Europa sichert sein Territorium
Während europabegeisterte ZeitgenossInnen eine schwerwiegende Integrationskrise des europäischen Projektes konstatieren, kommt die Abschottung des Kontinents vor unerwünschten Gästen schnell voran
Scheinbar ist Europa ins Stocken geraten. Der Vorschlag einer Verfassung lag nach dem ablehnenden Votum in den Niederlanden und Frankreich lange Zeit auf Eis. Die Neuauflage in Gestalt des sogenannten Grundlagenvertrages war weniger durch Harmonie als vielmehr durch die "Differenzen" zwischen Polen und Deutschland geprägt, während Großbritannien der Grundrechtecharta ablehnend gegenüber steht. Eine europäische Außenpolitik will auch nicht recht glücken, ganz zu schweigen - vor dem Hintergrund der Kontroversen um das Rakentenabwehrschild der USA in Osteuropa - von einer gemeinsamen Sicherheitspolitik. Und eine gemeinsame europäische Identität ist auch noch nicht konstruiert worden. In vielen Bereichen besinnt man sich doch noch lieber auf den guten alten Nationalstaat. Indes erscheint die Asyl- und Flüchtlingspolitik als zweifelhaftes Vorbild einer effektiven Europäisierung. Zum einen hat die Europäische Gemeinschaft (EG) im Bereich des Asylrechts in den letzten Jahren eine Vielzahl von Richtlinien und Verordnungen verabschiedet. Zum anderen ist der Schutz der Außengrenzen in Ost- und Südeuropa längst keine alleinige Domäne der Einzelstaaten mehr. Ein großer Teil der Kooperation wird von europäischen Institutionen vorgenommen.Auf dem Weg zu einem europäischen Asylrecht
Ursprünglich ist das gesamte Ausländerrecht alleinige Domäne der Nationalstaaten. Die Verwirklichung des Binnenmarktes unter dem Abbau von Grenzen innerhalb der EG führte jedoch seit den achtziger Jahren zu einer zunehmend zwischenstaatlichen Abstimmung auch der Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa.Frontex
Die Zahl der Menschen, die nach Europa wollen, nimmt aber auch vor dem Hintergrund einer noch so restriktiven Asylpolitik nicht ab. Die Europäische Union (EU) sieht sich nach wie vor mit dem Zustrom von Flüchtlingen konfrontiert, zuletzt insbesondere vor den Küsten Italiens und Spaniens. Als Reaktion auf die Flüchtlingsbewegungen wurde in Brüssel mit einer Verordnung aus dem Jahre 2004 die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der EU eingerichtet.3 Sie wird gemeinhin mit dem Kürzel ‚FrontexÂ’ (Frontières Extérieures) bezeichnet, und hat ihren Sitz in Warschau. Erklärtes Ziel ist die operative Zusammenarbeit im Zusammenhang mit dem "Schutz" der Außengrenzen Europas, sowohl zwischen den Mitgliedsstaaten selbst als auch zwischen den Mitgliedsstaaten und angrenzenden Drittstaaten. Im Rahmen des Projekts ‚Sea HorseÂ’ wurde bereits eine derartige Zusammenarbeit zwischen den afrikanischen Staaten Mauretanien, Marokko und dem Senegal, sowie Spanien auf der anderen Seite beschlossen. Inhalt ist, durch gemeinsame Patrouillen und regelmäßigen Dialog, den zunehmenden Strom von AuswandererInnen über diese Region zu verhindern. Die ersten direkt von Frontex koordinierten Einsätze fanden 2006 statt:4 Bei den Grenzschutzaktionen "Hera I und II" waren BeamtInnen aus insgesamt sieben EU-Staaten an der Sicherung des spanischen Territoriums beteiligt. Die Aktion mit dem Decknamen "Jason I" bezeichnete eine ähnliche Kooperation vor den Grenzen Griechenlands und Maltas. Die spanische Regierung gab im Zuge der Aktionen vor, es hätten allein gewaltlose Patrouillen stattgefunden.5 Indes ist zweifelhaft, wie sich volle Flüchtlingsboote allein durch Überredungskünste auf Hoher See von einer Weiterfahrt abhalten lassen. Während sich Frontex gegenwärtig noch auf Koordinationsaufgaben beschränkt, ist langfristig nicht auszuschließen, dass die Agentur den Schutz der Außengrenzen teilweise oder gar vollständig eigenständig ausführt, und zu diesem Zwecke einen eigenen Stab von BeamtInnen erhält. Dies hält auch der derzeitige Exekutivdirektor von Frontex, Ilkka Laitinen, nicht für gänzlich ausgeschlossen.6 In jedem Fall wäre dies angesichts des klaren Konsenses hinsichtlich möglichst sicherer Grenzen kein abwegiges Szenario.Weitere Kooperation mit Grenzländern
