Bitte Titel Schwierige Allianzen: Lobbypolitik aus der Perspektive 'schwacher AkteurInnen'

Die Verhandlung sozialer Rechte von Illegalisierten in der Europäischen Union

Der Anstieg irregulärer Migration wird nicht nur von staatlichen AkteurInnen vermehrt wahrgenommen - und zu bekämpfen versucht (vgl. Castles 2005).

Der Anstieg irregulärer Migration wird nicht nur von staatlichen AkteurInnen vermehrt wahrgenommen - und zu bekämpfen versucht (vgl. Castles 2005); auch für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gehört die Verbesserung von Lebens- und Arbeitssituation von Illegalisierten mittlerweile zum Repertoire des Engagements. Obgleich undokumentierte MigrantInnen sich als "Sans Papiers" organisieren und in vielen Ländern mit ihren Protesten öffentliche Aufmerksamkeit erregen, sind NGOs oft der Auffassung, dass diese Menschen ohne Papiere FürsprecherInnen brauchen. Tatsächlich sind ihnen aufgrund ihrer prekären rechtlichen Lage wichtige Wege der Einflussnahme verstellt, etwa aufgrund fehlender Ressourcen und Einflusskanäle oder wegen des Risikos, das öffentliche Auftritte für sie bergen. Stellvertreterengagement muss nicht einer selbstbestimmten Organisierung von Papierlosen entgegenstehen. Auch aus Sicht vieler sogenannter schwacher AkteurInnen stellt das Engagement von (transnationalen) advocacy-Netzwerken oder Allianzen mit anderen AkteurInnen eine wichtige Erfolgsbedingung in ihrem Kampf um rechtliche Anerkennung und soziale Rechte dar. Dies gilt insbesondere, wenn sich der Staat taub stellt oder aktiv alle Anstrengungen blockiert. So konnten viele Frauenrechtsbewegungen über den "Umweg" der internationalen, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Ebene auf den eigenen Staat Druck ausüben, damit etwa sexuelle Gewalt gegen Frauen effizienter bekämpft wird. Diese Vorgehensweise wurde auf internationaler Ebene Bumerang-Effekt (Keck & Sikkink 1998: 13) oder im europäischen Kontext Ping-Pong-Effekt (Zippel 2004: 66) genannt. In der umwelt- und arbeitspolitischen Diskussion haben Kooperationen mit privatwirtschaftlichen AkteurInnen an Bedeutung gewonnen. Stichworte sind green coalitions, corporate social responsibility oder Verhaltenskodizes. Sie werden von vielen nichtstaatlichen Organisationen als Möglichkeit erachtet, über den Aufbau von kritischem KonsumentInnenbewusstsein, also durch den Mark vermittelt, ökologischeres Wirtschaften oder Verbesserungen von Arbeitsstandards zu erwirken. Diese Erfahrungen berücksichtigend, stellen sich für das Feld der irregulären Migration etwa folgende Fragen: Können transnationale advocacy-Netzwerke oder Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Sektoren und AkteurInnen auch etwas für MigrantInnen ohne legalen Arbeits- oder Aufenthaltsstatus bewirken? Bilden sich punktuelle oder dauerhafte Allianzen mit AkteurInnen beispielsweise aus der Wirtschaft? Wie stellt sich das Verhältnis von advokatorischen Organisationen und Selbstorganisationen dar? Zunächst skizziere ich die Problemstellung und den Argumentationsgang und werfe zur Frage der Konzeptionalisierung transnationaler Netzwerke und Koalitionen einen Blick in die sozialwissenschaftliche Literatur. Im darauf folgenden Abschnitt gebe ich einen Überblick über die wichtigsten nichtstaatlichen, migrationspolitischen Organisationen und Netzwerke in der Europäische Union (EU), um daran anschließend deren inhaltliche Positionierung bezüglich irregulärer Migration zu analysieren. Dabei zeigt sich, dass Fragen des Zugangs zur EU ausgeklammert werden. Daher analysiere ich in einem weiteren Schritt Versuche des Dialogs und der Kooperation zwischen Interessensverbänden von Transportunternehmen und Flüchtlingen. Im Ausblick diskutiere ich die Ergebnisse insbesondere im Hinblick des Verhältnisses zwischen transnationalen advocacy-Netzwerken und Selbstorganisationen von MigrantInnen.

