Karl Schillers „verspäteter“ Keynesianismus

Zur politischen Ökonomie des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von 1967

Ökonomische Theorien und ihre Wirkungsmacht

„… the ideas of economists and political philosophers, both when they are right and when they are wrong, are more powerful than is commonly understood. Indeed the world is ruled by little else. … I am sure that the power of vested interests is vastly exaggerated compared with the gradual encroachment of ideas.“1 (Keynes 1936: 383) Mit dieser Bemerkung am Ende seines Hauptwerkes, der General Theory, bringt John Maynard Keynes nicht nur seine – selbst von engen Vertrauten (vgl. Robinson 1976) gelegentlich als etwas naiv dargestellte – Hoffnung in die Kraft des rationalen Arguments und der wegweisenden Idee zum Ausdruck, sondern scheint den Siegeszug der aus seinem Werk abgeleiteten Wirtschaftspolitik – als Keynesianismus2 bekannt – in der Nachkriegszeit vorwegzunehmen (vgl. z.B. Hall 1989a).

In der Bundesrepublik Deutschland kann das am 8. Juni 1967 in Kraft getretene Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) als „die umfassende gesetzliche Kodifizierung des Keynesianismus“ (Ambrosius 1989: 61f.)3 verstanden werden. Bis heute ist der Name Karl Schiller untrennbar mit dieser spezifisch deutschen Variante des Keynesianismus verbunden: Er war der für die Vorlage des Gesetzes zuständige Fachminister, der Erfinder des marketingträchtigen Etiketts „Globalsteuerung“, er war aber auch an der Rezeption des Keynesianismus in der deutschen Wissenschaft, vor allem aber in der deutschen Sozialdemokratie maßgeblich beteiligt. Mit Schiller wird das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz [StabG] zum Vehikel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik, oder wie es Harald Mattfeldt (1985: 20) formulierte: „Globalsteuerung ist die Quintessenz des Keynesianismus, Globalsteuerung ist sozialdemokratisch, damit ist Keynesianismus sozialdemokratisch“.4

Obwohl die jüngere Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik im Allgemeinen recht gut beforscht ist5 sowie einerseits das StabG im Besonderen und andererseits auch die Kointegration von Keynesianismus und Sozialdemokratie einige Aufmerksamkeit erhielt, ist doch weder eine einheitliche Bewertung der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des StabG festzustellen, noch bisher ein syste-matischer, gleichwohl reflexiver Zusammenhang zwischen Keynesianismus, StabG und der Sozialdemokratie als Regierungspartei herausgearbeitet worden. Zum einen wird die Verabschiedung des Gesetzes als Ausdruck eines tatsächlichen Paradigmenwechsels in der Wirtschaftspolitik gesehen (vgl. Oberender 1989; Schlecht 1989; Görtemaker 1999: 450); andere Stimmen hingegen sehen es vielmehr als das Ergebnis eines späten, gleichwohl umfassenden Bewusstseinswandels in Wissenschaft, Politikberatung und Politik – also quasi eine zwangsläufige Entwicklung im Sinne der Keynes’schen Aufklärung (vgl. z.B. Polster/Voy 1991).6 Und auch in der Bewertung der Wirkungsgeschichte des StabG sind die Kommentatoren uneins: Überwiegend wird ihm eher geringe Wirkung beigemessen und auf die Veränderung der wirtschaftspolitischen Problemlagen seit den 1970er Jahren (Struktur- statt Konjunkturprobleme) verwiesen (vgl. Beyfuss 1977; Welsch 1980), andererseits wird bestritten, dass überhaupt eine konsequente Umsetzung keynesianischer Wirtschaftspolitik nach dem StabG stattgefunden hat (vgl. Mattfeldt 1985; Vesper 1980) bzw. betont, dass sie bereits frühzeitig zugunsten einer angebotspolitischen Orientierung aufgegeben wurde (vgl. Zinn 1983; Hoffmann 1985). Und schließlich ist die Verbindung von Keynesianismus und (deutscher) Sozialdemokratie zwar ebenfalls umfangreich beleuchtet, doch steht dabei zumeist die programmatische Abkehr vom Marxismus im Godesberger Programm (z.B. Held 1982; Przeworski 1985: 32) oder die Krise der Sozialdemokratie als Folge der Krise des Keynesianismus (vgl. Kesselman 1996; Hoffmann 1985; Scharpf 1987) im Mittelpunkt, nicht aber die Frage, ob der „kodifizierte Keynesianismus“7 gleichermaßen Ergebnis wie Determinante des wahlpolitischen Erfolges der Sozialdemokratie in den späten 1960er Jahren war.

Im folgenden soll versucht werden, eine Antwort auf die selten gestellte Frage zu finden, unter welchen Bedingungen ein wirtschaftspolitisches Handlungssystem wirkungsmächtig werden kann; oder genauer: Was verschaffte sozialdemokratischer, ergo: keynesianischer Wirtschaftspolitik Ende der 1960er Jahre den Durchbruch, und wie genau ist das Verhältnis von sozialdemokratischer Regierungsfähigkeit und keynesianischer Politikkonzeption zu begreifen? Hall (1989c: 8ff.) bietet drei Einflusskanäle der Wirkungsmacht von Ideen: einen ökonomenzentrierten, einen bürokratenzentrierten und einen koalitionszentrierten. Mit dem ersten Kanal ist die Vorstellung verbunden, die Akzeptanz und Diffusion theoretischer Entwicklungen in der Ökonomenzunft wirke sich früher oder später mittels Politikberatung auf die tatsächlich betriebene Wirtschaftspolitik aus – etwa dem technischen Fortschritt in der materiellen Produktion vergleichbar.8 Der zweite Kanal sieht als wesentliche Akteure die Handlungsträger in der staatlichen Bürokratie, die letztlich theoretische Erkenntnisse und daraus abgeleitete wirtschaftspolitische Vorstellungen in praktische Politik umzusetzen haben. Beide Ansätze scheinen Keynes’ Verständnis und seiner Einschränkung der Bedeutung von Interessen zu entsprechen, können aber kaum die Kontextualität erfassen, deren heuristischer Rahmen zweifellos vieldimensional ausfallen muss: Politische Entscheidungsprozesse im Allgemeinen kennen neben einer inhaltlichen (Policy-Ebene) und einer instrumentellen (Polity-Ebene) immer auch eine interessenverpflichtete und gesellschaftsgebundene Perspektive (Politics-Ebene); weshalb sollte dies bei der Formulierung und Durchsetzung von Wirtschaftspolitik im besonderen anders sein? Auch Wirtschaftspolitik kann natürlich nicht als neutraler Instrumentenkasten einer funktional agierenden, benevolenten Regierung verstanden werden9, sondern basiert auf möglicherweise sehr unterschiedlichen Realitätskonstruktionen und Zielvorstellungen, deren Formulierung immer einen Interessenkompromiss beinhaltet.