Daneben werden seitens der betroffenen europäischen Grenzstaaten weitere Anstrengungen unternommen, in Zusammenarbeit mit den Staaten jenseits der EU zu treten, um die Außengrenzen "sicherer" zu machen. Besonderen Anlass gaben die massiven Einreiseversuche in die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta im Herbst 2005. Im Juli 2006 fand in Rabat eine europäisch-afrikanische Migrationskonferenz statt, an der RegierungsvertreterInnen aus 57 europäischen und afrikanischen Staaten - der Herkunfts- und Transit- sowie Zielstaaten der Flüchtlinge - teilnahmen. Bereits im November 2006 fand man sich in gleichem Rahmen in Tripolis wieder zusammen. Im Mittelpunkt standen jeweils Gespräche über die Rückführung von MigrantInnen, eine Verstärkung des Grenzschutzes und eine bessere Kooperation zwischen den Justiz- und Polizeibehörden. Konkret geplant ist eine gemeinsame Datenbank zur Identifizierung von undokumentierten MigrantInnen. Demnach sollen auch MigrantInnen, die in Afrika aufgegriffen werden, Fingerabdrücke abgenommen werden, um die Rückführungsmaßnahmen aus Europa in die Herkunftsländer besser kontrollieren zu können.7 Ähnliche Annäherungen zwischen den betroffenen Staaten finden in engerem Kreis im Rahmen des 5+5-Dialogs zwischen Portugal, Spanien, Frankreich, Italien und Malta auf europäischer und Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Mauretanien auf afrikanischer Seite statt. Zu derartigen Kooperationen zählt, dass in Europa angekommene MigrantInnen in die Transitländer Nordafrikas zurückgeschoben werden. Solche Rückabschiebungen finden in erster Linie von Italien nach Libyen sowie von Spanien nach Marokko statt. Sie beruhen auf Rücknahmeübereinkommen mit den Transitländern. Allerdings kennen weder Libyen noch Marokko nach Ansicht des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) einen überhaupt wirksamen Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, welche internationale Mindeststandards für die Anerkennung von Flüchtlingen festlegt.8 Auch im Übrigen sind eine Vielzahl der Abschiebungen schlicht illegal: Zum einen ist bekannt, dass bei Abschiebungen aus den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla die für Ausweisungen sonst nach rechtsstaatlichen Prinzipien vorgesehenen Rechte der Betroffenen wie das einer Anhörung einfach missachtet werden.9 Zum anderen nimmt etwa die spanische Regierung zeitweise Massenabschiebungen vor, ohne jeden Einzelfall zu prüfen.10 Diese Praxis verstößt gegen das vierte Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention: Nach dessen Art. 4 sind Kollektivausweisungen ausländischer Personen unzulässig. Gegenüber dem nordafrikanischen Staat Mauretanien hat die EU bereits selbst eingegriffen: Nachdem dort im August 2005 eine Militärdiktatur durch einen Putsch an die Macht gekommen war, hatte die EU zunächst alle Hilfsprogramme gestoppt und jegliche Zusammenarbeit beendet. Zugleich lehnte die mauretanische Regierung jedoch die Aufnahme von Flüchtlingen gegenüber Spanien ab, und ließ die Sicherung der Grenzen schleifen. Die EU, von der spanischen Regierung gedrängt, ließ sich auf diese Weise unter Druck setzen: Tatsächlich hat der Staat der Grenzsicherung und der Aufnahme von abgeschobenen Flüchtlingen zugestimmt, nachdem die EU die offiziellen Beziehungen zu Mauretanien wieder aufgenommen hatte.11Die Idee der Grenzlager