Netzwerke und Koalitionen in der Bewegungsforschung

Der Einfluss, den soziale Bewegungen nicht allein aus eigener Kraft, sondern aus der Kooperation mit anderen erlangen, spielt in der Diskussion um Global Governance und globale soziale Bewegungen eine wichtige Rolle. Zwei dieser Kooperationsformen möchte ich erläutern und kontextualisieren, erstens transnationale advocacy-Netzwerke (TANs) und zweitens Allianzen zwischen NGOs und Wirtschaftsunternehmen. Der Begriff der transnationalen advocacy-Netzwerke wurde von den US-amerikanischen Politikwissenschaftlerinnen Margaret Keck und Kathryn Sikkink (1998) geprägt und ihre Existenz in Politikbereichen wie der Frauen-, Menschenrechts- und Umweltpolitik empirisch nachgewiesen. Keck & Sikkink bezeichnen damit relativ lose, themenbezogene Netzwerke von NGOs, sozialen Bewegungen, Stiftungen, Medien, Kirchen, Gewerkschaften, Intellektuellen sowie Personen aus Internationalen Organisationen, Regierungen und Parlamenten, die ähnliche Werte präferieren (Keck & Sikkink 1998: 8f). Im Unterschied zu sozialen Bewegungen gehören TANs außerinstitutionelle und institutionalisierte AkteurInnen an. Ihre Stärke entsteht nicht aus der Mobilisierungsfähigkeit für Aktionen oder Demonstrationen, sondern aus den vielfältigen Beziehungen zwischen den AkteurInnen und ihrem Zugang zu policy-Arenen. Von den in dieser Ausgabe der Peripherie durch Lars Kohlmorgen, Wolfgang Hein und Sonja Bartsch vor allem diskutierten Governance-Netzwerken unterscheiden sie sich durch eine stärkere Fokussierung auf zivilgesellschaftliche AkteurInnen und marginalisierte Interessen sowie durch eine deutlich schwächere politische Steuerungsorientierung. Wie diese begrifflichen Abgrenzungen andeuten, sind auch in der Literatur zu sozialen Bewegungen, Zivilgesellschaft und Global Governance die Begriffe von TANs und Allianzen nicht konkurrenzlos. Seit den 1990er Jahren gibt es zahlreiche Versuche, Entwicklungen jenseits des nationalstaatlichen Bezugsrahmens auf den Begriff zu bringen. Der Fokus reicht von außerinstitutioneller Artikulation bis hin zur Integration in internationale Regime. Einige AutorInnen betonen außerinstitutionelles Handeln und bezeichnen es als "transnationalen Protest"(1) (Rucht 2001) oder "transnationale soziale Bewegungen"(2) (Tarrow 2001). Klaus Eder konstatiert, dass Bewegungshandeln nicht mehr nur außerhalb von Institutionen zu finden ist, sondern dass die Institutionen sich Legitimation und Anerkennung durch Zustimmung zu beschaffen versuchen, und schlägt den Begriff der "transnationalen Streitpolitik"(3) (Eder 2001) vor. Dies stellt eine wichtige Perspektivverschiebung gegenüber einer auf außerinstitutionelle Arenen fokussierten Bewegungsforschung dar, jedoch ist der Begriff der "Streitpolitik" wenig passend, da Lobbyarbeit selten durch Streit, sondern vielmehr durch Konsens- und Kompromissfindung geprägt ist (vgl. Lahusen & Jauß 2001). Dem versuchen Keck & Sikkink (1998) mit dem Konzept der transnationalen advocacy-Netzwerke Rechnung zu tragen, indem sie vor allem auf die vielfältigen Kooperationsbeziehungen von AkteurInnen außer- und innerhalb von Institutionen abzielen. Aus diesen TANs können sich die Kooperationen hin zu NGO-Allianzen verstetigen, die über gemeinsame Strukturen und eine breitere thematische Orientierung verfügen (Yanacopulos 2005: 94; Bandy & Smith 2005). Oft fehlt in der Literatur jedoch der genauere Blick auf diese transnationalen advocacy-Netzwerke und ihre Aushandlungsprozesse. Welche Themen werden (nicht) bearbeitet? Welche Positionen werden vertreten, welche Kompromisse eingegangen? Wird vorschnell von TANs gesprochen, besteht m.E. die Gefahr, inhaltliche Scheidelinien und Interessensdivergenzen zu verdecken. Daher frage ich zunächst, ob sich in dem für die EU vergleichsweise neuen und an Bedeutung gewinnenden Politikfeld der Migration, insbesondere der irregulären Migration, überhaupt ein entsprechendes advocacy-Netzwerk herausbildet. Denn nach Keck & Sikkink (1998: 2) können TANs vor allem in Bereichen entstehen und wirkmächtig werden, die Praxen der nationalen Souveränität berühren, stark wertgeladen sind und in denen eine Informationsunsicherheit seitens der Politik besteht. Dies trifft auf irreguläre Migration zweifelsohne zu. Zudem tendieren supranationale Einheiten wie die EU dazu, nicht vollständig institutionalisiert zu sein, so dass sie offenere und flexiblere Möglichkeiten des Einflusses für TANs aufweisen (Zippel 2004: 58). So hat die EU-Kommission in vielen Bereichen, insbesondere in der Frauenpolitik, europäische Netzwerke ins Leben gerufen oder finanziell unterstützt, um Expertise und Vorschläge für ihre Politik zu entwickeln. Dieses Zusammenwirken von verschiedenen Faktoren hat etwa im Bereich der sexuellen Belästigung (Zippel 2004), des Frauenhandels (Locher 2003) und in anderen frauenpolitischen Bereichen (Woodward 2001) zu Erfolgen frauenspezifischer TANs geführt.(4) Auch im Themenfeld von Antirassismus und Grundrechten kann auf Erfolge vernetzten Handelns zurückgeblickt werden - wenn auch immer geringere als von den AkteurInnen intendierte -, etwa auf die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie oder auf einige Inhalte der Grundrechte-Charta. Insofern sprechen sowohl die Rahmenbedingungen als auch bereits existierende advocacy-Netzwerke in der Migrationspolitik benachbarten Politikfeldern für eine Ausweitung oder Neubildung eines transnationalen advocacy-Netzwerks zugunsten der Rechte illegalisierter MigrantInnen. Ein zweiter Diskussionsstrang in der Global-Governance-Literatur zur Rolle nichtstaatlicher Organisationen befasst sich mit Kooperationen zwischen Unternehmen bzw. deren Lobbyorganisationen und NGOs. Mehrere Gründe werden für die wachsende Bedeutung dieses Typs an Kooperation gesehen: Aus Sicht der Unternehmen können sich neue Geschäftsmöglichkeiten ergeben und der ökologische oder gesellschaftliche Ruf verbessert werden; zugleich können NGOs größere Erfolge erzielen (Arts 2002: 28). Als Triebkräfte für diese Form der Kooperation gelten die beiderseitige Enttäuschung von staatlicher Politik und - aus unternehmerischer Sicht - die Präferenz für freiwillige Lösungen gegenüber gesetzlichen Verpflichtungen. Pieter Glasbergen und Ria Groenenberg (2001) identifizieren vier Typen der Kooperation: Runde Tische, Partnerschaften, forschungsorientierte Zusammenarbeit und die Entwicklung nachhaltig oder fair produzierter Produkte. Viele der Kooperationen kommen erst durch Konflikte zustande, etwa nach einer Kampagne gegen die Verletzung von Arbeitsstandards in Weltmarktfabriken oder nach ökologischen Katastrophen. Bezüglich irregulärer Migration gibt es diese Konflikte zwischen TransporteurInnen, Unternehmen und MigrantInnen jedoch nur vermittelt, da irreguläre ArbeiterInnen und blinde Passagiere selten über eigene Organisationen verfügen. Im Fall der migrationsbezogenen Auseinandersetzungen haben sich nur in Ansätzen transnationale advocacy-Netzwerke und anderweitige Allianzen herausgebildet. Auch sind die Forderungen lobbypolitisch orientierter AkteurInnen nicht mit denen vieler illegalisierter MigrantInnen und europaweiter, radikalerer, antirassistischer Netzwerke deckungsgleich. So werden Fragen, die Zugangsregelungen zur EU thematisieren, von lobbypolitisch orientierten AkteurInnen diskursiv ausgeschlossen - ein Thema, das bei Selbstorganisierungen wie auch bei lokalen Initiativen, etwa an den EU-Außengrenzen, ganz oben auf der Tagesordnung steht. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen setzen sich einerseits von rein repressiven Maßnahmen, andererseits aber auch von der Forderung eines "Rechts auf Rechte" ab, das ein Recht auf Migration mit einschließt, wie es von einigen pro-migrant-AkteurInnen gefordert wird (vgl. ausführlicher Schwenken 2006). Eine Erklärung für die Zurückhaltung bei Fragen des Zugangs zur EU besteht zunächst in der folgenreichen und global zunehmend stärkeren Kopplung von Migrations- und Sicherheitsfragen. Diese Kopplung steht einem menschenrechtlichen Handeln diametral entgegen und schwächt ebenfalls AkteurInnen mit ökonomisch motivierten liberalen Positionen - beide Akteursgruppen könnten potenziell einem transnationalen advocacy-Netzwerk bzw. entsprechenden Allianzen angehören. Zweitens handelt es sich nicht um die gleichen, historisch gewachsenen Bündnisstrukturen wie in der Frauenpolitik, wodurch für Netzwerke zentrale Komponenten wie gegenseitiges Vertrauen, die routinierte Bezugnahme aufeinander und Arbeitsteilung nicht entwickelt sind. Für die in dieser Ausgabe der Peripherie geführte Diskussion des Verhältnisses von transnationalen (advocacy-)Netzwerken und sozialen Bewegungen ist dieser Beitrag ein Plädoyer dafür, stärker soziale Bewegungen und sogenannte schwache AkteurInnen in den Blick zu nehmen, da deren Forderungen oft ein Korrektiv zu einer auf Verhandlung und Konsens orientierten Lobbypolitik vieler transnationalen Politiknetzwerke darstellen. Für MigrantInnen in der EU, nicht nur Illegalisierte, heißt dies aber auch, die Wirksamkeit einer advocacy-Politik vorsichtig zu beurteilen, da die politische Verquickung mit Sicherheitspolitiken - etwa zur Terrorismusbekämpfung - zunimmt und sich auf immer mehr Bereiche der Migrations- und Integrationspolitik ausdehnt. Im nächsten Abschnitt geht es daher zunächst darum, die Bandbreite der AkteurInnen im Bereich von Migrations-, Antirassismus- und Asylpolitik in der EU nachzuzeichnen. Im darauf folgenden Schritt wird dann untersucht, wie ihre inhaltliche Positionierung zu irregulärer Migration aussieht und ob sie zusammenfinden und ein auf gemeinsamen Überzeugungen beruhendes transnationales advocacy-Netzwerk bilden können.

