Was die Kunst weiß und die Wissensgesellschaft nicht wissen will

in (28.09.2007)

Seit der öffentlichen Ausrufung der Wissensgesellschaft ist Wissen zu einem der meist gebrauchten und meist missbrauchten Wörter geworden.

Übersehen wird gerne, dass dieser Begriff alles andere als eindeutig ist und je nach Façon des Sprechers/der Sprecherin jeglicher Begründungsabsicht genüge getan werden kann. Dehnbar wie Kaugummi, kittet er Leerstellen und verhilft beliebigen Argumentationen zum Siegeszug. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, was denn überhaupt alles Wissen sei und in diesem Sinne von der Wissensgesellschaft für sich in Anspruch genommen werden darf. Denn hier zeigt sich die eigentliche Frage der Wissensgesellschaft: Wenn sie von der Wichtigkeit des Wissens als zentralem Baustein gesellschaftlicher Entwicklung ausgeht, wenn Wissen mit einem Mal eine bislang nicht erreichte Wertschätzung und Förderung erfährt, dann ist es unverzichtbar zu klären, was sich hinter dem Wissensbegriff überhaupt verbirgt. Von welchem Wissen ist hier die Rede? Welches Wissen will die Wissensgesellschaft überhaupt - und welches braucht sie? Decken sich hier Wunsch und Wirklichkeit? Solange diese Fragen ungeklärt bleiben, ist es für Scharlatane und Wunderheiler einfach, die Wissensgesellschaft als neues Allheilmittel zu verkaufen. Bleibt der Gegenstand der Diskussion unklar, kann auch nicht sinnvoll über die Auswirkungen von Wissen auf gesellschaftliche Entwicklungen diskutiert werden. Jede Auseinandersetzung läuft Gefahr, eine Scheindebatte zu werden, die letztlich alte Konzepte unter einem neuen Etikett verkauft.
Warum fällt es uns so schwer, den Wissensbegriff zu fassen? Ein Teil des Problems liegt darin, dass wir unhinterfragt alte Vorstellungen transportieren. Wissen wird vereinfacht gleichgesetzt mit naturwissenschaftlichem Wissen, und selbst aus diesem Gebiet nur mit einem kleinen Bereich, dem mathematisierbaren Faktenwissen. Dass die engen und idealisierenden Vorstellungen nicht tragfähig sind, hat die Forschung aus so unterschiedlichen Bereichen wie Wissenschaftstheorie und -geschichte, Philosophie, Psychologie, Kognitions- und Kulturwissenschaften gezeigt. Neben naturwissenschaftliches Faktenwissen treten Orientierungswissen, Handlungswissen, Alltagswissen, moralisches Wissen, emotionales Wissen, nichtsprachliches Wissen, ein "Wissen-Wie" der Fähig- und Fertigkeiten - die Liste lässt sich fortsetzen. Doch es scheint, als wolle die Wissensgesellschaft von diesen Wissensarten nichts wissen - zu ihrem eigenen Nachteil, wie ich am Beispiel des künstlerischen Wissens kurz darlegen möchte.
Wie kann ein Bild, ein Haus, ein Musikstück oder ein literarisches Werk zum Wissen betragen? So einfach die Frage zu stellen ist, so wenig offensichtlich findet sich zunächst eine Antwort. Denn sie zielt nicht auf Informationen der Art, wann, wo und als Teil welcher Stilrichtung die Künstlerin das Werk erstellt hat oder welche Aussage der Künstler mit seinem Oeuvre beabsichtigt. Die Frage nach dem Wissen in den Künsten richtet sich vielmehr auf ihre Funktion beim Erlangen von Erkenntnis. Ob die Künste einen Beitrag zu unserem Wissen leisten, entscheidet ihre Rolle in Erkenntnisprozessen. Wird Wissen als Ergebnis kognitiver Vorgänge betrachtet, welches gesicherte Erkenntnisse über unsere Welt vermittelt, müssen wir in Bezug auf die Künste prüfen, ob auch hier kognitive Prozesse angetroffen werden. Wenn ja, sind die Künste dadurch in der Lage, Aufschluss über die Welt zu geben, ein Wissen von der Welt zu vermitteln?
Es ist vor allem die Zeichenphilosophie des 20. Jahrhunderts, die sich diesen Problemen zugewendet hat. Sie konnte mit allem Nachdruck deutlich machen, dass sich Zeichensysteme nicht auf die Wissenschaften beschränken. Im Gegenteil, sprachähnliche Strukturen lassen sich in weiten Bereichen des Lebens nachweisen, wird die einfachste Zeichenfunktion - die Fähigkeit, auf etwas Bezug zu nehmen, für etwas anderes zu stehen - zu Grunde gelegt. Ein Gebäude kann Standfestigkeit exemplifizieren, wenn das Tragverhalten durch eine exponierte Formensprache herausgearbeitet worden ist; ein Konzert Fröhlichkeit ausdrücken, wenn Harmoniefolgen, Klangfärbung und Rhythmen metaphorisch durch ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit auf diesen Zustand verweisen. Gemälde können denotieren, wie im Falle von Personen- und Landschaftsportraits, die auf konkrete Menschen und Orte Bezug nehmen: Das Arsenal nicht-sprachlicher Zeichen ist reichhaltig, Zeichen sind hier nicht weniger anzutreffen als in den bekannten sprachlichen Verwendungen.
