Städtische Gouvernementalität

in (07.06.2009)
Folgt man Michel Foucault, so stellen Städte und die sozialen und politischen Fragen, welche von den großen Städten seit der Moderne aufgeworfen wurden, eines der originären Probleme für das Regieren von Bevölkerung dar. „Die Stadt", schreibt Foucault, stand gar am Anfang der Herausbildung jener modernen Regierungs- und Machttechnologien, die er als Gouvernementalität bezeichnet.
Foucault verwendet den Begriff der Gouvernementalität, um eine Form der Macht zu beschreiben, welche sich nicht mehr mit den Techniken und Begriffen der Disziplinarmacht, also jener Macht der großen Einschließungsinstitutionen und der Gelehrigmachung der Körper fassen lässt. Über das Auftauchen der spezifischen Probleme der Bevölkerung als einem Feld, das im Zuge des Aufkommens bio-politischer Regulationsweisen wie Statistik und moderner Medizin, in einer Weise Objekt von Machttechnologien wurde, die sich nicht mit den Techniken der Disziplinierung deckte, war Foucault zum Problem der Regierung gelangt. Der Begriff der Regierung wird dabei in einem sehr weiten Sinne als eine Form der Selbst- und Fremdführung von Individuen und Bevölkerungen begriffen. Damit tritt die Bevölkerung als Analyseobjekt und Interventionsfeld in Erscheinung und konstituiert ein Beziehungsgeflecht zwischen Reichtum, Territorium und Bevölkerung. Der allgemeine Rahmen dieser auf die Bevölkerung gerichteten Biopolitik ist der Liberalismus, dessen Freiheitsbegriff und Produktion der Bedingungen einer solchen auf eine Verstärkung der inneren Regierung der Subjekte gegenüber einer äußeren angewiesen ist.  
Die Bezüge dieser neuen Machttechnologie zum Städtischen liegen insbesondere in den Spezifika urbaner Probleme, die spezifische Techniken des Regierens erfordern. Die Sicherheitsdispositive zielen darauf, die Kontingenzen, welche die moderne Gesellschaft produziert, gesellschaftlich in den Griff zu bekommen und im Kern dieser Sicherheitsdispositive, so Foucault, liegen Probleme, welche die Stadt, deren Wachstum und deren Integration in staatliche Herrschaft aufgab. Es geht dabei um Fragen der optimalen Anordnung, der Organisation, der Verteilung und der Zirkulation von Dingen und Menschen, um die Schaffung eines „globalen Gleichgewicht(s)" durch „etwas wie Homöostase", die auf die „Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren zielt". Historisch wurde dieser Prozess durch eine Urbanisierung des staatlichen Territoriums, einer Organisation des Staates nach dem Vorbild der Stadt komplementiert.
Städtische Gouvernementalität unter den Vorzeichen neoliberaler oder fortgeschritten liberaler Programme, wie sie seit den frühen 1990er Jahren in den meisten Ländern Europas und Nordamerikas dominant wurde, kann nun durch eine Reihe von Merkmalen beschrieben werden: Eine Reskalierung städtischen Regierens, also eine Verschiebung der räumlichen Maßstabsebenen staatlicher Regulierung hin zu einer kleinteiligen Lokalisierung und weg von fordistischer Großplanung, die auf eine Angleichung der Lebensverhältnisse im gesamten Territorium des Staates zielen sollte; eine Ökonomisierung des Sozialen, d.h. eine Unterwerfung ehemals kapitalistischer Verwertungslogik entzogener Sektoren - etwa Güter des kollektiven Konsums - unter diese; eine Neujustierung sozialer Kontrolle und Punitivität in Richtung einer Hinwendung von reaktiven zu präventiven Strategien und von individuellen zu räumlichen, beispielsweise im Rahmen von Betretungsverboten, Videoüberwachung oder Verboten bestimmter Handlungen an bestimmten Orten; sowie eine Remoralisierung der Gegenstände des Regierens und veränderte Anrufung von Subjekten in Richtung einer Forcierung aktivierter unternehmerischer Selbste. Daraus resultiert ein verwickeltes Verhältnis repressiver und produktiver Elemente, einschließender und ausschließender Strategien, bei denen nicht selten eine Umwertung und Kooptierung ehemals emanzipativer und linker Ansätze stattfindet.
Nun wird sozialer Raum in der Realität durch Konflikte und Auseinandersetzungen produziert und strukturiert. Der Kontingenzreduktionstrategien gouvernementaler Regierungstechnologien stellten sich künsterlisch-politische Bewegungen wie die des Situationismus entgegen und forderten eine Umwälzung durch subversive Umkehrung des Gebrauchs der Stadt. Der Situationismus war gewiss der expliziteste und in der Version von Guy Debord wahrscheinlich auch der radikalste Versuch, durch sozialinterventionistische (Kunst)Praxen die Stadt als Produktionsort einer befreiten Gesellschaft zu begreifen und zu gebrauchen. Sah Henri Lefebvre, der Lehrer von Debord und einer der ersten Denker, die sich mit der sozialen Produktion von Raum beschäftigt haben, im Fest (la fête) die Möglichkeit der Aneignung und das Aufscheinen der Möglichkeit von Freiheit, so wurden Zweckentfremdung, widersinniger und sinnfreier Gebrauch der gebauten Umwelt zu zentralen Strategien situationistischer Praxis. Insbesondere gegen eine funktionalistische Zurichtung von Städten und die Ökonomie des Spektakel sollten détournement, Psychogeographie und dérive zumindest eine Kritisier- und Hintergehbarkeit aufscheinen lassen. Dabei ging es immer um weit mehr als um ästhetische Änderungen städtischer Landschaften - es ging um eine Transformation von Welt, darum, dass Unglück zurückzuschlagen (Debord).
Strategien neoliberalen Regierens von Städten haben weite Teile des emanzipativen Gehaltes, die in der „Schaffung von Situationen" liegen, in Festivalisierung, konsumistische Erlebniswelten und einer marktförmigen Kreativitätsanforderung aufgelöst. Vom Ort der Möglichkeit von Freiheit blieb vielfach wenig mehr als einer der Freizeit. Dort, wo Einbindung und Integration in Form von Aufhübschung und aufregenden Stadtlandschaften nicht gelingt oder nicht angestrebt wird, nimmt der repressive und kontrollierende Zugriff auf die gefährlichen Klassen durchaus zu.
Das Ausloten der Potentiale aber auch Gefahren solcher Barrikaden gegen eine Alltäglichkeit, die weit entfernt vom Reich der Freiheit ist, und das Reaktivieren und Reformulieren kritischer Potentiale situationistischer Praxen muss diese Kooptierungsbestrebungen ebenso beachten wie die Frage, wer es ist, der/die spricht und wer nicht.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Sommer 2009, „Symbolische Barrikaden".