Dachverbände, Netzwerke und Selbstorganisationen in der EU

Nach den Migrationsforschern Andrew Favell und Andrew Geddes reicht es, bei der Analyse der Migrationspolitik der EU die Elitenmobilisierung einer Handvoll von Dachverbänden, Netzwerken und professionellen NGOs, das "Brussels game" (Favell & Geddes 1999: 4), zu berücksichtigen. Kleine und von MigrantInnen getragene Netzwerke und Organisationen werden von den meisten BeobachterInnen der Europäischen Lobbyszene nicht wahrgenommen. Dabei haben die großen Dachverbände und Netzwerke nur angesichts der Beharrlichkeit von MigrantInnenorganisationen angefangen, sich stärker mit Migrationsthemen zu befassen (Williams 2003). Die Analyse wird oft auf einen Politiktypus reduziert, der über lobbypolitische Einflussnahme versucht, einen Konsens mit den politischen und bürokratischen Eliten zu erreichen. Es wird angenommen, dass politische AkteurInnen allein darauf bedacht sind, derartige Resonanzen zu erzeugen (kritisch dazu: Marx Ferree 2003). Kleinere Netzwerke und MigrantInnenorganisationen thematisieren jedoch oft gerade Konflikte, die sich nicht über Lobbypolitik lösen lassen. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die relevantesten großen und kleineren migrationsbezogenen Organisationen und Netzwerke, die in irgendeiner Form die EU oder eine ihrer Institutionen entweder als Ursache von Problemen begreifen oder sie zum (in-)direkten Ziel von Protesten oder Einflussversuchen machen und bei denen die AkteurInnen aus mindestens einem Mitgliedsland der EU stammen (vgl. zur Begrifflichkeit europäischer Mobilisierung Imig & Tarrow 2001: 32). Die empirischen Daten habe ich zwischen 2000 und 2005 im Rahmen einer Arbeit über politische Mobilisierungen im Konfliktfeld irregulärer Migration in die EU erhoben (vgl. Schwenken 2006). Neben umfangreichen Dokumenten- und Ereignisdatenanalysen sowie teilnehmender Beobachtung habe ich dafür über vierzig Interviews mit ExpertInnen, vor allem von migrationspolitischen NGOs, Netzwerken und Dachverbänden sowie Selbstorganisationen von MigrantInnen, geführt.(5) Große europäische Dachverbände und Netzwerke: Die europäischen Dachverbände und Netzwerke weisen keine einheitliche Struktur auf, auch nicht, wenn sie durch die EU-Kommission ins Leben gerufen wurden, wie das European Union Migrants Forum (EUMF), das Ende 2000 nach diversen internen Problemen aufgelöst wurde(6), die European Women's Lobby (EWL) oder das European Antiracist Network (ENAR). Charakteristisch ist, dass sie ihren Hauptsitz in Brüssel, viele der kleineren Netzwerke in Amsterdam oder London haben. Der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) beobachtet und kommentiert die Asyl- und Migrationspolitik der EU. Die 73 Mitgliedsorganisationen sind advocacy-Organisationen, kaum Flüchtlingsselbstorganisationen. Das große antirassistische Netzwerk UNITED for Intercultural Action findet in der Literatur selten Erwähnung und ist kaum lobbypolitisch tätig. Dies liegt vor allem an der basisorientierten und entschieden kritischen Ausrichtung gegenüber der EU-Politik. Unter den 550 Organisationen sind rund zehn Prozent MigrantInnenorganisationen. ENAR betreibt vor allem Lobbyarbeit und begleitet die Implementation von antirassistischen Aktivitäten und gesetzlichen Regelungen, befasst sich nach der Auflösung des EUMF zunehmend aber auch mit migrationsbezogenen Thematiken. Rund ein Viertel der 568 assoziierten Organisationen sind Selbstorganisationen. In der EWL gibt es gute Thematisierungsbedingungen für migrationsbezogene Fragen, jedoch aufgrund der EWL-Struktur und der nationalen Mitgliedsverbände kaum eine Beteiligung von Migrantinnen. Kleinere europäische Netzwerke und Dachverbände: Im Themenfeld irregulärer Migration arbeiten vor allem zwei kleinere europäische Netzwerke, das RESPECT - European Network of Migrant Domestic Workers und die Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants (picum). Picum ist der einzige Dachverband in der EU, der sich ausdrücklich für soziale Rechte und Menschenrechte von illegalisierten MigrantInnen einsetzt. Ihm gehören kirchliche und andere advocacy-Organisationen sowie einige Zusammenschlüsse v.a. philippinischer MigrantInnen an. RESPECT wurde 1998 von der gewerkschaftsnahen NGO Solidar aus Brüssel und der britischen NGO Kalayaan initiiert, assoziierte Organisationen gibt es v.a. in Westeuropa. Mitglieder sind selbstorganisierte Hausarbeiterinnen, MigrantInnenorganisationen, Beratungsstellen und Unterstützungsorganisationen. Nach dem Auslaufen europäischer Förderung sind allerdings die dezidiert europäischen Aktivitäten nahezu zum Erliegen gekommen. Allerdings lebt das Netzwerk 'virtuell' weiter über das Selbstverständnis vieler lokaler und nationaler Gruppen, die sich als Bestandteil von RESPECT ansehen. Eine Fortsetzung erfährt RESPECT seit dem Jahr 2007 auch durch europäische Aktivitäten der auf den informellen Sektor spezialisierten niederländischen NGO IRENE und der European Trade Union Confederation (ETUC). Von den christlichen Organisationen, die professionelle Lobbypolitik und Monitoring gegenüber der EU-Kommission und dem EU-Parlament betreiben, ist das Churches' Committee for Migrants in Europe (CCME), der Dachverband christlicher Migrationsorganisationen, am profiliertesten. Internationale NGOs und Gewerkschaften: Einige internationale NGOs und Gewerkschaften engagieren sich im Rahmen ihres Mandats für undokumentierte MigrantInnen. Anti-Slavery International legt den Schwerpunkt u.a. auf Frauen- und Menschenhandel. Amnesty International (ai) hat ebenso wie Human Rights Watch (HRW) eine Dependance in Brüssel. Beide NGOs befassen sich u.a. mit den Folgen der Abschottung der EU gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden, die mittlerweile in der Mehrzahl irregulär einreisen, weil ihnen aufgrund der Gesetze oft die Möglichkeit genommen ist, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Bei den in Brüssel vertretenen Gewerkschaftsdachverbänden International Confederation of Free Trade Unions (ICFTU) und ETUC gibt es für Migrationsfragen jeweils einen zuständigen Fachbereich, das Feld (irregulärer) Migration gewinnt an Bedeutung. Think Tanks, ExpertInnennetzwerke und Informationsdienstleister: Das Selbstverständnis der in dieser Gruppe zusammengefassten Organisationen ist sehr unterschiedlich: Es reicht von der Bereitstellung nachgefragter Expertise bis zu Analysen, die der EU-Politik skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Die Migration Policy Group (MPG) beispielsweise stellt eine Schnittstelle zwischen NGOs und EU-Institutionen dar. Statewatch ist eine kleine, aber angesehene, in