Einen Höhepunkt der asylpolitischen Debatte in Europa stellte der Vorschlag des britischen Premierministers Blair aus dem Jahre 2003 dar, Auffanglager in Nordafrika einzurichten, um das Asylverfahren auszulagern.12 Unterstützt wurde er später durch den damaligen deutschen Innenminister Schily.13 Auch hier stellt sich das Problem der humanitären Situation sowie eines angemessenen Flüchtlingsschutzes in jenen Staaten Nordafrikas. Vor allem aber können sich die Flüchtlinge aufgrund fehlender Gebietshoheit der EU-Staaten in den Ländern nicht auf das jeweilige Asylrecht berufen. Es entsteht ein rechtsfreier Raum für die dann dort tätigen Behörden, und Rechtsschutz ist laut Schily ausdrücklich nicht geplant: "Wenn man außerhalb der EU eine Behörde macht, müssen die Asylbewerber nicht zu Gericht gehen können wie Asylbewerber in Deutschland."14 Schily argumentierte damals, die Bilder ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer vor Augen, mit der Rettung von Flüchtlingen. Es ist jedoch zu vermuten, dass sich kein Flüchtling mit der Aussicht auf ein nordafrikanisches Flüchtlingslager von der Überfahrt nach Europa abhalten lassen wird. Noch erntete der Vorschlag von Blair und Schily großen Widerstand. Langfristig ist die Umsetzung jedoch nicht auszuschließen. Schließlich stellt die Drittstaatenregelung aus der Asylverfahrensrichtlinie schon den entscheidenden Schritt zu einer Auslagerung des Flüchtlingsschutzes dar. Und tatsächlich trägt die EU bereits jetzt in Nordafrika, wenngleich ohne die Möglichkeit eines Asylverfahrens, zur Schaffung von Lagern für Flüchtlinge bei. Im Norden Mauretaniens etwa wurden zwei Lager mit einer Kapazität von je 240 Personen errichtet, mit dem Zweck, die abgeschobenen Flüchtlinge aus Spanien aufzunehmen. Finanziert wurden die Lager von der EU. Bewacht werden sie von der spanischen Guardia Civil, jene spanische paramilitärische Einheit, die bereits wegen ihrer wenig ruhmreichen Vergangenheit als Repressionsinstrument gegenüber der Opposition unter Franco bekannt ist. Insgesamt hat die EU für die nächsten vier Jahre 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um unter anderem den Bau von Lagern und die Einrichtung sogenannter "heimatnaher regionaler Schutzzentren", z.B. in Tansania und in der Ukraine, zu finanzieren.15Effektive Abschottung?
Trotz allem ändert die Abschottung bisher nichts an den zunehmenden Einwanderungsversuchen. Europaweit bekannt wurden die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla im Herbst 2005, als binnen kürzester Zeit rund 4.000 Menschen versuchten, die Grenzen zu überwinden.16 Eine der Mitursachen für jenen plötzlichen Ansturm im letzten Herbst führt bildlich vor Augen, wie sich das Grenzregime entwickelt: Die Behörden hatten angekündigt, den Zaun im gesamten Grenzabschnitt von drei auf sechs Meter zu erhöhen.17 Insgesamt versuchen bis zu 100.000 Menschen jährlich die Flucht über das Mittelmeer, viele von ihnen jedoch sterben oder werden aufgegriffen und abgeschoben.18 Ceuta und Melilla haben auch verdeutlicht, wie "gut" die Anrainerstaaten Marokko und Spanien schon kooperieren. So wurden im September 2005 sechs Flüchtlinge bei dem Versuch, den Zaun zu überqueren, vom marokkanischen Militär erschossen.19 Die Zäune unterwandern das Regime der Genfer Flüchtlingskonvention vollends: Demnach hätte jede/r zunächst das Recht, einen Asylantrag etwa bei den spanischen Behörden an der Grenze zu stellen. Da jedoch das spanische Territorium nicht zu erreichen ist, kann auch dieses Recht nicht geltend gemacht werden. Indes reichen die Zäune und Mauern bisher noch nicht aus. Die derzeitige Abschottung führt allein dazu, dass sich die MigrantInnen neue und gleichsam gefährlichere Wege suchen, die Zahl der Menschen steigt eher. Etwa 