Dass Zeichensysteme insbesondere auch in den Künsten anzutreffen sind, konnte Nelson Goodman in seinem wegweisenden Werk Sprachen der Kunst (1968) zeigen. Zentral ist hierbei die These, dass durch den Umgang mit Zeichen Erkenntnisse gewonnen werden. Immer, wenn wir mit Zeichen umgehen, wenn wir sie anwenden, wenn wir sie aufeinander beziehen, sie untereinander kombinieren oder neue Verwendungen konstruieren, wenn wir mit ihrer Hilfe Abgrenzungen vornehmen oder Zusammenhänge herstellen, dann sind kognitive Fähigkeiten im Spiel. Wir testen, welche Rolle das Symbol in seinen vielfältigen Einbindungen spielt. In welchen Systemen ist es aktiv? Wie klassifiziert es, wie wird es selbst klassifiziert? Wir prüfen, in welchen Zusammenhang es passt und in welchen nicht. Was ergibt eine stimmige Komposition, was eine sinnvolle Gliederung? Mit Hilfe von Symbolen zerlegen wir und fügen wieder zusammen, legen fest, was als Entität und Art gilt. So ist es möglich, Dinge zu identifizieren, wiederzuerkennen und ihre Konstanz über die Zeit festzustellen. Durch unterschiedliche Gewichtungen stechen manche Arten hervor und andere werden unwichtig, unterschiedliche Betonungen und Akzente legen Relevanzen fest. Nachbarschaften und Abfolgen werden durch Ordnungsvorgänge erreicht, Verzerrungen können bestimmte Aspekte besonders herausheben.
Auf diese Art und Weise strukturieren Symbolprozessen Gegenstandsbereiche, Symbolsysteme entstehen. Doch nicht jedes aufgestellte System ist bereits ein Wissenssystem, willkürliche oder sinnlose Anordnungen können nicht als solche gelten. Wichtig wird daher, wie kohärent und konsistent das neue System ist, wie es sich einpasst, aber auch, ob es überhaupt relevant ist und welche Wirkung es entwickelt: hat es Antworten auf unsere Fragen, hilft es, Probleme zu lösen - oft ist hierfür der erste Schritt, sie durch andere Aspekte und Schwerpunkte in einem neuen Licht zu sehen -, werden Orientierungen gegeben, eröffnen sich neue Möglichkeiten?
Nun wird deutlich, warum die Künste zu unserer Erkenntnis beitragen können. Eine Auseinandersetzung mit den Künsten verlangt gleichermaßen kognitive Fähigkeiten wie alle anderen Bereiche, in denen Symbolsysteme anzutreffen sind - sie unterscheiden sich hierin nicht von der Physik, der Biologie oder der Mathematik. Doch erfordern sie nicht nur die gleichen kognitiven Fähigkeiten, sondern in den Symbolsystemen werden ebenso Erkenntnisse vermittelt, die Künste funktionieren kognitiv. Sie schärfen Unterscheidungen oder machen sie erst sichtbar und verdeutlichen Zusammenhänge. Sie schließen Sichtweisen auf, leiten komplexe Bezugnahmen über mehrere Symbolsysteme hinweg, transferieren Bekanntes in eine unbekannte Umgebung. Vielfältige Verknüpfungen stellen überraschende Zusammenhänge her und ermöglichen damit andere Problemzugänge und neue Verfahren. Durch Strukturierungen und Kategorisierungen können herkömmliche Muster aufgebrochen und ungewohnte Wege eröffnet werden - und auf diese Weise einen Beitrag zu unserem Verständnis und unserem Wissen von der Welt leisten.
Verabschieden müssen wir uns dabei von einem veralteten Wissensbegriff, einem Wissensbegriff, der als Ziel aller kognitiven Anstrengungen ein Einheitswissen anstrebt, das vollständig systematisiert den gleichen Methoden und Kriterien gehorcht. Wissen ist sehr viel weiter zu fassen. Anstelle des einen Wissens treten viele Wissen, welche jedes für sich eine eigene Sicht auf die Welt verkörpern. Dieser Pluralismus lässt verschiedene Weisen zu, charakteristische Zugänge, Aspekte und Schwerpunkte. Da die inhärente Richtigkeit der Wissenssysteme aber dynamisch ist, muss sie ständig neu überprüft werden. Wissen in diesem Sinne ist gekennzeichnet durch Offenheit, es ist ein Wissen, das sich durch verändernde Bedingungen fortwährenden Korrekturen unterwerfen muss.