London ansässige NGO, die kritisch die Entwicklungen im Bereich von Bürgerrechten und Polizei, Sicherheitsdiensten und Überwachung verfolgt. Europäische, autonome, antirassistische Netzwerke: Antirassistische Gruppen, die nicht in die etablierteren, europaweiten Netzwerke eingebunden sind, vernetzen sich ebenfalls zunehmend im europäischen Rahmen, allerdings ohne durch die EU-Kommission bereitgestellte Ressourcen. So hat das noborder-Netzwerk seinen Ursprung in den Protesten gegen den europäischen Gipfel 1999 in Tampere, bei dem die europäische Asyl- und Migrationsagenda beschlossen wurde. Seitdem fanden europäische Treffen und Kampagnen (v.a. die Deportation-Class-Kampagne gegen Abschiebungen auf dem Luftweg) und eine Serie von Grenzcamps entlang europäischer Außengrenzen statt. In den letzten Jahren verstetigte sich die europäische Vernetzung u.a. durch Aktivitäten im Rahmen der Europäischen Sozialforen und des Frassanito-Netzwerks, in dem die emanizipativen Momente von Migrationsbewegungen zum Ausgangspunkt offensiver politischer Aktionen und Meinungsbildung genommen werden. Selbstorganisierungen von MigrantInnen in der EU: Die Selbstorganisierung von MigrantInnen ist u.a. durch drei Faktoren beeinflusst: dem rechtlichen Aufenthaltsstatus, die Aufenthaltsperspektive in einem Land und die Existenz von gewachsenen Strukturen der Selbstorganisierung. Es gibt eine Reihe von europäischen Dachorganisationen und Netzwerken. Die meisten sind entlang nationaler, großregionaler (z.B. Afrika, Lateinamerika, Asien) oder ethnischer Herkunft organisiert. Nach der Auflösung des als Vertretungsorgan von der EU anerkannten EUMF (vgl. Schwenken 2006: 157-165; Guiraudon 2004) gab es auf europäischer Ebene keinen organisationsübergreifenden Dachverband von Drittstaatsangehörigen mehr. Erst im Februar 2007 gründeten zwölf Flüchtlingsorganisationen aus elf Staaten ein europäisches Netzwerk von Flüchtlingen und Asylsuchenden, die European Refugee Advocacy Organisation (ERAD 2007), um der Stellvertreterpolitik im europäischen Kontext etwas entgegenzusetzen. Die Berücksichtigung irregulärer Migration ist unter den Selbstorganisationen von MigrantInnen und Flüchtlingen nicht selbstverständlich, da diese oft von Personen mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus getragen werden oder politische Verfolgung und Asylpolitik thematisieren. Unterschiede in der Organisationsdichte lassen sich an zwei Beispielen zeigen: Im ersten Fall handelt es sich um philippinische MigrantInnen in Europa. Sie verfügen über ein ausdifferenziertes, mehrere Jahrzehnte bestehendes und transnational verankertes Netzwerk verschiedenster Gruppen, dem beispielsweise die Commission for Filipino Migrant Workers, das Philppine-European Solidarity Centre, Migrante International oder Babaylan - Philippine Women's Network in Europe angehören. Ein Charakteristikum der philippinischen Organisierung ist die starke transnationale Ausrichtung, die von einem Selbstbewusstsein als philippinische ÜberseebürgerInnen und zugleich als MigrantInnen in Europa geprägt ist. Anders als viele MigrantInnenorganisationen stellt die Problematik der Illegalität ein wichtiges Aktivitätsfeld philippinischer Organisationen dar, da sich ein Teil der philippinischen MigrantInnen irregulär in Europa aufhält. Im zweiten Fall handelt es sich um MigrantInnen ohne bzw. mit prekärem Aufenthaltsstatus, deren Vernetzung vergleichsweise neu, punktuell und ungefestigt ist. Die europäische Vernetzungsinitiative der Sans-Papiers-Bewegung For an Open Europe kam zustande, als die nationale Koordination der französischen Sans-Papiers 1999 zu einem europaweiten Marsch und einer Konferenz nach Paris einlud. Gemeinsame Forderungen sind seitdem die vollständige Freizügigkeit, die Legalisierung aller Illegalisierten, der Stop von Abschiebungen sowie die Abschaffung der Doppelbestrafung(7) (beispielsweise CNSP u.a. 1999; CSP 69 Lyon u.a. 2002). Die europäische Vernetzung gestaltet sich jedoch u.a. aufgrund der Bewegungsbeschränkungen schwierig. Daher verläuft die Europäisierung erstens virtuell über Emailverteiler und Internetseiten, zweitens durch die Information über und Teilnahme an politischen Mobilisierungen von Illegalisierten in anderen Ländern und drittens über die Bezugnahme auf verbindende Ereignisse. Diese Ereignisse können Demonstrationen und Kongresse, zu denen Delegierte entsandt werden, oder Zwischenfälle wie der Tod der 20-jährigen nigerianischen Asylbewerberin Sémira Adamu sein, die im September 1998 bei der Abschiebung aus Belgien erstickte - sie gilt als "erste 'europäische Märtyrerin' der Bewegung" (Guiraudon 2004: 66). Die Voraussetzungen für die Herausbildung eines transnationalen advocacy-Netzwerks bestehen, da es erstens eine europäische Problemdimension gibt und sich zweitens viele bereits existierende Menschenrechts-, MigrantInnen- und Flüchtlingsorganisationen sowie einige Einzelpersonen in der EU-Kommission und im EU-Parlament nicht nur mit Migrationsthemen, sondern auch aus verschiedenen Warten mit irregulärer Migration befassen. Vereinzelt werden die Probleme illegalisierter MigrantInnen von Selbstorganisierungen aufgegriffen, oder illegalisierte MigrantInnen organisieren sich selbst. In Brüssel gibt es zudem regelmäßige Treffen der im Migrations- und Asylbereich tätigen NGOs sowie gemeinsame Stellungnahmen zu lobbypolitisch wichtigen Fragen. Der Grad der Formalisierung von Kooperationen ist eher gering und situativ bzw. beruht auf einem organisierten Informationsaustausch sowie der "Zirkulation" von Angestellten, Vorsitzenden und GeschäftsführerInnen zwischen den NGOs. Diese personelle Schnittmenge stellt m.E. eine Voraussetzung für die Konstituierung als TAN dar. Zugleich markiert sie, welche der Organisationen im Netzwerk eine zentrale Stellung einnehmen. Im Bereich Migration, Asyl und Antirassismus haben sich ENAR, ECRE, die Migration Policy Group und das CCME als Knotenpunkte herauskristallisiert. Im Bereich irregulärer Migration hat sich picum zunehmend profiliert, indem die Plattform die Beschäftigung mit dem Thema der Illegalität bei vielen anderen NGOs und Gewerkschaften angeregt und die Kooperation gesucht hat. Auch bezüglich der Bandbreite der beteiligten AkteurInnen sind die Voraussetzungen für ein TAN durchaus gegeben. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Organisationen aus der Zivilgesellschaft; nicht beteiligt sind Unternehmen (siehe weiter unten das empirische Beispiel einer versuchten Koalitionsbildung). Adressatin ist in der Regel die EU, vornehmlich die EU-Kommission, weniger der Europäische Rat, obgleich dieser für Migrationsfragen ebenfalls wichtig ist.