Deshalb soll hier eine polit-ökonomische Methode Verwendung finden, die Halls dritten – den koalitionszentrierten – Einflusskanal aufgreift: „It emphasizes that policies must mobilize support among broad coalitions of economic groups on whose votes and goodwill elected politicians ultimately depend“ (Hall 1989c: 12). Wirkungsmacht kann also nur jene wirtschaftspolitische Konzeption erlangen, die von politischen Akteuren aufgegriffen wird, welche sich dadurch versprechen, Regie-rungsämter zu erlangen, und dies letztlich auch realisieren können. Obwohl Wirtschaftspolitik gewiss eine zentrale Stellung bei der materiellen Bedürfnisbefriedigung der Wähler und damit für deren Wahlentscheidung spielt, soll hier natürlich nicht behauptet werden, Wirtschaftspolitik sei die alleinige oder auch nur immer die wesentliche Determinante von Wahlentscheidungen – dafür ist der „politische Markt“ viel zu facettenreich und sind die politischen Agenden immer wieder auch von anderen drängenden Problemstellungen wie zum Beispiel Frieden oder innere Sicherheit bestimmt. Polit-ökonomische Modelle gehen – im Sinne des Reduktionismus der Ökonomik – gleichwohl davon aus, dass wirtschaftspolitische Fragestellungen unter den Bedingungen von nicht-plebiszitären Mehrheitsdemokratien gewöhnlich entscheidenden Anteil an der Präferenzbildung der Wähler haben (vgl. z.B. Kaltefleiter 1996). Aufgrund vielfacher Konsis-tenzprobleme (vgl. Heise 2004: 70ff.; Galbraith 1989) soll hier aber nicht das traditionelle Rational (bzw. Public) Choice-Modell verwendet werden, sondern ein neokonstruktivistisches Agenda-Modell (vgl. Heise 2004; 2005: 260ff.), in dem Wahlentscheidungen im Umfeld von Ideen, Institutionen und Ideologien kontextualisiert werden können.

Im nächsten Abschnitt soll dieses zunächst einmal dargestellt sowie einige forschungsleitende Hypothesen abgeleitet werden. Danach wird die Entwicklungsgeschichte des StabG in einen partei- und wirtschaftshistorischen Zusammenhang gestellt und schließlich im Analyserahmen des Agenda-Modells interpretiert.

 

Wirtschaftspolitik im gesellschaftlichen Kontext: das Agenda-Modell

So banal es klingen mag, aber eine bestimmte (in diesem Falle: keynesianische) Wirtschaftspolitik kann nur wirkungsmächtig werden, wenn es einen politischen Akteur gibt, der sich einer entsprechenden wirtschaftspolitischen Konzeption verschreibt, der bereit ist, diese im Falle der Regierungsübernahme bzw. -beteiligung umzusetzen und, als grundlegende Voraussetzung, der genau dafür schließlich gewählt wird. Damit entstehen Kontextualität und Reflexivität, die wirtschaftspolitische Konzeptionen im Wettstreit der Parteien zu entscheidenden Determinanten von Wahlerfolgen bzw. -misserfolgen machen können, sodass Wahlausgänge gleichsam darüber entscheiden, ob und welche Wirtschaftspolitik schließlich umgesetzt wird. Wirtschaftspolitik muss also in einen polit-ökonomischen Zusammenhang gestellt werden, der im Folgenden ausgeführt werden soll.

Das Agenda-Modell der Politischen Ökonomie geht von der Annahme an Eigeninteresse orientierter Teilnehmer am politischen Markt (also Parteien und Wähler) aus, unterstellt aber gleichzeitig, dass Wähler nur über unvoll-ständige Informationen verfügen und deshalb allenfalls beschränkt rational wählen können. Vor diesem Hintergrund werden Ideologien (also positive Gesellschaftsvisionen) zu unverzichtbaren Entscheidungsstützen in einer komplexen Umwelt. Ideologien bieten Interpretationsmuster in einer zunehmend unübersichtlichen Welt an. Parteien sind dann auch nicht bloß „Dienstleistungsunternehmen“, die ohne eigene Weltvorstellung ihre politischen Angebote unterbreiten, sondern Ideologieproduzenten, die durch klare Markenprägung dauerhafte Bindungsfähigkeit (Stammwähler) und Stimmenmaximierung gleichermaßen anstreben. Schließlich können die Präferenzen der Wähler unter diesen Bedingungen nicht als exogen gegeben angenommen und reines ‚pocketbook voting‘ weder als realistisches, noch als allgemeingültiges Verhalten unterstellt werden.

Das Wahlverhalten der Bürger hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab – von soziostruktureller Prägung (Milieus, die Parteiloyalitäten schaffen), Qualifikation und Informationsverarbeitungskapazität, einem kurzfristig als gegeben anzusehenden gesellschaftlich-hegemonialen Leitbild (Makro-Klima) und kurzfristig wandlungsfähigen, dominanten (wirtschafts-)politischen Paradigmen –, die in ihrer Gewichtung und Ausprägung selbstverständlich über die Zeit veränderlich sein können und individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Je geringer die Qualifikation und Informationsverarbeitungskapazität des einzelnen Wählers, desto größer die Abhängigkeit von Ideologien oder anderen prägenden Handlungsrationalen (z.B. Parteiloyalitäten und -identifikationen).

Unter diesen Bedingungen verliert nun der Median-Wähler an Prägekraft zugunsten des Partei-Median-Wählers. Dazu brauchen wir nur anzunehmen, dass sich hinter der zumeist unterstellten unimodalen Wählerverteilung eine klare ideologische Differenzierung (Lagerbildung) mit weitgehend abgeschotteter Wählerschaft verbirgt.10 Nun ist die zentripetale Tendenz der Parteiprogramme in Richtung Median-Wähler keineswegs gesichert, denn jede ideologische Standortveränderung einer Partei hin zum Median- und weg vom Partei-Median-Wähler (Stammwähler) läuft Gefahr, mehr Stimmen zu kosten als zu bringen. Dies hängt allerdings wesentlich vom quantitativen Verhältnis von Stamm- zu Wechselwählern einerseits und der Mobilität11 des Stammwählers ab. Je höher die Mobilität des Stammwählers ist, desto geringer die Gefahr des übermäßigen Stimmverlustes und desto größer folglich die Prägekraft des Median-Wählers.

In einer Welt, in der die Wahlentscheidungen der Individuen hochgradig von der Fähigkeit der Parteien bestimmt werden, ihre Politik – und dies impliziert ideologische Visionen (Welt- und Leitbilder) gleichermaßen wie Handlungsprogramme mittlerer Reichweite (für das politische Tagesgeschäft) – zu vermarkten, kommen der Kommunikation und, insbesondere, den Kommunikationsmedien eine ganz besondere Bedeutung zu. Medien sind dabei keine neutralen Vermittler zwischen den Parteien und dem Wähler, sondern filtern und formen in wesentlichem Maße die Informationen und ideologischen Positionen, die sie nach verschiedenen Gesichtspunkten transportieren.

Die zentrale Rolle der Medien zwingt der (Wirtschafts-)Politik eine Unterordnung auf, die bereits als „Kolonisierung“ beschrieben wird und den Agenda-Setting- wie Agenda-Building-Prozess zu einer Art Politainment (vgl. Dörner 2001) macht. Damit werden besondere Anforderungen an die (Wirtschafts-)Politik gestellt, die jenseits jeder ökonomischen Zweckrationalität liegen:

- Inszenierungspotenzial der Politikinhalte (Symbole, Neuigkeitswert, etc.);

- Inszenierungsfähigkeit der politischen Eliten (Promotoren);

- Kampagnefähigkeit der politischen Partei als Organisation.