31.000 Menschen erreichten 2006 die Kanarischen Inseln, im Jahr zuvor waren dies noch gut 5.000.20 Dies liegt daran, dass das spanische Festland zunehmend besser bewacht wird, verdeutlicht aber auch, dass der Einsatz von Frontex bisher noch nicht in allen Gebieten ausreichend "effektiv" verlief. An den Küsten Italiens wurden 2006 insgesamt 16.000 illegal Eingereiste aufgegriffen.21 Schafft man es auf diesem Wege, in Europa anzukommen, wartet keinesfalls unbedingt ein besseres Leben. Das Auffanglager auf der italienischen Insel Lampedusa beispielsweise ist laut Berichten einer Gesandtschaft des Europäischen Parlaments ein Inbegriff des Elends.22 Nicht selten wartet, anstatt eines fairen Asylverfahrens, die sofortige Rückabschiebung nach Libyen.Identität durch Abgrenzung
Wenngleich einige Maßnahmen an den Grenzen noch formellrechtlich in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten liegen, verwirklicht Spanien mit seinem Vorgehen an der eigenen nationalstaatlichen Grenzen die Interessen des gesamten Kontinentes, um diesen insgesamt vor der Zuwanderung zu bewahren. Im Übrigen greifen diese Staaten schon in der Praxis auf die Hilfen Brüssels zurück, wie das Beispiel Frontex zeigt. Die Abschottung an den Außengrenzen ist ein Ergebnis gesamteuropäischer Politik. Die Asylpolitik erweist sich damit als Vorzeigekind europäischer Harmonisierung. Obgleich es sich dabei um einen ursprünglich stark nationalstaatlich geprägten Politikbereich handelt, herrscht, was die Zielrichtung betrifft, erstaunliche Einigkeit: Die Einwanderung muss beschränkt werden. So wird auf ganz praktische Weise europäische Identität durch Abgrenzung nach außen geschaffen. Langfristig ist davon auszugehen, dass die Harmonisierung des Asylsystems weiter vorangetrieben wird. Wenn sich aber die internationale Kooperation, der Schutz der Außengrenzen und möglicherweise auch die Auslagerung des Verfahrens weiterhin derart effektiv entwickeln, ist anzunehmen, dass Asylbegehren und Rechtsschutz innerhalb der Grenzen damit zunehmend an Bedeutung verliert. Aus statistischer Sicht zeigt die Politik an den Grenzen jedenfalls die gewünschten Erfolge. Die Zahl der Asylanträge in Europa hat sich 2005 gegenüber 2001 fast halbiert - 237.840 Anträge statt 438.990 noch im Jahre 2001.23 Dies stellt zugleich den niedrigsten Stand seit zwei Jahrzehnten dar. Dieser Rückgang ist nicht auf eine verbesserte weltpolitische Lage zurückzuführen, vielmehr ist genau dies das Ergebnis der europäischen Asylpolitik: Der zunehmend sichereren Grenzen einerseits und des für die Betroffenen immer aussichtsloseren Asylregimes andererseits.Grenzen auf!
Trügerisch ist und bleibt es unterdessen, von einer drohenden Überschwemmung Europas zu reden: Insgesamt warten im Norden Afrikas laut Schätzungen über die kommenden zehn Jahre 2,5 Millionen Personen darauf, europäischen Boden zu erreichen.24 Selbst wenn es mehr sein sollten und die bereits eingereisten "Illegalen" anerkannt würden, ist dies im Vergleich zu den knapp 490 Millionen EinwohnerInnen des Kontinents verschwindend gering. Angesichts der gegenwärtigen Politik sieht die Zukunft für diese Menschen jedoch düster aus. Demgegenüber erfordert ein effektiver Flüchtlingsschutz drei wesentliche Eckpunkte: ein faires Verfahren, menschenwürdige Aufnahmebedingungen und einen gefahrenlosen Zugang zum europäischen Territorium. Diesen Grundsätzen ist mitnichten Genüge getan. Darüber hinaus ist es zu kurz gegriffen, die Forderungen auf diese Punkte zu beschränken. Denn Flucht geschieht niemals freiwillig. Ein wirklich humaner Anspruch an die zukünftige europäische Flüchtlings- und Asylpolitik kann nur lauten: Grenzen auf und Schutz für alle! Matthias Lehnert studiert Jura in Münster.Weiterführende Literatur: