Eine andere Gewerkschaftsbewegung ist möglich

"Eine andere Welt ist möglich" - proklamieren Globalisierungskritiker weltweit.

Aber wie steht es um die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung? In dieser Hinsicht ist man sich über das Nötige und Mögliche weder in wissenschaftlichen Kreisen noch unter den Praktikern einig.

Dies wurde auch auf der Konferenz "Revitalisierung der Gewerkschaften: Aus der Krise zur Erneuerung?" deutlich, die im Dezember 2006 in Jena stattfand. Die Kritiker an den vorgetragenen Thesen der Arbeitsgruppe "Strategic Unionism" plädierten dafür, zunächst eine kritische Problemanalyse vorzunehmen, um dann die gewerkschaftlichen Kernhandlungsfelder zu identifizieren. Einige Vertreter der Thesen konstatieren hingegen, dass die bundesrepublikanische Gewerkschaftsforschung in den letzten Jahrzehnten ausreichend Krisendiagnose der Gewerkschaften betrieben hätten und der Vorschlag an dieser Stelle sei, sich nun handlungsorientierten Alternativen zuzuwenden. Dies scheint in der Tat nötig und, wie jüngste Beispiele aus der Praxis zeigen, auch möglich. Besonders ver.di fällt dabei immer stärker ins Auge. Dort findet man in Form der Lidl-Kampagne und des Sicherheitsprojektes von ver.di-Hamburg tatsächlich erste Anzeichen für die Anwendung einiger Elemente des Organizing-Modells.

Die Skepsis gegenüber dem Organzing-Konzept ist groß und es ist in der bundesrepublikanischen Debatte umstritten, inwieweit der aus den USA und Großbritannien stammende Ansatz des Organizing-Modells auf hiesige Verhältnisse übertragbar ist. Dieser Einwand ist berechtigt - schließlich handelt es sich in der Tat um unterschiedliche Gewerkschaftssysteme, -identitäten und -traditionen, andere Kulturen und Rahmenbedingungen, die die jeweiligen nationalen Gewerkschaften prägen und ihre Arbeitsweisen bestimmen. Andererseits ist offensichtlich, dass die Krise gewerkschaftlicher Repräsentanz, Mitgliederschwund sowie geschwächte Durchsetzungsmacht und Mobilisierungsfähigkeit wahrlich keine nationalen Probleme darstellen, sondern Gewerkschaften sich weltweit mit diesen intern gelagerten Entwicklungen konfrontiert sehen. Auch einige externe Faktoren, wie die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes oder zunehmende prekäre Beschäftigungsverhältnisse, besonders im wachsenden Dienstleistungssektor, sind keine auf ein Land beschränkte Phänomene, sondern Ergebnis weltweiter Entwicklungen.
Könnte es insofern nicht gewinnbringend sein, die Antworten von Gewerkschaften anderer Länder auf die heutigen Probleme näher unter die Lupe zu nehmen und Erfolgsbedingungen für alternative Praktiken zu analysieren? Wäre nicht denkbar, dass daraus fruchtbare Erkenntnisse und organisationspolitische Fortschritte erlangt würden, die auch für deutsche Gewerkschaften, etwa für ver.di, nutzbar gemacht werden können?

Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen
Ein Blick über den Tellerrand: Einige Gewerkschaftsgliederungen in den USA haben sich zu Social Movement Unions gewandelt und dadurch revitalisiert, was einherging mit einer Stärkung ihrer Durchsetzungsmacht. Dies war eine bewusste politische Entscheidung: Dafür wurden verschiedene Bildungs- und Trainingangebote für Mitglieder und Hauptamtliche erarbeitet und Ressourcen aufgewendet, um Organizing-Abteilungen mit hauptamtlichem Personal einzurichten. Bilinguale Organizer für Branchen mit vielen Beschäftigten mit Migrationshintergrund und Researcher zur Ermittlung von strategischen Zielen und Schwachstellen in zu organisierenden Unternehmen wurden eingestellt. Die Gewerkschaften, die sich im allgemeinen verändert und sich speziell an dem Organizing-Ansatz, also an einem mitgliederorientierten Selbstvertretungsmodell, orientiert haben, waren erfolgreicher als die nicht-erneuerten Gewerkschaften bei der Gewinnung neuer Mitglieder, inklusive solcher Zielgruppen, auf die sich Gewerkschaften bisher in der Regel nicht orientiert haben. Der britische Dachverband TUC und einige seiner Mitgliedsgewerkschaften haben sich seit Mitte der 1990er Jahre ebenso verstärkt dem Organizing-Ansatz zugewandt. Mit der systematischen Ausbildung von Organisern und der Anwendung innovativer Praktiken und neuer Arbeitsweisen, haben sie sowohl ihr Organisationsprofil verändert als auch die konkreten Organisierungsergebnisse verbessert. Die Zusammensetzung der Gruppe ausgebildeter Organiser hat im Vergleich zum sonstigen hauptamtlichen Personal einen höheren weiblichen und jungen Anteil sowie an Personen mit Migrationshintergrund. Das Hauptarbeitsfeld sind gewerkschaftlich organisierte Betriebe. Aber es gibt zusätzlich eine starke und gezielte Orientierung auf neue bisher unberührte Beschäftigungsbereiche.