Nun rücken die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Blickpunkt, unter denen der medial gesteuerte Agenda-Building- und Agenda-Setting-Prozess abläuft: Gesellschaftlich-hegemoniale Leit- bzw. Weltbilder (Makro-Klima) wie Kollektivismus oder Individualismus, Markt- oder Staatsskepsis, Solidarität oder Wettbewerbsorientierung müssen für den an Wahlzyklen orientierten Politikprozess zu-nächst als gegeben vorausgesetzt werden. Das Makro-Klima stellt so etwas wie einen Wahrnehmungsfilter dar. Daneben existieren dominante Themenrahmungen bzw. Policy-Programme – Mikro-Klima – wie Angebots- oder Nachfragepolitik, Preis- oder Konjunkturstabilisierung, Defizit-spending oder Null-Defizit, an deren Formung die Medien wesentlich beteiligt sind. Zwischen Mikro- und Makro-Klima bestehen zwar klar erkennbare Bezüge innerer Konsistenz, doch keine direkten Abhängigkeiten.

In der Agenda-Theorie spielen zwei Begriffe eine besondere Rolle, deren genaue Bedeutung herausgestellt werden soll: das Makro-Klima und das Mikro-Klima. Als Makro-Klima hatten wir dominante Welt- und Leitbilder definiert, die als political constraint einen kurzfristig gegebenen Wahrnehmungsrahmen beschreiben, als Mikro-Klima wurden die wesentlich medial erzeugte öffentliche Meinung, herrschende bzw. hegemoniale Policy-Programme umschrieben, die den Agenda-Setting-Prozess ausmachen. Das Framing-Konzept kann uns nun etwas Einblick gewähren in diesen Teil des wirtschaftspolitischen Marketings zwischen Agenda-Building und Agenda-Setting.

Unter Framing wird die „Vereinfachung komplexer Strukturen und deren Zuspitzung zu Entscheidungsalternativen“ (vgl. Seibel 2002: 225) oder eine „allgemeine(n) Konstruktion von Zuständen, Prozessen und Bewertungen einer gedachten konstruierten Realität“ (Ebert 2001: 251) verstanden. Das Framing ist also ein Kommunikationsprozess, der in einer unübersichtlichen, komplexen Welt zwischen dem Auftreten von (ökonomischen) Problemen und deren (wirtschaftspolitischer) Bekämpfung die Problemwahrnehmung, die Probleminterpretation (auf der Policy-Ebene), die Instrumenten-Vermittlung und die Inszenierung stellt. Gewöhnlich werden nun verschiedene Frametypen als verschiedene, aufeinander aufbauende Vorstrukturierungen der konstruierten Realität differenziert.

Frametyp I: Hiermit sind (wirtschafts-) politische Konzeptionen als Grundlinien der Realitätsinterpretation gemeint, wie sie sich aus dem Regierungshandeln direkt ergeben bzw. in deren Rahmen wir Regierungshandeln wahrnehmen.

Frametyp II: Die handelnden Akteure – politische Parteien, deren Repräsentanten oder auch Verbände (Lobbies) – versuchen Interpretationssicherheit durch ideologische Differenzierungen, Wertprägungen etc. zu erreichen. Indem sie Konnotationen schaffen, leisten sie sich ein Markenimage, das in dem Vertrauensmarkt Politik Bindungen schafft.

Frametyp III: Hierbei handelt es sich um die großen, gesellschaftlichen Grundwertvorstellungen, über die – zumindest im kurz- bis mittelfristig orientierten Politikprozess – nur selten explizit gesprochen wird, sondern über die es unausgesprochene Vorverständigungen gibt.

Der metakulturelle Frametyp III bestimmt weitgehend das Makro-Klima, der Frametyp II bestimmt die ideologische Verortung (und Vermarktung) der politischen Parteien – auch dieser Frametyp zeigt ebenfalls großes Beharrungsvermögen, da eine ideologisch schwankende Partei wenig Interpretationssicherheit bieten kann und deshalb kaum Vertrauen gewinnen können wird. Allerdings können sich die Frametypen II mittel- bis langfristig durchaus verändern, wenn beispielsweise der Frametyp III eine Wandlung der gesellschaftlichen Werte und Orientierungen festhält. Frametyp I schließlich bestimmt den Wahrnehmungsrahmen, in dem (Wirtschafts-)Politik stattfindet bzw. nur handlungsmächtig werden kann. Er beschreibt so etwas wie die Bildung eines Common Sense als Interpretationsschema und Handlungsrational. In Erweiterung des Agenda-Building-Prozesses kommt es also nicht nur darauf an, wirtschaftspolitische Probleme zu identifizieren und zu adressieren – also auf die politische Agenda („worüber man spricht“ und wofür Lösungen erwartet werden) zu bringen –, sondern auch die Problemwahrnehmung zu formen (bzw. zu rahmen = framing) und damit Lösungsansätze und Frametypen II zu präjudizieren.

Das wesentliche Problem des Agenda-Ansatzes der Politischen Ökonomie liegt darin, dass er keine präskriptive Theorie zu liefern vermag, die klare Wahl(ausgangs-)prognosen oder Policy-Prognosen machen könnte. Es gelingt ihm deshalb allenfalls, tentative Aussagen und wahltaktische Perspektiven zu liefern.12 Damit ist er aber dennoch durchaus in der Lage, interessante Einsichten darüber zu liefern, inwieweit (wirtschafts-)politische Handlungsprogramme tatsächlich politik- bzw. wirkungsmächtig werden: Dies hängt wesentlich ab

- von der Passgenauigkeit der wirtschaftspolitischen Politikprogramme (Frametyp II) in die vorherrschenden Welt- bzw. Leitbilder (Frametyp III) und dominanten Realitätsinterpretationen (Frametyp I);

- vom „Leadership“-Potenzial der Politikakteure und Parteiorganisation, das sich u.a. in deren Inszenierungsfähigkeit zeigt.

 

Die kurze Historie des Keynesianismus in Deutschland ...

Bevor wir uns der kurzen Geschichte des Key-nesianismus13 in Deutschland zuwenden wollen, muss darauf verwiesen werden, dass mit Keynesianismus nicht lediglich ein mehr oder weniger konkret zu beschreibendes Instrumentarium der Wirtschaftspolitik gemeint ist, sondern eine bestimmte Realitätsinterpretation (vgl. Hall 1989b: 362): (1) Er verwirft die tradierte Vorstellung einer sich selbst stabilisierenden Wirtschaft, in der nach Eigennutz strebende Individuen durch dezentrale Marktkoordination gesamtwirtschaftlich optimale Ergebnisse erzwingen. Damit tritt der Keynesianismus nicht nur fundamental in einen Gegensatz zum Neo- oder Ordoliberalismus, er bereitet auch die theoretische Grundlage für ein neues Staatsverständnis vor. (2) Der Staat in seiner Rolle als wirtschaftspolitischer Akteur ist nicht länger Nachtwächter bzw. bloß Ermöglicher, sondern er muss die pluralen Interessen heterogener Gesellschaften zu (wirtschaftspolitischen) Zielen bzw. Zielbündel aggregieren und Zielkonflikte minimieren (gewöhnlich im Rahmen des sogenannten „magischen Vierecks“), um dann durch aktive Marktteilnahme nach deren Verwirklichung zu streben. (3) Hieraus schließlich ergibt sich jenes spezifische instrumentelle Design – nachfrageorientierte Globalsteuerung, Unsicherheit reduzierende Institutionenbildung und erwartungsstabilisierende Verhaltensabstimmung (vgl. Heise 2005: 77ff.), die zeitgenössisch als „Vollbeschäftigungspolitik“ bezeichnet wurden –, das in seinen konjunkturpolitischen Bestandteilen (z.B. temporäre geldpolitische Eingriffe oder infrastrukturelle Staatsausgaben) durchaus mit moderaten Varianten des Neo- bzw. Ordoliberalismus vereinbar erscheint und deshalb, bei Vernachlässigung der paradigmatischen Unterschiede, gelegentlich zu Interpretationsunsicherheiten führt. So kann beispielsweise die konjunkturpolitische Diskussion seit Anfang der 1960er Jahre im personell von ordoliberalen Ökonomen um Alfred Müller-Armack dominierten Bundeswirtschaftsministerium keineswegs als Hinweis auf das Eindringen keynesianischer Gedanken gedeutet werden – und auch der seit 1964 vorliegende Referenten- und spätere Gesetzesentwurf eines Stabilitätsgesetzes der CDU/CSU-FDP-Regierung unter Kanzler Ludwig Erhard (vgl. z.B. Altmann 2004: 38) entspringt nicht, wie man bei großer Namensähnlichkeit meinen könnte, dem sich andeutenden Siegeszug des Keynesianismus, sondern ist ein durch und durch ordoliberaler Entwurf, der Vollbeschäftigungspolitik ausdrücklich ablehnt14: Geradezu antagonistisch wird der Erhard’sche Entwurf des Stabilitätsgesetzes auch als „Bremsgesetz“15, das später verabschiedete Schiller’sche StabG hingegen als Wachstumsgesetz bezeichnet (vgl. Nützenadel 2005: 309).16,17

