller Ideologien“, ist diese Verkündigung selbst die größte aller Ideologien, behauptet sie ja nichts Geringeres als das Ende der Geschichte. Die Entwicklung sei mit der heutigen Gesellschaft auf dem Höhepunkt angelangt und zum „natürlichen“ Stillstand gekommen. Man deklariert den Stillstand als unvermeidlich, um die eigenen Geschäfte umso mehr in Bewegung zu bringen. Wo vom Ende des Klassenkampfes die Rede ist, beabsichtigt man, ihn umso gründlicher zu führen. Unter dem Hoffnung erweckenden Wort „Reformen“ veranstaltet man den größten Sozial-Abbau, den es in der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre gegeben hat. Auch Kriege um Rohstoffe und Absatzmärkte lassen sich wesentlich erbarmungsloser führen, wenn man sie zum natürlichen Teil der Schöpfung deklariert, da es Kriege gäbe, solange es Menschen gibt. Und bringen Kriege viele Menschen ins Unglück, dann ist eben auch das Unglück alternativlos. Usw.
Eigentlich ist das für Theater eine einzigartige Chance. Wie kein anderes Instrument ist Theater geeignet, den „realen Nebel“ zu zerreißen. Es vermag Mystifiziertes, und zwar zum Vergnügen des Publikums, als das zu entmystifizieren, was es ist: Nichts als die ihre Zwecke verfolgenden Menschen. Jene schicksalhaften „Sachzwänge“ entpuppen sich als das „Geschick“ von Leuten, sich „Sachen“ zu erzwingen (Rendite, Immobilien, Hegde-Fonds usw.) Und der unergründliche Irrationalismus enthüllt schnell seine rationalen Gründe: Es ist erfolgreiche Tätigkeit von Beraterfirmen wie McKinsey, die jederzeit in der Lage sind, Massenentlassungen in „menschenfreundliche Daseinsvorsorge“ zu verwandeln, da Menschen vom „drückenden Zwang der Arbeitsgesellschaft befreit werden, um selbstbestimmt handeln zu können“ usw.
Gerade die „Beschränktheit“ des Theaters, alles, was es zeigt, „nur“ als Vorgänge zwischen Menschen zu zeigen, könnte sich hier als geeignet erweisen, Irdisches und Überirdisches, Physisches und Metaphysisches, Untaten und Heldentaten als nichts anderes zu zeigen als die Tätigkeiten von Menschen, die ihre Zwecke verfolgen. Damit zeigend, dass der Mensch letzten Endes „alles in der Hand hat“, wenn er es nur weiß und will. Theater kann durch seine „Simplizität“ dem Menschen helfen, „seine Lage zu erkennen“ und sich trotz des „Nebels“ als sein eigener Schöpfer zu begreifen, so Hoffnung zu seinem Prinzip machend, vor allem da, wo trostlose Finsternis herrscht. Denn Theater vermag bei allem, auch im scheinbar Hoffnungslosesten, den „Vorschein des Menschseins“ zu zeigen. Jedenfalls schlägt Ernst Bloch in seinem PRINZIP HOFFNUNG so etwas vor und nennt es kühn „Ontologie des Noch-Nicht-Seins“.