Soweit eine skizzenhafte Annäherung an die Einsichten der Zeichentheorie. Doch da die Diskussion um die Wissensgesellschaft immer auch eine Diskussion um Gewinn und Nützlichkeit ist, reicht diese Antwort heute nicht mehr. SkeptikerInnen werden einwenden, schön und gut, Wissen in den Künsten: zugestanden - aber brauchen wir es?! Was vermag künstlerisches Wissen, dass sich nicht durch naturwissenschaftliches erreichen ließe? Die Notwendigkeit der Geisteswissenschaften ist immer wieder herausgestellt worden, um dem Verfügungswissen der Naturwissenschaften eine Orientierung zu geben, von einer Notwendigkeit in Bezug auf die Künste ist wenig zu hören. Provokative Thesen fordern für wissenschaftlichen Fortschritt einen Pluralismus möglichst vieler Wissensarten, Verfahren und Methoden. Erst der Kontrast mit anderen Sichtweisen, erst das Erschließen neuer Quellen würde zu Neuerungen in den Wissenschaften führen, häufig ermöglicht durch einen Bruch mit dem Bestehenden. Und hier wird das Konzept "Wissensgesellschaft" an einer empfindlichen Stelle getroffen: es sieht im Wissen und seiner Erweiterung den zentralen Antriebsfaktoren gesellschaftlicher Entwicklung. Um den Fortbestand zu gewährleisten, sind sich ständig erneuernde Innovationszyklen essentiell, kreative Wissenserweiterung wird zum Motor der Wissensgesellschaft. Damit rücken Wissensgenerierungsprozesse ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie lässt sich Innovation fördern, Kreativität steigern? Wie sprudeln Ideen? Wie schafft man es, ausgetretene Wissenspfade zu verlassen und Neuland zu erobern?
Von den Künsten lernen - so könnte die Antwort auf diese Frage heißen. Die syntaktische und semantische Dichte künstlerischer Wissenssysteme hat zur Folge, dass sie sich weniger eindeutig zeigen und der Interpretationsprozess aufwändiger wird. Im Ausprobieren richtiger Bezüge sind insbesondere die Symbolsysteme der Kunst geeignet, festgefahrene Strukturen zu durchbrechen und ungewohnte Zusammenhänge herzustellen. Die Aneignung, der Umgang und die Erschaffung künstlerischen Wissens verlangt im besonderen Maße Kreativität. Statt schneller Zuordnungen ist ein genaues Hinsehen verlangt und ein intensives Auseinandersetzen. Die Fülle der symbolisierenden Aspekte bringt eine Fülle an Facetten und Hinsichten hervor, unter denen ein Werk erschlossen werden kann. Mehrstufige Symbolketten und ihre vielfältigen Funktions- und Systemwechsel verbinden unterschiedliche Erkenntnisbereiche. Als Folge entstehen vielfältige Wechselwirkungen und ein ungewohntes, inspirierendes Zusammenwirken über Disziplingrenzen hinweg. Es sind diese Prozesse, wie sie im besonderen Maße in den Künsten anzutreffen sind, die Kreativität freisetzen und Innovationsvorgänge anstoßen.
Vom Wissen der Künste lernen, heißt also nicht nur, von ihren "Wissen-Was" profitieren, um sich von ihren ungewohnten, oft sperrigen Sichtweisen auf neue Ideen bringen zu lassen. Sondern auch aus ihrem "Wissen-Wie" Nutzen zu ziehen, aus ihren Techniken, ihren eigenen Zugängen zur Entwicklung von Neuem, aus ihrem Einsatz von Kreativität, aus ihrem Wagnis, Ungewohntes und Verdrängtes zu erschließen. Hier liegen die Stärken künstlerischen Wissens. Auch wenn diese Überlegungen einer genaueren Untersuchung bedürfen, zeichnet sich schon jetzt ab, dass dieses Wissen, das die heutige Debatte um die Wissensgesellschaft so gerne unterschlägt, sich als entscheidender, notwendiger Bestandteil einer Wissensgesellschaft zeigt.
Ist von den Künsten die Rede, dann häufig nur im Zusammenhang mit der Freizeitgestaltung. Ein Konzertbesuch zur Entspannung nach vollbrachtem Tageswerk, die neueste Bildersammlung als Wochenendausflug und die Klassiker der Literatur, um beim Cocktailgespräch geistreich und niveauvoll zu erscheinen. Die Kunst als Accessoire mit Wohlfühl-Faktor fürÂ’s Gemüt, ansonsten überflüssig und ihr Budget geeignet, um Finanzlöcher in Haushaltsetats zu stopfen. Um der gängigen Einschätzung entgegenzutreten, ist dieser Beitrag geschrieben worden. Es ist Zeit, von einer überholten Vorstellung Abschied zu nehmen und anzuerkennen, dass die Künste neben ihrem Beitrag zum Erkenntnisprozess ein großes Innovations- und Kreativitätspotential darstellen. Die Wissensgesellschaft, wenn sie eine sein will, braucht dieses Wissen dringend - nicht nur die Freizeitgesellschaft in der Wissensgesellschaft.

Der Text basiert auf dem Aufsatz "Was weiß die Kunst? - Zur Relevanz künstlerischen Wissens in der Wissensgesellschaft", in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Die Verfasstheit der Wissensgesellschaft, Münster 2006, S. 72-81.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Widerstand. Macht. Wissen", Wien, Herbst 2007.