Der Keynesianismus steht also im Gegensatz zum Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnis des Neo- bzw. Ordoliberalismus, er kann aber genauso scharf vom Marxismus abgegrenzt werden: Mit dem Neo- bzw. Ordoliberalismus teilt er die Betonung individueller Entscheidungsfreiheit im Rahmen marktlicher Koordination, ohne deren Selbstregulierungsversprechen zu akzeptieren. Mit dem Marxismus teilt er die Betonung der Krisenhaftigkeit unregulierter Marktprozesse, ohne aber dessen Untergangspessimismus zu teilen; und folglich lässt sich auf der Basis des Keynesianimus auch keine Systemalternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft herleiten. Frenzel (2004) bezeichnet diese als „policies within markets“, die dem marxistischen „policies against markets“ genauso entgegengestellt werden können wie dem neo- bzw. ordoliberalen „policies favouring markets“. Genau in dieser intermediären Position des Keynesianismus freilich bestand lange Zeit sein Umsetzungsproblem in Deutschland: Das konservativ-liberale Politiklager in Westdeutschland hatte sich – nach ersten Wirrungen18 – schnell den ordoliberalen Vorstellungen der ‚Freiburger Schule‘ von Walter Eucken, Franz Böhm und Wilhelm Röpke angeschlossen, die unter dem Schlagwort ‚soziale Marktwirtschaft‘ vor allem von Ludwig Erhard massiv vermarktet wurden und die frühe Entwicklung der jungen Bundesrepublik prägten. Die deutsche Sozialdemokratie tat sich noch lange Zeit nach der Rückkehr aus dem politischen Exil während der Nazizeit schwer damit, die spätestens seit dem Erfurter Programm von 1891 bestehende Dichotomie zwischen einem pragmatischen, systemimmanenten Politikverständnis einerseits und einem marxistisch fundierten Sozialismusbild andererseits zu überwinden (vgl. Klotzbach 1982: 25). Zweifellos hatten führende Theoretiker der SPD während ihrer Exilzeit in London intellektuellen Zugang zur Theorie von Keynes erhalten19, und auch frühe wirtschaftspolitische Aktionsprogramme tragen bereits eine „keynesianische Handschrift“20, doch blieb bis 1959 die Vorstellung in der SPD dominant, dass nur die Einschränkung von marktlichem Wettbewerb und der privateigentümlichen Verfügungsrechte über Produktionsmittel die selbstzerstörerischen Auswirkungen des Kapitalismus beseitigen könne. Damit freilich machte sich die SPD hochgradig angreifbar für Kollektivismusvorwürfe seitens des konservativ-liberalen politischen Gegners und sendete gleichzeitig höchst diffuse Signale aus – hier markterhaltender (korrigierender) Pragmatismus, dort marktzersetzende (-überwindende) Programmatik.21 Es kann gemutmaßt werden, dass hierin die wesentlichen Gründe zu suchen sind, weshalb die größte aus der Weimarer Republik bekannte Partei, die darüber hinaus mit Kurt Schumacher über einen bekannten, populären und als integer erachteten Proponenten verfügte, vor dem Hintergrund einer mehrheitlich an sozialer Gerechtigkeit interessierten Wählerschaft in der direkten Nachkriegszeit keine politischen Mehrheiten organisieren, ja nicht einmal in Zeiten der Parteienpluralität im konservativ-liberalen Lager (bis 1953) stärkste Partei werden konnte.22

Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Dirigismus einer Kriegswirtschaft und den Anfängen einer sozialistischen Planwirtschaft in Ostdeutschland sowie dem verbreiteten Wunsch breiter Bevölkerungskreise nach Rückzug in die politik- und staatsfreie Privatheit, war es für die konservativ-liberalen Parteien ein Leichtes, jegliche Formen staatlicher Interventionen als „Kollektivismus“, „Planung“ bzw. „Planwirtschaft“ zu denunzieren und gleichzeitig die mit dem nicht unumstrittenen Adjektiv ‚sozial‘ versehene eigene Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption mehrheitsfähig zu machen. Sicher hat auch der scheinbare Erfolg der „sozialen Marktwirtschaft“ – als „deutsches Wirtschaftswunder“ geradezu zum Gründungsmythos der jungen Bundesrepublik geworden – dazu beigetragen, dass die SPD in den ersten drei Bundestagswahlen bei etwa 30 Prozent stagnierte. Die entscheidende Wende kam 1959, als nach langem und kontroversem Diskussionsprozess das Godesberger Programm verabschiedet wurde, worin nicht nur (1) „marxistischer“ ideologischer Ballast (Carlo Schmid) abgeworfen und zugunsten einer zeitgemäßen Reinterpretation der sozialdemokratischen Werte „Solidarität“, (soziale) „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“ in Form von „Vollbeschäftigung(-sversprechen)“ als aktive und umverteilende Sozialpolitik und Mitbestimmung konsistent innerhalb der marktwirtschaftlichen Systemgrenzen revidiert wurde. Mit dem Keynesianismus fand sich dabei eine glaubwürdige, seriöse wissenschaftliche Grundlage. (2) Statt einer marxistischen Klassenanalyse wurden „Grundwerte und Grundforderungen“ formuliert, „die auf unterschiedliche Weise religiös und philosophisch begründet werden können“ (Miller 1975: 37), und (3) schließlich öffnete sich die Partei von der mitgliederfixierten Klassen- bzw. Arbeiterpartei zu einer stärker wählerorientierten Volkspartei (vgl. Walter 2002: 191). Insbesondere die Bindungskraft im eigenen Wählerlager und bei Neu- und Jungwählern nahm tatsächlich spürbar zu (vgl. ebd.: 186) – bei den beiden nächsten Bundestagswahlen 1961 und 1965 stieg der Wählerzuspruch um fast 3,5 Mio. Stimmen bzw. 7,5 Prozentpunkte –, dennoch brauchte es trotz des ebenfalls vorhandenen, äußerst beliebten und glaubwürdigen Personals (Brandt, Schiller) nochmals fast eine Dekade, bis die Sozialdemokratie zunächst als Juniorpartner, dann führend Regierungspartei sowie in Form des StabG der Keynesianismus handlungsmächtig wurde. Im nächsten Abschnitt soll eine Erklärung hierfür geliefert werden; zunächst noch ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik bis Ende der 1960er Jahre.

