Hüter wahrer Disziplin

Ein neues Buch zu Wehrmachtrichtern und ihrere Rolle in der Bundesrepublik

In dem Buch „Mit reinem Gewissen“ erinnern Joachim Perels und Wolfram Wette nicht nur an die grausamen Taten der Wehrmachtjustiz. Sie verdeutlichen vor allem die Rolle und den Einfluss ehemaliger Richter[1] in der Bundesrepublik.

Ludwig Baumann wurde 1941, mit 19 Jahren, in die deutsche Kriegsmarine eingezogen und kam zur Hafenkompanie ins französische Bordeaux. Er habe, so sagte er später, erkannt, dass der NS-Feldzug „ein verbrecherischer, völkermörderischer Krieg war“; im Juni 1942 desertierte er. An der Grenze zum unbesetzten Teil von Frankreich wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt, wegen Fahnenflucht im Feld. Die Todesstrafe wurde in eine Zuchthausstrafe umgewandelt, zum Ende des Krieges wurde er in ein Strafbataillon an der Ostfront geschickt. Baumann überlebte mit großem Glück.

Erich Schwinge hat Ludwig Baumann nie getroffen, der „Straftatbestand“ der Fahnenflucht aber war ihm bekannt. Schwinge verfasste als Strafrechtsprofessor den maßgeblichen Kommentar für das Militärstrafrecht im Nationalsozialismus (NS), darin sah er die „Aufrechterhaltung der Manneszucht“ und die „Schlagkraft der Truppe“ als Leitlinien der Militärjustiz. Von 1941 an war er selbst Militärrichter und an mindestens 18 Todesurteilen beteiligt.

Es sind dies zwei deutsche Geschichten, die gegensätzlicher kaum sein können. Bemerkenswert ist auch ihr Fortgang nach 1945: Baumann musste sich weiterhin als Krimineller beschimpfen lassen; das Urteil wegen Fahnenflucht wurde erst 2002 durch ein Aufhebungsgesetz des Bundestages aufgehoben. Schwinge wurde 1948 wieder als Professor an die Universität Marburg berufen, für seine Taten als Wehrmachtrichter wurde er nie verurteilt.

Die Lebensläufe dieser beiden Männer sind exemplarisch. Dass weder die Wehrmachtsjustiz „sauber“ war, noch die Bundesrepublik mit dieser Vergangenheit gebrochen hat, zeigen der Politikwissenschaftler Joachim Perels und der Historiker Wolfram Wette in dem von ihnen herausgegebenen Band „Mit reinem Gewissen“. Mit dem Titel des Buches wird der ehemalige Präsident des Reichskriegsgerichts, Admiral Max Bastian, zitiert, der nach Kriegsende jegliche Verantwortung der Wehrmachtsjustiz negiert hatte, er persönlich somit eine Schuld gegenüber einem Menschen „mit reinem Gewissen“ ablehne. Tatsächlich sind etwa 30.000 Personen von den Wehrmachtsgerichten zum Tode verurteilt worden, zahlreiche Soldaten wurden in Straflager geschickt, vielfach wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung.

Geschichtsklitterung statt Strafverfolgung

Im ersten Kapitel des Buches geht es zunächst um die personelle Wiedereinbindung der Wehrmachtrichter und die – fehlende – justizielle Verfolgung ihrer Taten. Joachim Perels beschreibt, wie die Alliierten einen Neuanfang planten, dieses Bestreben aber schnell relativiert wurde, insbesondere durch die Verabschiedung des Grundgesetzes, dessen Art. 131 die Übernahme des NS-Beamtenapparates vorsah.
Nach einem vor allem für Einsteiger_innen gelungenen Überblick von Wolfram Wette über die Wehrmachtjustiz folgt in den nächsten Kapiteln die zentrale Auseinandersetzung mit den Wehrmachtrichtern, deren Selbstrechtfertigungen und ihren erfolgreichen Nachkriegskarrieren. Claudia Bade beleuchtet die Netzwerke ehemaliger Wehrmachtjuristen, die sich als „Hüter wahrer Disziplin“ gefeiert sowie gegenseitig Rechtshilfe bei Ermittlungen geleistet hätten. Daneben betrieben die Veteranen öffentlich Geschichtsklitterung, nicht zuletzt durch die Studie „Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus“ von 1977, herausgegeben vom ehemaligen Luftwaffenrichter Peter Schweling und eben jenem Erich Schwinge, die darin die Wehrmacht gar als Gegnerin des NS-Regimes verklärten. Dass dies auch inhaltlich-politische Folgen hatte, schildert Claudia Fröhlich. Vor allem verhinderte nachweislich ehemaliges NS-Personal, das später wieder an den Schaltzentralen saß, durch Reformen des Strafrechts die Verfolgung ihrer NS-Taten. Im Anschluss lenkt das Buch den Blick auf die Opfer. Auch Ludwig Baumann kommt hier zu Wort und schildert als Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz den zähen Kampf um Anerkennung und Rehabilitierung. Abschließend geht es um das Militär der Gegenwart und die Debatte um die Einführung einer eigenständigen Militärjustiz, die von Rolf Surmann und Helmut Kramer angesichts der Vergangenheit kritisch beleuchtet wird.

Nicht alles ist neu, was Joachim Perels und Wolfram Wette in ihrem Buch präsentieren. Andererseits kann nicht oft genug erinnert werden an die Rolle von Wehrmacht und Justiz am NS-Vernichtungskrieg und die Rolle der Täter in der Bundesrepublik. Das Buch liefert hierfür einen sehr detailreichen, gut lesbaren und bisweilen sogar mitreißenden Beitrag.

Matthias Lehnert ist Rechtsreferendar in Berlin.

Perels, Joachim / Wette, Wolfram (Hrsg.), Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer, Aufbau Verlag, Berlin 2011, 474 S., 29,99 €.

[1] Sowohl die Gerichtsbarkeit als auch das betroffene Militär war während des Nationalsozialismus rein männlich besetzt.