Ausklammerung der Zugangsfrage: Das advocacy-Netzwerk

Wie sieht die inhaltliche Ausrichtung dieser Netzwerke und Organisationen bezüglich irregulärer Migration aus? Und was können diese Organisationen gemeinsam für illegalisierte MigrantInnen "bewegen"? Die Auswertung von Interviews mit den zentralen, nicht-staatlichen, europäischen AkteurInnen ergab bezüglich ihrer Tätigkeit und politischen Positionsbestimmung im Politikfeld irregulärer Migration, dass sie sich nur mit Fragen des irregulären Aufenthaltes von Personen befassen. Einreisemodalitäten, Abschiebung und Rückkehr gehören überraschenderweise kaum zum bearbeiteten Themenspektrum. Das Themenfeld irreguläre Migration wird also aufgegliedert. Die Aufgliederung entspricht der in der Migrationsforschung üblichen, idealtypischen Unterteilung in Phasen des Migrationsprozesses: Migrationsentscheidung, Durchführung der Wanderung und Grenzübertritt, Aufenthalt im Immigrationsland und Verbleib, Rückkehr in das Herkunftsland bzw. Weiterreise. Die Fokussierung auf den irregulären Aufenthalt wird von den AkteurInnen jedoch nicht mit der Logik des Migrationsprozesses begründet. Sie liegt vielmehr erstens an der Rolle der Organisationen als lobbypolitische AkteurInnen in Brüssel, zweitens an den Interessen ihrer Mitgliederbasis und drittens an den Wegen in die Illegalität, die nicht die irreguläre Einreise beinhalten müssen. Picum etwa fasste bewusst den Beschluss, dass nur Fragen des Aufenthaltes und der damit verbundenen sozialen Rechte und Lebensbedingungen Gegenstand der Arbeit sind: "[Die Generalversammlung] hat beschlossen, dass wir nur zu sozialen Rechten, zu Abschiebung und Legalisierung arbeiten. Also nur für MigrantInnen, die schon hier sind, wir berücksichtigen somit nicht, wie sie hierher gekommen sind und wie sie wieder gehen. Wir sprechen nicht über Migrationsprogramme und nicht über Rückkehr" (Interview mit picum, 23. 7. 2001).(8) Diese rigorose Fixierung auf Aufenthaltsfragen verwundert zunächst, da sich die Phasen des Migrationsprozesses zwar heuristisch trennen lassen, sie aber in der Realität miteinander verbunden sind. Es könnte somit Aufgabe einer reflektierten Migrationspolitik sein, Interdependenzen und (unintendierte) Folgen dieser begrifflichen Trennung zu berücksichtigen. Die Beschränkung von picum ist darin begründet, dass es strategisch für eine Lobbyorganisation wichtig ist, sich auf bestimmte Fragen zu konzentrieren, die im europäischen Kontext thematisierbar und verhandelbar sind. Grundbedürfnisse undokumentierter MigrantInnen, etwa der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Schulbildung, eignen sich wesentlich besser als beispielsweise die Kritik des europäischen Grenzregimes. Wie das folgende Zitat zeigt, wird die Forderung nach Öffnung und prospektiver Abschaffung territorialer Grenzen von picum - und allen anderen NGOs - nicht geteilt. Vielmehr wird sie als zu utopisch und für die Lobbyarbeit kontraproduktiv kritisiert. Zugleich billigt picum dieser Forderung in der politischen Landschaft die Rolle zu, die politische Diskussion offen zu halten. "Sie wollen offene Grenzen, dass es nirgendwo mehr Grenzen gibt ... Für uns ist das zu extrem. Wir verstehen, dass es ein entferntes Ziel ist, aber wenn man keine Strategie dahin hat oder Dinge, mit denen man auch zufrieden ist, das ist so extrem. Unser Standpunkt ist, dass wir allen Gruppen ihre Funktion in der Gesellschaft zubilligen, klar können sie existieren, kein Problem. Aber wir setzen unseren Namen nicht in ihre Nähe" (Interview mit picum, 23. 7. 2001). Ein weiterer Grund für die Beschränkung auf Aufenthaltsfragen liegt darin, dass picum eine recht junge Organisation ist. Die Mitgliedsorganisationen konnten noch keine gemeinsame Position zu Fragen von Zugang und Rückführung finden. Daher ist die Bearbeitung von Aufenthaltsfragen der gemeinsame Nenner. Auch RESPECT verfolgt einen Ansatz, der Fragen des Zugangs zur EU nur am Rande thematisiert, sondern sich vielmehr auf die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen konzentriert: "Sie sind hier, sie haben Kinder, sie arbeiten. ... Wenn wir es schaffen, ihr Leben, in dem Moment, in dem sie hier sind, in den Mittelpunkt zu stellen, ihren Status vergessen zu machen - das ist ein Sieg!" (Interview mit RESPECT/Solidar, 28. 11. 2000). Eine Strategie des Netzwerks liegt also darin, den irregulären rechtlichen Status der Frauen und den Einreiseweg zu de-thematisieren, um danach auf der Ebene von sozialen Rechten und Menschenrechten zu argumentieren. Ähnlich sieht es bei den Gewerkschaften und Kirchen aus, allerdings aus anderen Gründen. Eine Gewerkschaftssekretärin des ETUC führt die Mitgliederinteressen und die Angst vor Dumpinglöhnen an (Interview mit ETUC, 23. 7. 2001). Das CCME nennt es eine pragmatische Entscheidung, zum irregulären Aufenthalt von MigrantInnen zu arbeiten, da in der praktischen Arbeit ihrer Mitgliedsorganisationen die illegalisierten MigrantInnen zu den Hilfs- und Beratungsstellen kämen, wenn sie bereits im Land sind (Interview mit CCME, 16. 7. 2002). CCME bearbeitet im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes aber auch Fragen des Zugangs und der Rückkehr. Dieser Ansatz beruht auf der transnationalen Organisation der christlichen Kirchen, die sowohl in den Herkunfts- als auch in den Transit- und Zielländern mit MigrantInnen und potenziellen MigrantInnen in Kontakt kommen und so den gesamten Migrationsprozess begleiten bzw. beobachten können. Das CCME kritisiert, dass die EU die Bekämpfung irregulärer Einwanderung als Voraussetzung für die Einführung regulierter, legaler Einwanderung betrachtet und nicht umgekehrt. Daher ist der Dachverband solange gegen Rückführungsmaßnahmen, bis es ausreichend legale Einreisemöglichkeiten gibt: "Wir können Rückführungsmaßnahmen in dem Maße unterstützen, wie legale Einwanderungsmöglichkeiten da sind. Wenn wir Leuten im Nahen Osten sagen könnten, 'das sind die Kanäle, nutzt sie', und sie sind nutzbar, dann kann man an die Frage der Illegalität bei der Einreise sehr anders herangehen" (Interview mit CCME, 16. 7. 2002). Ein weiterer Grund der Konzentration auf Aufenthaltsfragen liegt in den Wegen in die Illegalität begründet. Illegaler Aufenthalt und illegale Beschäftigung entstehen nicht allein durch irreguläre Einreise, sondern oft erst im Land selbst, etwa durch die Überziehung des Visums, die Arbeitsaufnahme ohne Arbeitserlaubnis, die Ablehnung des Asylantrags, Entlassung durch den Arbeitgeber oder durch Trennung von dem/der EhepartnerIn, bevor ein unabhängiger Aufenthaltsstatus erreicht wurde. Eine Reihe der Befragten machen bezüglich ihrer Klientel auf diese Wege in die Illegalität aufmerksam. Frauen, die in Privathaushalten arbeiten, reisen oft als Touristinnen legal ein, verwirken ihren temporären legalen Status aber aufgrund illegaler Arbeitsaufnahme (Interview mit RESPECT/Solidar, 28. 11. 2000). In Großbritannien wurden Visa lange Zeit für Hausangestellte nur für einen bestimmten Arbeitgeber vergeben, der im Pass vermerkt wurde. Dies führte dazu, dass Hausangestellte ihre Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis verloren, wenn sie den Arbeitgeber informell wechselten, etwa wegen schlechter Behandlung oder schlechter Arbeitsbedingungen. Meine InterviewpartnerInnen hoben vor allem die staatliche Verantwortung für die Illegalisierung durch für die MigrantInnen ungünstige Gesetze hervor. Dies gilt ebenso für Personen, die durch Menschenhandel unfreiwillig nach Westeuropa kamen. Auch sie müssen nicht irregulär eingereist sein Die Gründe für die Ausklammerung der Fragen des Zugangs zur EU sind, wie dargestellt, vielfältig. Diese explizit-politische oder pragmatisch-faktische Ausklammerung selbst bei AkteurInnen, bei denen es aufgrund der Befassung mit undokumentierter Migration nicht zu vermuten ist, führt dazu, dass im Spektrum der auf europäischer Ebene arbeitenden NGOs die kritische und menschenrechtliche Befassung mit dem europäischen Grenzregime weitestgehend eine Leerstelle bleibt, obwohl Fragen des Zugangs zur EU oder der Durchlässigkeit von Grenzen zu den Problemen in der Migrationspolitik gehören, die nicht nur zwischen NGOs und Regierungen, sondern auch unter NGOs höchst kontrovers sind. Durch die faktische Nicht-Beteiligung von selbstorganisierten MigrantInnengruppen, autonomen, antirassistischen Netzwerken und illegalisierten MigrantInnen an den lobbypolitischen Aktivitäten bleiben grundsätzlichere Forderungen ebenso unberücksichtigt wie Forderungen nach Legalisierung, da die EU dafür keine geeignete Adressatin ist.