Borchardt (1990) sieht mit der Konjunkturkrise der Jahreswende 1966/67 – die den Weg für die Kombination von Sozialdemokratie und Keynesianismus bahnen sollte – tatsächlich eine Zäsur in der bundesdeutschen Wirtschaftsentwicklung: Einerseits beginne die Industriebeschäftigung dauerhaft zu sinken, womit sich der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft andeute, andererseits erreiche die Investitionstätigkeit ihren historischen Höhepunkt. Und die wirtschaftspolitische Zäsur liege in der Verabschiedung des StabG und des fortan defizitären öffentlichen Haushalts. Betrachtet man hingegen mit Glastetter et al.(1983: 47ff.) die Konjunkturzyklen der bundesdeutschen Wirtschaftsentwicklung, so fällt deren Regelmäßigkeit auf: 1967 endet der vierte Zyklus, der sich in seinem Muster und seiner Dauer kaum von den davorliegenden Zyklen unterscheidet. Allerdings flacht sich der Wachstumstrend kontinuierlich ab, sodass der untere Konjunkturwendepunkt 1967 erstmals ein Nullwachstum erbringt, während es in den Abschwungphasen 1954, 1958 und 1963 immer noch Wachstumsraten zwischen 7,5% und 2,5% gegeben hatte. Dennoch dürfte, gerade gemessen an den von Borchardt genannten Indikatoren (Industriebeschäftigung, Investitionsquote, Haushaltssaldo), eine Zäsur, die einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel angebracht erscheinen lässt, besser Mitte oder gar Ende der 1970er Jahre (also mit den beiden Ölpreiskrisen) anzusetzen sein, statt im Jahre 1966 (vgl. Lindlar 1997: 11).

 

… im gesellschaftlichen Kontext

Wenngleich also die Verabschiedung des StabG am 8. Juni 1967 einerseits keineswegs als quasi funktional-automatische Reaktion auf die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik gesehen werden kann, andererseits die „himmlische Verknüpfung“ von Keynesianismus und Sozialdemokratie im Godesberger Programm von 1959 allein die SPD nicht strukturell mehrheitsfähig machte, dürfte – wie wir gleich argumentieren werden – sowohl die konjunkturelle Delle 1966/67 ebenso ein letzter Impuls für den Durchbruch des Keynesianismus als wirtschaftspolitisches Handlungsprogramm in der Bundesrepublik gewesen sein, wie seine konzeptionelle Adaption durch Karl Schiller in der SPD die ordoliberale „soziale Marktwirtschaft“ der CDU/CSU zunehmend unter Anpassungsdruck setzte: Bereits Anfang der 1960er Jahre wurden im Bundeswirtschaftsministerium unter Minister Ludwig Erhard und Staatssekretär Alfred Müller-Armack Überlegungen zu einer 2. Phase der sozialen Marktwirtschaft angestellt, die den Schiller’schen Keynesianimus kontern sollten und schließlich in Erhards „formierter Gesellschaft“ mündeten (vgl. Nützenadel 2005: 279ff.; Hildebrand 1984: 162ff.). Im Gegensatz zu Schillers Keynesianismus hält Erhards Ordoliberalismus allerdings eine inhärente Krisenhaftigkeit der Marktwirtschaft für ausgeschlossen und deshalb eine um öffentliche Investitionen in ‚Gemeinschaftsaufgaben‘ (Infrastruktur, Bildung) und mit Maßhalteappellen angereicherte Preisstabilitäts- und Wettbewerbspolitik für ausreichend, um die Wachstumsentwicklung der jungen Bundesrepublik in die nächsten Dekaden zu verlängern. Besonders im Krisenjahr 1966 erscheint diese Realitätskonstruktion wenig überzeugend; und die CDU/CSU im Allgemeinen und Ludwig Erhard als damaliger Bundeskanzler im Besonderen verlieren dramatisch an wirtschaftspolitischer Glaubwürdigkeit und Kompetenz.

Dass die SPD nun zunächst als Juniorpartner in der Großen Koalition (1966–1969) und dann als führende Kraft in der sozial-liberalen Koalition (1969–1982) gerade in wirtschaftspolitischen Fragen handlungsmächtig wurde, lässt sich nicht allein durch die Existenz einer Politikalternative erklären, sondern ist einem komplexen Zusammenspiel gesellschaftlicher Entwicklungen geschuldet, das auf agenda-theoretischer Grundlage sichtbar gemacht werden kann:

(1) Zur besseren Einordnung, Verarbeitung und Bewertung der vielfältigen Informationen über Entwicklungen in allen möglichen gesellschaftlichen Subsystemen bilden sich „Weltanschauungen“ oder „Weltbilder“ heraus23, die in der Agenda-Theorie der metakulturelle Frametyp III beschreibt: Waren die 1950er Jahre wesentlich durch die Dominanz individualistischer, staats-, planungs- und kollektivismusfeindlicher Vorstellungen geprägt, so wandeln sich im Laufe der 1960er Jahre die Konnotationen, die staatlichen Interventionen in soziale und wirtschaftliche Abläufe beigefügt werden: Verstärkt durch planungstheoretische Entwürfe aus den USA (Wieners Kybernetik, Tinbergens Quantitative Wirtschaftspolitik) sowie staatliche Planungsversuche in Frankreich („Planification“) und den USA (Kennedys „New Economics“), werden geplante staatliche Eingriffe in gesellschaftliche und ökonomische Abläufe plötzlich zum Kernelement modernen Politikmanagements: „Staatliche Intervention galt nun … geradezu als Voraussetzung dafür, dass individuelle Freiheitsrechte wahrgenommen werden konnten“ (Metzler 2005: 17). Die Planung wirtschaftlicher Abläufe galt als „modern“, „rational“ und „langfristig orientiert“. Die ausgesprochen positiven Konnotationen staatlicher Eingriffe wurden insbesondere auch von den Massenmedien transportiert24 – die Dominanz der ‚Planungseuphorie‘ in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zeigt sich u.a. in der „linken Kritik“ der Studenten- und APO-Bewegung an der technokratischen Vereinnahmung des Individuums durch den „totalitären“ Staat (vgl. Baring 1982: 81).

(2) Metakulturelle Leitbilder bzw. herrschende Diskurse benötigen eine Unterfütterung im Sinne dominanter Handlungs- und Politikprogramme, die von den funktionalen Eliten – Wissenschaft, Verbände, Medien, Institutionen – bestimmt werden; in agenda-theoretischer Bezeichnung geht es also um den mikrokulturellen Frametyp I. Für den berühmten Ausspruch „We are all Keynesians now“ gab es in Deutschland keine breite Grundlage, war doch die ordoliberale Dominanz der Freiburger Schule in der deutschen Wissenschaft – gerade auch nach der Vertreibung kritischer jüdischer Wirtschaftswissenschaftler in der Nazizeit (vgl. z.B. Krohn 1997) – allzu stark. Diese Dominanz wurde in der akademischen Lehre und Forschung auch nie wirklich gebrochen, doch zeigte bereits die 1950er Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik („Die Problematik der Vollbeschäftigung“) in Bad Pyrmont, dass der Keynesianismus auch in Deutschland reflektiert wurde25 – und mit Erich Schneider und Erich Preiser hatte er wichtige und einflussreiche Proponenten.