Provokant formuliert: Das Organizing-Modell kann dazu beitragen, nicht nur Organisierungserfolge zu erzielen und damit die organisationspolitische Durchsetzungsmacht zu stärken, sondern darüber hinaus auch hinsichtlich einer Organisationsentwicklung tief greifende, auf die Zukunft gerichtete Veränderungen einleiten.

Ver.di mit gutem Beispiel voran
Die Lidl-Kampagne von ver.di hat eine ungeahnte Medienresonanz und Öffentlichkeit hervorgerufen und der Gesamtorganisation einen immensen positiven Imagezugewinn beschert. Darüber hinaus haben sich auf Grund des kampagnen- und bündnisorientierten Ansatzes innerorganisationale Prozesse herausgebildet, die ebenso nachhaltige Auswirkungen auf die Arbeitsweise und Arbeitskultur haben können. In diesem Fall besteht der Erfolg nicht - zumindest noch nicht - darin, die Anerkennung von ver.di als Tarifvertragspartei, Verhandlungen, Tarifabschluss und die Einrichtung von Arbeitnehmervertretungen und betriebliche Mitbestimmung erreicht zu haben - daran wird weiter gearbeitet. Aber das mobilisierbare Potential und die ungeahnten Möglichkeiten, die eine Organisation wie ver.di sich erschließen könnte, sind deutlich geworden - nach dem aktive und potentielle Mitglieder, Sympathisanten, Medien, Konsumenten und auch hauptamtliche Kolleginnen und Kollegen in Bewegung gesetzt wurden, um den Lidl-Konzern in aller Härte zu brandmarken.

Im Rahmen der Organisierungskampagne im Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hamburg bestimmen eher ungewöhnliche Arbeitsformen den Alltag der Kolleginnen und Kollegen. Da werden systematisch Betriebe erkundet, Sicherheitsfirmen ausgemacht und termingenau Beschäftigte besucht und mit ihnen gesprochen. Anschließend werden die erhaltenen Informationen detailliert notiert, ausgewertet, bewertet und nächste Schritte sowie Ziele vereinbart. Beeindruckend ist, dass die KollegInnen es in kurzer Zeit geschafft haben, auf diese Weise einen seit zwei Jahren brachliegenden Tarifvertrag neu abzuschließen und einige hundert Beschäftigte in einer äußerst schwer zu organisierenden Branche als neue Mitglieder zu gewinnen. Noch beeindruckender ist die Tatsache, dass ein Kreis von neuen Mitgliedern ihre Gewerkschaft wie folgt verstehen: wir sind ver.di. Sie beteiligen sich an Demonstrationen, an Aktionen für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, sie treffen sich regelmäßig, um Probleme zu besprechen, weitere Aktivitäten zu planen, Aktionen vorzubereiten und neue Mitstreiter zu gewinnen.

Ver.di zeigt sich hier von der besten Seite einer beweglichen, vitalen und lernenden Organisation, die inakzeptable und ungerechte Verhältnisse am Arbeitsplatz nicht einfach hinnimmt und offensiv für Veränderungen im Arbeitsumfeld und für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Beschäftigten einsteht. Dafür wird die eigene (alte) Arbeitsweise auch mal in Frage gestellt, verändert und neue Strukturen geschaffen, Ressourcen eingesetzt und umgelagert.

Strategisch denken und handeln
Soweit man die Fortentwicklung dieser Ansätze in den USA und Großbritannien beobachten kann, handelt es sich schon lange nicht mehr um vereinzelte Maßnahmen eines blinden Aktionismus. Vielmehr ist man dabei, aus der Erkenntnis eines "strategic choice" auch einen "strategic unionism" zu entwickeln. Was heißen soll: Die Krise gewerkschaftlicher Organisation und Repräsentation hat nicht nur strukturelle Ursachen, sondern auch selbstverschuldete. Aber genau diese können deswegen auch gezielt und aktiv gewendet werden. Gewerkschaften sind lernende Organisationen. Wenn die deutschen Gewerkschaften eine Trendwende vollziehen wollen, kann ihnen eine - sorgfältig geprüfte und auf die hiesigen Verhältnisse angepasste - Politik des Organizing eine große Stütze sein. Sollte es ein ausgesprochenes Ziel von ver.di sein, wieder handlungsfähiger zu werden, scheint es unumgänglich, Strukturen und Strategien an die Bedürfnisse der Beschäftigten anzupassen. Erste gute Beispiele gibt es ja.

---
Susanne Kim ist beim DGB Bildungswerk beschäftigt und arbeitet zum Themenfeld Organizing/ Social Movement Unionism.