Eine Koalition aus der Transport- und Flüchtlingslobby?

Wie jedoch nicht zuletzt die politischen Auseinandersetzungen um die Einreise in die EU über die spanischen Enklaven Melilla oder Ceuta sowie die Kanarischen Inseln und Lampedusa zeigen, sind Zugangsfragen zentraler Bestandteil der Migrationspolitik (vgl. Zeiler 2006, Andrijasevic 2006). Um mich dieser konfliktträchtigen Thematik zu nähern, analysiere ich im Folgenden einen Versuch des Dialogs zwischen Flüchtlingsorganisationen und der Transportunternehmenslobby. Warum Transportunternehmen? Dies ist zum einen theoretisch interessant, um die in der NGO-Forschung virulente Frage der Kooperation zwischen Wirtschaftsunternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu bearbeiten. Zudem benötigen alle Einreisenden Transportmittel. Außerdem werden Transportunternehmen von den Mitgliedsstaaten der EU für den Transport irregulärer MigrantInnen mit finanziellen Sanktionen belegt (ECRE 1999). Schließlich wird die Kontrolle von Grenzübertrittspapieren zunehmend den Unternehmen, also privaten AkteurInnen, auferlegt. Durch die Externalisierung bzw. die Privatisierung der Kontrollen weitet sich der Raum (indirekter) staatlicher Intervention über den klassischen Grenzraum hinweg aus; staatliche Kontrolle verschiebt sich von der öffentlichen zur privatwirtschaftlichen Sphäre. Sowohl Migrations- und Flüchtlingsorganisationen als auch Transportunternehmen sind also von der irregulären Einreise von Flüchtlingen und MigrantInnen betroffen, die einen als MenschenrechtsadvokatInnen, die anderen als des Menschenschmuggels Verdächtige bzw. als ökonomisch Geschädigte. Allerdings scheint es unwahrscheinlich, dass sich Transportunternehmen für ihre blinden Passagiere lobbypolitisch einsetzen, da sich die Unternehmen dann ihrerseits dem Verdacht ausgesetzt sehen, aktiv an Schleusungen beteiligt zu sein oder von SchleuserInnen genutzt zu werden. Anlässlich geplanter Verschärfungen der Sanktionen gab es jedoch erste Ansätze einer Allianzbildung. Der Interessenverband der Transportunternehmen, die International Road Transport Union (IRU) ist als Teil der Brüsseler Industrielobby stärker als beteiligte Einzelunternehmen auf der Suche nach Bündnispartnern und auf politischen Dialog ausgerichtet. Dabei stieß die IRU auf in Brüssel tätige Flüchtlingsorganisationen und versuchte, sie mit dem Bezug auf Menschenrechte anzusprechen. In zwei frühen Stellungnahmen argumentierte die IRU auf einer reinen Interessenvertretungsebene: Die FahrerInnen und Unternehmen seien unschuldig, und polizeiliche Kontrollen müssten gewährleisten, dass illegale MigrantInnen nicht an Bord gelangten (IRU 1999, IRU 1998). Erst nachdem die Kontakte in die EU-Kommission, das Europäische Parlament und zu nicht-staatlichen Organisationen intensiviert wurden - ECRE und CCME befassen sich bereits seit den frühen 1990er Jahren mit den Auswirkungen, die Sanktionen gegen Transportunternehmen auf Flüchtlinge haben -, wurden humanitäre Argumente und das Schicksal der Flüchtlinge von der IRU aufgegriffen. Diese Abfolge spricht für eine bewusste Ausweitung von argumentativen Bezügen seitens der IRU (in der Bewegungsforschung frame alignment genannt). Zugleich deutet sie auf das Interesse von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen hin, neue Koalitionspartner aus einem anderen Sektor - der Industrielobby - zu finden. An der französischen Vorlage zu einer EU-weiten Pflicht zum Rücktransport irregulär Beförderter (EU-Council 2000) äußert die IRU menschenrechtliche Bedenken: "Menschen, selbst illegale Einwanderer, können nicht einfach als Güter betrachtet werden, die ohne ihr Einverständnis hin und her transportiert werden" (IRU 2000b: 3). Daher schließe sich die IRU der Forderung der UN-Flüchtlingskommission (UNHCR) an, die die Bestrafung auf diejenigen Fälle beschränken will, in denen intentional die illegale Einreise direkt oder indirekt unter materiellem Nutzen ermöglicht wurde (IRU 2000b: 3). Bei einer Exkursion der IRU nach Calais bezeichnete Martin Marmy, Generalsekretär der IRU, das Thema der irregulären Migration als "eines der komplexesten humanitären Probleme" (IRU 2000a). Der Tod von 58 Chinesen in einem Container in Dover im Juni 2000 sei ein tragisches Ereignis. Obgleich die Chinesen durch skrupellose Praktiken krimineller Banden zu Tode gekommen seien, sei das Thema von den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten ausgenutzt worden ("hijacked"), um einheitliche Gesetze durchzusetzen, die sich gegen legal operierende Transportunternehmen richteten (IRU 2000a: 2). Marmy kritisiert eine Instrumentalisierung des Leids von irregulären MigrantInnen durch die Regierungen, die dazu diene, striktere Gesetze der Migrationskontrolle durchzusetzen. Trotz der Rekurse auf humanitäre Aspekte ergibt die Analyse der Veröffentlichungen der Transportunternehmen, dass ihr diskursiver Bezug auf Flüchtlinge selbst eine Tendenz zur Instrumentalisierung aufweist. Das eigene Interesse an Straffreiheit und ein dazu dienender Sicherheits- und Kontrolldiskurs stehen im Vordergrund. Äußerer Druck und ökonomische Geschäftsinteressen führen dazu, dass die humanitären Aspekte ins Hintertreffen geraten. Für Bruno Kapfer, Migrationsbeauftragter von Caritas Europa, sind das Dilemma und seine einseitige Auflösung bereits in den gesetzlichen Vorgaben angelegt. In vielen Regelungen zur Sanktionierung des Transports von undokumentierten Personen sei zwar eine humanitäre Klausel vorgesehen, "letztendlich sagt man den Transportunternehmen aber, dass sie nach ihren eigenen Kriterien entscheiden müssen, und das sind ökonomische Kriterien. [...] Es gibt schlussendlich also keine andere Lösung, als auf einer ökonomischen Basis zu entscheiden" (IRU u.a. 2001: 67). Die Flüchtlingsorganisationen heben die asylrechtliche Bedeutung der Sanktionen für Transportunternehmen hervor. Dies fließt jedoch nicht in die Argumentation der IRU ein. Die Problematik wurde bei der Formulierung von Menschen- und Asylrechten