Von größerer Diskurskraft als die universitäre Wissenschaft waren allerdings Forschungsinstitutionen und Beratungsgremien wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), der 1963 gegründete Sachverständigenrat (SVR) oder die Wissenschaftlichen Beiräte beim Bundeswirtschafts- und Bundesfinanzministerium, die – geprägt von der neueren US-amerikanischen wissenschaftlichen Diskussion um „keynesianische“ Konjunktursteuerung und finanzpolitische Interventionen („fiscal policy“) – eine Politik favorisierten, die Karl Schiller später „Globalsteuerung“ nennen sollte. Ob also die Mehrheit der deutschen Volkswirtschaftsprofessoren „Keynesianer“ waren, lässt sich ernsthaft anzweifeln; doch die mediale Kraft der institutionellen Vertreter war so groß, dass sie den Diskurs ab Mitte der 1960er Jahre keynesianisch prägen konnten.26

Die gesellschaftlichen Großorganisationen (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) hatten verständlicherweise sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Funktionsweise marktwirtschaftlicher Ökonomien: Die Gewerkschaften übernahmen – ähnlich der Sozialdemokratie – mit dem DGB-Grundsatzprogramm von 1963 weitgehend ein keynesianisches Ökonomieverständnis, das durch wirtschaftsdemokratische Elemente (Mitbestimmung) angereichert wurde, und sie unterstützten folglich keynesianisches Demand Management im Sinne der Schiller’schen Globalsteuerung nachhaltig (vgl. Netzband 1983). Die Arbeitgeberverbände hingegen standen dem Keynesianismus grundsätzlich skeptisch gegenüber, sahen in ihm ein Einfallstor für sozialistische Planwirtschaft und betonten die Systemwidrigkeit zum Selbstregulativ der Marktwirtschaft (vgl. ebd.: 225ff.). Gleichwohl hielt sich ihr Widerstand gegen die Kodifizierung des Keynesianismus in Form des StabG (‚superlex‘) in engen Grenzen, wenn nicht sogar von anfänglicher Unterstützung gesprochen werden muss.27 Dies lässt sich wohl nur verstehen im Kontext der fast schon panischen Reaktion breiter Bevölkerungskreise auf die 1966 einsetzende krisenhafte Entwicklung28 und die zunehmende Verunsicherung hinsichtlich der Strahlkraft des marktwirtschaftlichen Systems vor dem Hintergrund scheinbarer wirtschaftlicher Aufholprozesse der sozialistischen Ökonomien Osteuropas im Allgemeinen und der DDR im Besonderen sowie den Studentenprotesten, die eine marxistische Systemtransformation einforderten (vgl. Nützenadel 2005: 187ff.; Metzler 2005: 286f.).

In Anlehnung an Jan Tinbergens (1966: 48) Diktum, Wirtschaftssysteme hätten „bei einer möglichst gleichmäßigen Einkommensverteilung … den Volkswohlstand zu maximieren“, schien die Überlegenheit des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems nur glaubhaft, wenn vor allem krisen- und spannungsfreies Wachstum gesichert werden konnte, denn im Kriterium „möglichst gleichmäßige Einkommensverteilung“ lag zweifellos die Domäne der sozialistischen Systemkonkurrenten.29

Wie bereits erwähnt, hielt Adam Przeworski (1985) den Keynesianismus für ein ‚Geschenk des Himmels‘ für die Sozialdemokratie. Er meinte damit, dass der Keynesianimus versprach, die sozialdemokratischen Leitwerte „Gleichheit, (soziale) Gerechtigkeit und Solidarität“ in moderner Interpretation auf wissenschaftlich gesicherter Grundlage verwirklichen zu können, ohne auf eine quasi endzeitliche Systemtransformation warten zu müssen. Die hier vorgestellte agendatheoretische Grundlage macht nun deutlich, dass es weiterer ‚Geschenke des Himmels‘ – oder weniger pathetisch: positiver Rahmenbedingungen – bedurfte, um den Keynesianismus in Deutschland (kurzzeitig) in Gestalt des StabG handlungsmächtig zu machen: Das StabG passte sich gleichermaßen ideal in die herrschende Planungseuphorie und die daraus abgeleiteten Anforderungen an einen interventionistischen Staat einerseits und die medial transportierte Dominanz wirtschafts- und finanzpolitischer Handlungsprogramme andererseits ein, wie es vor allem in Schiller und seiner erneuerten SPD inszenierungs- und kampagnefähige Promotoren hatte, die in der Lage waren, eingängige Formeln und Symbole wie „Aufschwung nach Maß“, „soziale Symmetrie“, „Globalsteuerung“ oder „Politik der leichten Hand“ zu prägen und fest mit der eigenen (Wirtschafts-)Politik zu verknüpfen.

 

Sozialdemokratie und Keynesianismus, Keynesianismus und Sozialdemokratie

Bei der Wahl zum 5. deutschen Bundestag am 19. September 1965 erhielt die SPD 39,3% der Stimmen und fand sich trotz eines Zuwachses von 3,1 Prozentpunkten erneut in der Opposition wieder. Ludwig Erhards CDU/CSU hatte trotz des als misslungen angesehenen Wahlkampfes unter dem Slogan „formierte Gesellschaft“ 47,6% erhalten (plus 2,3 Prozentpunkte gegenüber 1961!) und konnte mit der FDP eine Koalitionsregierung stellen. Mit den sich Anfang des Jahres 1966 abzeichnenden konjunkturellen Krisentendenzen in der Bundesrepublik und der starren Verweigerung Erhards, konjunkturpolitisch einzugreifen, verlor der ‚Vater des Wirtschaftswunders‘ schlagartig an Vertrauen und wirtschaftspolitischer Kompetenzzuweisung30 – die nun scheinbar konsequente Übernahme der wirtschaftspolitischen Verantwortung durch die SPD in Person des neuen Wirtschaftsministers Karl Schiller benötigte aber noch das Scheitern der CDU/CSU-FDP-Koalition im Herbst 1966. Erstaunlicherweise geht dieses Scheitern nun aber nicht etwa auf Unstimmigkeiten zwischen jenen zurück, die aktivere Interventionen befürworteten, und jenen, die ordnungs- und wettbewerbspolitische Rigorosität vertraten, sondern auf Uneinigkeiten darüber, ob die im Zuge der krisenhaften Entwicklung ins Defizit geratenden öffentlichen Haushalte durch Steuererhöhungen (CDU/CSU) oder Ausgabenkürzungen (FDP) prozyklisch zu konsolidieren seien (Nützenadel 2005: 303f.). Dennoch dürfte die Absetzung Ludwig Erhards, der sich bis zuletzt gegen eine keynesianisch orientierte Politik und das StabG gewehrt hatte (vgl. Kloten 1996: 123), und die breite Zustimmung zum StabG auch durch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dafür sprechen, dass die Zeit für keynesianisches Demand Management im Frühjahr 1967 gekommen war und durch die SPD und Karl Schillers Wirtschaftsministerium entschlossen umgesetzt wurde.

Andererseits besteht weitgehende Einigkeit unter Wirtschaftshistorikern, dass das Stabilisierungs- und Wachstumsgesetz nicht ernsthaft für die schnelle konjunkturelle Erholung und Rückkehr auf den stetigen Wachstumspfad bereits Ende 1967 verantwortlich gemacht werden kann – dafür sind die Instanz- und Wirkungsverzögerungen geld- und finanzpolitischer Maßnahmen schlicht zu lang. Dennoch „entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass die wohldosierten Konjunkturspritzen des Staates die Wirtschaft wieder auf den Wachstumspfad zurückgeführt hätten. Das StabG schien seine erste Bewährungsprobe bestanden zu haben, und kaum jemand zweifelte noch an den Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Globalsteuerung“ (Nützenadel 2005: 327). Eine breite und durchweg positive mediale Berichterstattung über wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklungen verfestigte diesen Eindruck und verknüpfte ökonomische Kompetenz und Vertrauen untrennbar mit Wirtschaftsminister Karl Schiller und seiner Sozialdemokratie, die zunehmend für ein modernes Regieren der Zukunft stand.

Die Bundestagswahl 1969 war von ökonomischen Themen geprägt und kann, ganz anders als die auf Bundeskanzler Willy Brandt zugeschnittene Wahl von 1972, vor allem als ‚Schiller-Wahl‘ verstanden werden.31 Die überragende ökonomische Kompetenzzuweisung an die SPD, deren Grundlage das keynesianische StabG, vor allem aber dessen scheinbar erfolgreiche Applikation in der Konjunkturkrise 1967 war und die ihrerseits den sozialpolitischen Vorstellungen der SPD von ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Solidarität‘ das ökonomische Fundament lieferte, kann als Voraussetzung für die strukturelle Mehrheitsfähigkeit der SPD angesehen werden, indem das Wählerpotenzial des eigenen Lagers durch eine konsistente Markenprägung ausgeschöpft und neue Wähler (Jungwähler, mobile Wähler der Mitte) attrahiert werden konnten.32 Es muss zwar spekulativ bleiben, aber viel (insbesondere die Erfahrungen der ersten Hälfte der 1960er Jahre) spricht dafür, dass die SPD ohne den medial konstruierten Nachweis der Tauglichkeit ihrer keynesianischen Wirtschaftspolitik nicht mehrheitsfähig geworden wäre; ohne die oben beschriebenen Rahmenbedingungen (‚political constraints‘) hätte andererseits der Keynesianismus nicht zur ‚Magna Charta‘ der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik werden können. Mit der Veränderung dieser Rahmenbedingungen hat dann die SPD ihre strukturelle Mehrheitsfähigkeit und das bis heute gültige StabG seine realpolitische Handlungskraft wieder verloren.

 

Anmerkungen

1 „… sind aber die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie im Recht, als wenn sie im Unrecht sind, einflussreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht… Ich bin überzeugt, dass die Macht erworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen stark übertrieben wird.“ (Keynes 1983: 323)

2 ‚Keynesianismus‘ scheint allein als Bezeichnung besser geeignet als z.B. ‚Keynes’sche Wirtschaftspolitik‘, weil sich erstaunlicherweise in der ‚General Theory‘ kaum explizit wirtschaftspolitische Aussagen finden; es ist in erster Linie ein wirtschaftstheoretisches Buch. Die wirtschaftspolitische Konzeption, die als ‚Keynesianismus‘ oder ‚Nachfragepolitik‘ bekannt ist, geht im Wesentlichen auf die Interpretation der ‚General Theory‘ durch John Hicks, Alvin Hansen und Paul Samuelson zurück; vgl. z.B. Heise (2005: 107ff.).

3 „Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der großen Koalition entspricht wirtschaftstheoretisch dem Keynesianismus und politisch der Hybris des Glaubens an die Allmacht des Staates“ (Kaltefleiter 1996: 322).

4 Übrigens lässt sich die Verbindung von Keynesianismus und Sozialdemokratie (bzw. arbeitnehmerorientierter Partei) fast überall finden, wo keynesianische Politik betrieben wurde; vgl. Hall (1989b: 376ff.).

5 Genannt seien nur Abelshauser (2004); Altvater et al. (1979); Giersch et al. (1992); Deutsche Bundesbank (1998); Nützenadel (2005).

6 Ruck (2000: 385) konzediert dem StabG gleichermaßen die Wahrung der Kontinuität der deutschen Wirtschaftspolitik wie einen ‚Paradigmenwechsel‘ – letzteren sieht er aber nur in der symbolpolitischen Vermarktung der Wirtschaftspolitik durch Karl Schiller.

7 Damit soll in der Fokussierung dieses Artikels vor allem das StabG gemeint sein, es kann aber auch weiter gefasst werden im Sinne eines ‚institutionalisierten Keynesianismus‘: Globalsteuerung plus ausgebauter und umverteilender Wohlfahrtsstaat (vgl. z.B. Schmidt 1998: 43f.).

8 Vgl. dazu die umfangreichen Ausführungen bei Nützenadel (2005: 123ff.) über ‚die Stunde der Ökonomen‘. Karl Schiller (1955) beschreibt in seinem Der Ökonom und die Gesellschaft entsprechende Wirkungskanäle als Voraussetzung rationaler Wirtschaftspolitik.

9 Ein solches Verständnis wird von Frey/Kirchgässner (2002: 331ff.) als ‚technokratisch-elitäre Theorie der Wirtschaftspolitik‘ bezeichnet und zu Recht kritisiert: „Eine technokratisch-elitäre Planung ist notwendigerweise suboptimal, soweit sie die rationalen Reaktionen der nicht-staatlichen Entscheidungsträger nicht berücksichtigt“ (ebd.: 337).

10 Tatsächlich finden typischerweise Wählerwanderungen in deutlich stärkerem Ausmaß zwischen den Parteien eines Lagers oder zwischen den Parteien und dem Nicht-Wähler-Lager statt als zwischen den Parteilagern (vgl. Kloth 2005; Vester 2005: 15).

11 Unter ‚Mobilität‘ soll hier die ideologische Flexibilität innerhalb einer Parteiprägung verstanden werden.

12 Das allerdings entspricht den üblichen Anforderungen, die an Analysen des Wählerverhaltens bestenfalls gestellt werden und z.B. in der Standardreferenz zur Sozialdemokratie (Kitschelt 1994) auch nur eingelöst werden können.

13 Obwohl das StabG noch heute in Kraft ist, geht die überwiegende Mehrheit der Wirtschafts- und Zeithistoriker davon aus, dass eine Wirtschaftspolitik keynesianischer Provenienz – wenn überhaupt – erst spät und nur über wenige Jahre (nach 1966) betrieben wurde (z.B. Abelshauser 1987; Allen 1989: 273ff.; Dillard 1985). Berger (1997) hingegen sieht den Keynesianismus auch in Deutschland bereits frühzeitiger und langfristiger die wirtschaftstheoretische Debatte und wirtschaftspolitische Praxis beherrschen.

14 Karl Schiller schrieb in einem Buchmanuskript, das nie veröffentlicht wurde, dazu: „Der vorgelegte Regierungsentwurf für das Stabilitätsgesetz war nicht nur – wie schon der Titel verriet – einseitig ausgerichtet, sondern er war auch sonst in vielerlei Hinsicht unzulänglich. … Man merkte dem Entwurf jedoch an, dass ein umfassendes Konzept einer modernen Globalsteuerung fehlte“ (Schiller o.J.: 8).

15 Die wesentlichen Instrumente des Stabilitätsgesetz-Entwurfs waren die ‚Konjunkturausgleichsrücklage‘ und die Kreditbeschränkung der öffentlichen Haushalte.