berücksichtigt. So hält Artikel 31 der UN-Flüchtlingskonvention fest, dass Flüchtlinge nicht wegen ungültiger Reisedokumente bestraft werden sollen (GFK 1951). In der Konsequenz bedeutet die Übertragung der Dokumentenkontrollen auf Privatakteure, dass nicht nur die Kontrollen privatisiert werden, sondern auch die Entscheidung darüber, ob eine Person aus dem Land fliehen und Zugang zum Asylverfahren finden kann. Mit anderen Worten: FahrerInnen, Fluggesellschaften und BusbegleiterInnen müssen einschätzen, ob Personen, die angeben, einen Asylantrag stellen zu wollen, anzuerkennende Gründe dafür haben oder nicht. Wenn die legalen Einreisewege durch diese Sanktionen und Kontrollen versperrt sind, müssen sich Asylsuchende in immer mehr Fällen an kommerzielle Fluchthelfer wenden. Dadurch steigen die Kosten für die Flucht immens. Die Praxis der Carriers' Liability fördert somit Menschenschmuggel und skrupellose Praxen. In einigen Ländern gibt es Regelungen, dass die Strafen nicht gezahlt werden müssen bzw. zurückerstattet werden, wenn die Personen zum Asylverfahren zugelassen werden (Belgien, Frankreich, Luxemburg) bzw. das Asylverfahren erfolgreich abgeschlossen wurde (Finnland, Deutschland) (ECRE 1999: 30). Die humanitäre und asylrechtliche Tragweite der Strafen wurde von den Transportunternehmen jedoch nicht als Argument verwandt. Flüchtlingsorganisationen und der Ausschuss für die Freiheiten und die Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten des EU-Parlaments wiesen auf die Einschränkung des Rechts auf Asyl auf dem Weg der Sanktionierung der Transportunternehmen hin. Doris Peschke (CCME) kritisiert, die Einzelfallprüfung sei nicht mehr garantiert, da die Transportunternehmen, wollen sie auf der sicheren Seite sein, den Transport von MigrantInnen immer ablehnen müssten (Peschke 2001: 57). Der Ausschuss des EU-Parlaments widerspricht ebenfalls entschieden der Tendenz zur Übertragung der Dokumentenkontrolle und der Entscheidung über die Gründe von Asylsuchenden auf die Transportunternehmen: "Wenn ein Transportunternehmen die Motive eines Asylantragstellers bewerten muss, wird das negativ die Rechte von Letzteren beeinflussen; und dies bedeutet, dass das Transportunternehmen fälschlicher Weise die Rolle übernimmt, die der Staat bei Asylverfahren hat, nämlich allein verantwortlich die Prüfung von Asylgesuchen vorzunehmen" (EP 2001: 6). Trotz des Fokus auf die Wahrung wirtschaftlicher Interessen geht Peschke auf die Transportunternehmen zu und regt sie dazu an, sich verstärkt mit ethischen Fragen zu befassen. "Transporteure sind sehr erfahren mit internationalen Begegnungen und verlangen daher nach fairen und transparenten Verfahren. Sie könnten auch eine Rolle spielen beim Einstellungswandel und klar ausdrücken, dass schutzbedürftige Personen nicht als Asylbetrüger abgestempelt werden sollen" (Peschke 2001: 59). Dieser Aufruf lässt das Changieren zwischen einer allein auf strategischen Erwägungen beruhenden Ausweitung der Argumente (frame alignment) und einer auf inhaltlichen Gründen beruhenden Verknüpfung von ideologisch kongruenten, aber bislang unverbundenen Rahmungen (frame bridging) erkennen. Die Problematik macht deutlich, dass es durchaus naheliegende Verknüpfungen zwischen den Anliegen von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen und den Interessen der Transportunternehmen gibt. Allerdings ist die Hoffnung Peschkes unrealistisch, dass sich die Transportunternehmen und FahrerInnen in Zukunft als interkulturelle ExpertInnen daran beteiligen, das mediale Bild des 'Asylbetrügers' zu korrigieren. Jean Wyns, Präsident der internationalen Busgesellschaft Eurolines, expliziert die nicht nur ideologischen, sondern vor allem materiellen Differenzen zwischen NGOs und Transportunternehmen: "Ich ängstige mich ein wenig, wenn Vertreter der NGOs sagen, dass wir in die gleiche Position kommen können, weil wir es sind, die durch die Strafen von Großbritannien bedroht sind; und weil wir die Passagiere befördern; wir könnten von den NGOs verklagt werden, wenn wir das ablehnen" (IRU u.a. 2001: 66). Daraus leitet ein Vertreter des Transportsektors einen provokanten Vorschlag ab: Die NGOs sollten sich im Sinne eines burden sharing finanziell an den Strafen beteiligen (IRU u.a. 2001: 70). Auch Beschwerden und Eingaben von FahrerInnen lassen erwarten, dass der bislang ausgebliebene Umschlag der Betrachtung von Flüchtlingen als Opfer in 'Täter-Flüchtlinge' bevorsteht, wenn die Praxis der Belegung mit existenziellen Strafen und der Beschlagnahmung von LKWs bestehen bleibt. Aus der Sicht Robert Davidsons von der International Air Transport Association (IATA) steht daher die Transportindustrie zwischen Staaten und NGOs: "Die Staaten verlangen von der Transportindustrie, dass sie die Dokumente kontrollieren. Die NGOs und andere sagen, wenn ihr das tut, dann verletzt ihr Rechte der Personen. Wir erhalten hier also keinerlei Unterstützung, weil wir hier gegensätzliche Sichtweisen haben - und wieder einmal findet sich die Transportindustrie dazwischen wieder" (IRU u.a. 2001: 69). Mit dieser Beschreibung, nach der das Transportgewerbe von zwei gegensätzlichen und (vermeintlich) machtvollen Interessengruppen unter Druck gesetzt wird, nähert es sich wieder der eingangs identifizierten Opferrahmung (diagnostic frame) an, dass die Transportunternehmen ökonomisch bedroht seien. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass sich die von der IRU beabsichtigte Allianz zwischen Transportunternehmen und Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen als sehr schwierig erweist, da sich die Opposition beider Akteursgruppen gegenüber den Strafen für Transportunternehmen aus gegenläufigen Gründen speist. Konflikte über die Ziele der Koalition sowie die unterschiedlichen Organisationsidentitäten stehen einer engeren Kooperation im Wege. Der Runde Tisch stellt zwar ein Dialogforum dar, allerdings stand es unter derartigem Erfolgs- und Beobachtungsdruck, dass es zu wenig inhaltlicher Begegnung kam.