16 Die Änderungen und Ergänzungen sind nachzulesen in: BAK, B102/93258.

17 „Müller-Armack spricht von Konjunkturpolitik – das tat auch Erhard, das war damals allgemein üblich. Das damit Gemeinte hatte indes nichts mit systematisch angelegter Konjunkturpolitik im Sinne der späteren ‚Antizyklik‘ zu tun … Was ordnungspolitisch zu erreichen ist, braucht nicht mit prozesspolitischen Korrekturen verfolgt zu werden“ (Kloten 1996: 100).

18 Als solche kann wohl das Ahlener Programm der CDU (im britischen Sektor) von 1947 gelten, in dem dem Kapitalismus eine Absage erteilt und für einen christlichen Sozialismus plädiert wurde. Bereits 1948 wurden die Inhalte des Ahlener Programms allerdings durch die ‚Düsseldorfer Leitsätze‘ ordoliberaler Provenienz ersetzt (vgl. Grote 1978).

19 Als besonders einflussreich muss hier Richard Löwenthal angesehen werden, der unter dem Pseudonym Paul Sering (1947) seine keynesianisch inspririerten Ideen Jenseits des Keynesianismus veröffentlichte; vgl. z.B. Held (1982: 184ff.)

20 So das Aktionsprogramm, beschlossen auf dem Parteitag 1952 in Dortmund und erweitert auf dem Berliner Parteitag 1954 – im Teil ‚Wirtschaftspolitik‘ findet sich bereits die Schillersche Leitregel ‚Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig‘; vgl. Dowe/Klotzbach (1984: 329), außerdem z.B. Miller (1975) und Held (1982: 235ff.).

21 Eduard Heimann (1963: 190) schrieb dazu: „Der Widerwille gegen die üppig wuchernden Kontrollen der Hitler-, Kriegs- und Besatzungszeit legte einen radikalen Liberalismus nahe, um so mehr, als die sozialistische Opposition durch die Assoziation jeglicher Kontrollidee mit jenen unseligen Erinnerungen desorientiert war und nicht sogleich ein alternatives Programm zur Wahl stellen konnte.“

22 Noelle-Neumann (1996: 626) beschreibt diese Entwicklung aus Sicht des politischen Gegners der Sozialdemokratie: „Da nun in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Deutschland der Zeitgeist sich links niedergelassen hat, so war es unvermeidlich, dass Erhard ‚unzeitgemäß‘, ‚anachronistisch‘ schien, ein ‚Kämpfer gegen den Strom der Zeit‘, und vor diesem Hintergrund lässt sich erkennen, dass eine Durchsetzung seines Gedankens von der sozialen Marktwirtschaft wirklich einem Wunder gleichkam: einem Wirtschaftswunder in neuem Sinn.“ Auch dieses ‚Wunder‘ ließe sich zweifellos auf einem agenda-theoretischen Modellrahmen untersuchen; dies soll hier aber nicht weiter verfolgt werden.

23 „Weltanschauungen bilden sich vor dem Hintergrund faktischen Nichtwissens heraus; erst durch den Versuch, die Unzulänglichkeit des verfügbaren Faktenwissens durch Postulate und Theorienbildung zu überbrücken, erhält die Weltanschauung ihre philosophische Begründung“ (Hecht 1996: 87).

24 In der ZEIT etwa schreibt Wolfgang Krüger (1963): „Planung ist nicht nur möglich, sondern dringend erforderlich“, und selbst in der FAZ erscheinen Artikel unter Titeln wie ‚Planung ohne Planwirtschaft‘ (Schaufuss 1962).

25 „Im allgemeinen schreibt man ja dieser Tagung die Funktion zu, für einen wissenschaftlichen Durchbruch der Keynesschen Lehre in Deutschland gesorgt … zu haben. … Es ist durchaus strittig, wieweit dieser Einschätzung zuzustimmen ist“ (Ramser 1983: 12).

26 Die Beurteilung dieser Gremien als ‚keynesianisch‘ muss sich aus heutiger Sicht einigermaßen sonderbar ausnehmen, liest man die Gutachten und Veröffentlichungen der letzten beiden Dekaden und die Kritik daran (z.B. Hickel/Mattfeldt 1983; Meißner 1980) – allerdings wird ausdrücklich betont, dass es in den 1970er Jahren in der Politikberatung eine ‚konservative‘ (ordoliberale bzw. angebotspolitische) Wende gegeben hat. Exemplarisch beschreibt das ordoliberale Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums Günther Schmölders die keynesianische Orientierung seines Gremiums: „Ich stand zusammen mit den wenigen anderen Gegnern dieser leichtfertigen Finanzpolitik des Wohlfahrtsstaates fast allein; hatten noch Gerloff und Terhalle, die beiden ersten Vorsitzenden des Beirats, mir weitgehend zugestimmt, so blieb ich mit Stucken und Ritschl letztlich allein gegenüber der Front derer, die sich zu Fürsprechern dieser kurzfristigen und kurzsichtigen Heilslehre der Finanz- und Wirtschaftspolitik machten“ (Schmölders 1988: 128; vgl. u.a. Nützenadel 2005: 126f.).

27 Die paradigmatische Unvereinbarkeit des StabG mit neo- bzw. ordoliberalen Grundsätzen versuchte man bewusst zu überspielen: „Eine so verstandene Globalsteuerung ist Bestandteil des neoliberalen Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft“ (BAK 102/93259), schrieb die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft in ihrer Stellungnahme.

28 So schoss die Sorge um Arbeitslosigkeit von Platz 16 der ‚drängenden Probleme‘ im Januar 1966 auf Platz 1 im Februar 1967 (vgl. Schlenkuhn 1985: 456). Trotz des lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs der späten 1950er und der 1960er Jahre war die Sorge um Entwicklungen wie am Ende der Weimarer Republik noch allgegenwärtig und das Vertrauen in die Marktkräfte leicht zu erschüttern (vgl. Metzler 2005: 316).

29 Die Bedeutung der Systemkonkurrenz sollte nicht unterschätzt werden, denn sie reduzierte zweifellos ‚politische Barrieren der Vollbeschäftigungspolitik‘ (vgl. Kalecki 1943; Heise 2006), die später als Unvereinbarkeit von Gleichheit und Effizienz bekannt werden sollten.

30 Dies wurde insbesondere deutlich durch die großen Verluste der CDU in der NRW-Landtagswahl vom 10. Juli 1966, in der Ludwig Erhard und seine Wirtschaftspolitik eine prominente Rolle gespielt hatten; vgl. Hildebrand (1984: 206).

31 So standen im Wahlkampf Themen wie die Aufwertung der DM im Zentrum der Auseinandersetzung – also sehr spezielle ökonomische Fragestellungen, in denen der Wirtschaftsprofessor Schiller höchste Kompetenz und Glaubwürdigkeit genoss.

32 „Die neue Mittelschicht aber fand … schnell einen neuen Star: den Wirtschaftsminister und Sozialdemokraten Karl Schiller. Schiller holte die neue Mitte in das Wählerlager der SPD, erweiterte es dadurch und schuf so die wesentliche Voraussetzung für den Wechsel im Bonner Kanzleramt von Kiesinger zu Brandt“ (Walter 2002: 185).

 

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Prof. Dr. Arne Heise, Universität Hamburg, Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien (ZÖSS)

 

aus: Berliner Debatte INITIAL 19 (2008) 1/2, S. 130-143