Fazit

Das Beispiel des Allianzversuchs zwischen der Transport- und Flüchtlingslobby zeigt, dass die beiden Sektoren sich nicht einmal aus unterschiedlichen Gründen gegen Politiken der EU aussprechen, also einen Minimalnenner finden. Vielmehr kam es aufgrund des zunehmenden Drucks auf die Transportunternehmen durch die Sicherheits- und Antiterrorpolitik zu sich ausschließenden Schlussfolgerungen: striktere Kontrolle der Einreisenden und ihrer Papiere versus grundsätzliche Offenheit der EU und ggf. spätere Überprüfung der Legitimität von Einreisegründen. In der Migrationspolitik scheint allgemein eine sektorübergreifende Allianz schwer herstellbar zu sein, d.h. es ist "wenig zu bewegen" für illegalisierte MigrantInnen. Ähnliche Dynamiken sind bei Kooperationen von Flüchtlings- und Migrationsorganisationen mit anderen Lobbyverbänden zu erwarten, etwa den ArbeitgeberInnen, die in der europäischen Politik punktuell ein machtvoller Kooperationspartner sein könnten. Diese könnten zwar aus dem Eigeninteresse an günstigen Arbeitskräften heraus für eine größere Durchlässigkeit der Grenzen sein, bislang gab es jedoch kaum Annäherungen. Diese Distanz ist erstens damit zu erklären, dass sich die Lobby parteigebunden stark mit einer migrationsunterdrückenden Lobby überlappt und sich zweitens an anderen Logiken orientiert, etwa an der kurzfristigen Verfügbarkeit von Arbeitskraft. Die ökonomischen Bedürfnisse von Unternehmen stehen gegenüber gesellschaftlichen Interessen an Integration oder den persönlichen und familären Interessen der MigrantInnen im Vordergrund. Drittens ist im Bereich irregulärer Migration von den ArbeitgeberInnen keine Stellungnahme zu erwarten, da die Beschäftigung undokumentierter MigrantInnen illegal ist und etwa in Privathaushalten die ArbeitgeberInnen in der Regel nicht als solche organisiert sind. Folglich ist eher eine stillschweigende Tolerierung zu erwarten. Es wurde somit in diesem Beitrag aufgezeigt: Erstens sind die bereits aktiven Netzwerke und Organisationen im Antirassismus-, Menschenrechts- und Migrationsbereich beim Thema irregulärer Migration weitestgehend auf den Minimalnenner "Menschenrechte für MigrantInnen" festgelegt. Zweitens ist das advocacy-Netzwerk auf die im zweiten Teil eingeführten Organisationen und Dachverbände begrenzt. Drittens sind die Möglichkeiten der Kooperationen in verschiedene Richtungen nur schwer oder gar nicht zu realisieren. Da Netzwerke und Organisationen selbstorganisierter (illegalisierter) MigrantInnen nur marginal an den Kooperationen beteiligt sind, handelt es sich in der Tat um eine advokatorische Interessenvertretung. Für die Analyse von Bewegungshandeln oder politischen Mobilisierungen in der EU ist das viel verwandte Konzept der transnationalen advocacy-Netzwerke von Keck & Sikkink daher nur bis zu einem gewissen Grad interessant: Seine Stärke liegt in der genauen Beobachtung des Agierens nichtstaatlicher AkteurInnen auf internationaler Ebene im Verhältnis zu anderen AkteurInnen. Seine Grenze erreicht es allerdings, wenn das Bewegungshandeln nicht auf die Veränderung staatlicher Politik konzentriert ist, wenn beispielsweise ein Kurswechsel der europäischen Migrationspolitik als unwahrscheinlich erachtet wird und stattdessen das Unterlaufen des Grenzregimes oder die praktische Selbsthilfe im Vordergrund des vernetzten und kollektiven Handelns steht. Der Ansatz betrachtet somit fast ausschließlich Handeln von Eliten, dessen potenzieller Erfolg in den meisten Fällen für die Betroffenen nicht direkt spürbar ist, sondern von den AdvokatInnen an diese kommuniziert werden muss. Diese ernüchternden Ergebnisse lassen sich in eine fruchtbare Richtung wenden, wenn das Verhältnis von advocacy-Netzwerken und Bewegungen sowie Selbstorganisierungen von illegalisierten MigrantInnen stärker betrachtet wird. Über die Mittel eines transnationalen advocacy-Netzwerks ist derzeit nicht zu erwarten, dass sich politisch im Bereich der irregulären Migration und des "Zugangs" viel im Sinne der MigrantInnen bewegen wird. Insofern sind Aktions- und Artikulationsformen antirassistischer Gruppen und illegalisierter MigrantInnen, die in den Interviews von den in Brüssel ansässigen NGOs als zu radikal, unrealistisch oder symbolisch bezeichnet wurden, durchaus ernst zu nehmen. Zwei Interventionsstrategien sind in diesem Sinne interessant: Zum einen wurde über eine Serie von "Grenzcamps" des europäischen noborder-Netzwerks die Institution der Grenze und die Bedeutung alltäglicher Ausgrenzung im "grenzenlosen Europa" publik gemacht. Etwa zur gleichen Zeit prangerte die "Imageverschmutzungs"-Kampagne Deportation Class öffentlichkeitswirksam die Abschiebepolitik der EU-Mitgliedsstaaten und der EU sowie die Mitverantwortung der an den Abschiebeflügen verdienenden Fluggesellschaften an. Diese Aktionen waren offensiv angelegt und verfolgen die Strategie einer Delegitimierung europäischer Migrationspolitiken. Die zweite Strategie antirassistischer Gruppen in Europa setzt ebenfalls auf langfristigen Wandel, begibt sich aber partiell in gesellschaftlich machtvollere Gruppierungen wie Gewerkschaften. Mit Blick auf die USA und einer sich zumindest in einigen Sektoren verändernden Haltung von Gewerkschaften gegenüber (undokumentierten) MigrantInnen wird versucht, das Bild illegalisierter ArbeiterInnen und das Verständnis von Solidarität zu verschieben und auf innovativen Wegen Beschäftigtengruppen zu organisieren und zu aktivieren, die bis dato als unorganisierbar galten. Beide hier skizzierten Strategien können ebenfalls nur über Vernetzungen realisiert werden. Allerdings unterscheiden sich sowohl die AkteurInnen als auch die Aktionsformen dieser transnationalen Bewegungsnetzwerke von den transnationalen advocacy-Netzwerken und sektorübergreifenden Allianzen zwischen Unternehmen und NGOs.

Anmerkungen

(1) Rucht konzentriert sich auf außer-institutionelle und oppositionelle politische Praktiken. Transnationaler Protest reicht von kleinen, grenzüberschreitenden Initiativen bis hin zu global agierenden, supranationalen Bewegungsorganisationen (Rucht 2001). (2) Transnationale soziale Bewegungen sind nach Sidney Tarrow "mobilisierte Gruppen mit Mitgliedern in mindestens zwei Staaten, die sich in einer längerfristigen Auseinandersetzung mit Mächtigen in mindestens einem Staat engagieren, der nicht ihr eigener ist; oder gegen eine internationale Institution oder einen multinationalen ökonomischen Akteur" (Tarrow 2001: 11). (3) "Bewegungen [...] finden sich auch innerhalb der transnationalen Institutionen; Interessengruppen finden sich auch außerhalb dieser transnationalen Institutionen; und moralische Mobilisierung [...] findet in diesen Institutionen und außerhalb dieser Institutionen statt" (Eder 2001: 47). Diese Form des Bewegungshandelns geht nicht im klassischen Modell der Bewegungspolitik auf. Eder vermutet, dass die Europäisierung, die er als Fall einer transnationalen Ebene untersucht, "zu einer besonderen transnationalen Konstellation von politischer Beteiligung und Protest" (ebd.: 48) führe. (4) Zu den Ambivalenzen dieser Erfolge vgl. Woodward (2001), Stratigaki (2005) und Walby (2005). (5) Detaillierte Quellennachweise und statistische Daten zur Mitgliederbasis (v.a. zur regionalen Herkunft und zum Anteil von MigrantInnenselbstorganisationen in den Netzwerken und Dachverbänden) finden sich in Schwenken (2006: 121-135, 325-338). (6) Daher gehe ich auf das EUMF, dem einzigen von der EU anerkannten und von der Mitgliederbasis her großen Dachverband von MigrantInnen, hier nicht ein; vgl. dazu Danese (1998), Schwenken (2006: 157-165, 335), Williams (2003). (7) Unter Doppelbestrafung wird die Praxis verstanden, nach der MigrantInnen nach Verbüßung einer Haftstrafe abgeschoben werden. (8) Diese und alle folgenden Übersetzungen durch die Autorin.

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