Organizing

ein Ausweg aus der Krise oder eine organisationspolitische Herausforderung?

Organizing" - wird derzeit als neue erfolgsversprechende Methode der gewerkschaftlichen Mitgliedergewinnung aus den USA sowohl bei den Gewerkschaften als bei den sozialen Bewegungen diskutiert.

Derzeit wird der sog. Organizing-Ansatz in der Frage um gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten vielfach diskutiert, da dieser Ansatz doch gleich zwei wunde Punkte anzugehen verheißt: Mitgliedergewinnung und Ausweg aus der Repräsentationskrise.

Entstanden ist dieser Ansatz in den 90er Jahren in den USA, zu einem Zeitpunkt als die Gewerkschaften einen historischen Tiefpunkt ihres Organisationsgrads erreicht hatten und mit ähnlichen Problemen und Herausforderungen zu kämpfen hatten wie fast weltweit alle Gewerkschaften: Globalisierung, Tertiarisierung, Prekarisierung, dramatische Mitgliederverluste und zunehmend "weiße", unregulierte Flecken. Sie stellten fest, dass herkömmliche gewerkschaftliche Mittel nicht mehr in der Lage waren, neue Beschäftigtengruppen in den Dienstleistungsbranchen zu erreichen, sei es, weil diese dezentralisiert, ausgelagert oder in ständig neuen Unternehmensformationen beschäftigt waren oder aus Personengruppen bestanden, zu denen die Gewerkschaften seit jeher ein schwieriges Verhältnis hat: weibliche, junge, unqualifizierte Beschäftigte mit migrantischem Hintergrund. So blieb ihnen praktisch keine anderen Alternative, als neue Formen der Mitgliedergewinnung zu entwickeln.

ORGANIZING & CAMPAIGNING
Organizing meint in diesem Zusammenhang ein Set von vielfältigen Aktivitäten und Praktiken, die die gewerkschaftliche Mitgliedergewinnung zur Steigerung des Organisationsgrads zum Ziel haben. Hierbei wird zwischen interner Organisierung zur Steigerung des Organisationsgrads in bereits organisierten Bereichen und expansiver Organisierung zur Erschließung von bislang noch unorganisierten Bereichen, unterschieden. Der Kern von Organizing ist ein Leitbild von "beteiligungsorientierter Gewerkschaftsarbeit", d.h. potentielle Mitglieder sollen als mobilisierungsfähige Aktivisten organisiert werden, die selber den Kern der Gewerkschaftsarbeit bilden. Dem traditionellen Stellvertretermodell wird damit ein basisnahes Selbstvertretungsmodell entgegengesetzt. Ansatzpunkte von Organizing sind die Beschäftigten und ein Konflikt, bzw. ein konkretes Ziel, was verfolgt werden soll: in der Regel der Abschluss eines Tarifvertrags oder die Einleitung von Betriebsratswahlen. (ausführlicher: hier).

Organizing erfolgt meist im Rahmen von Organisierungskampagnen. Für solche Kampagne suchen sich die Gewerkschaften strategische Bündnispartner (NGOs, Kirchen, Stadtteilgruppen u.a.). Mit diesem sog. sozialen Netzwerk werden nun innerbetriebliche oder öffentliche Aktionen durchgeführt, - oftmals mit Mitteln der sozialen Bewegungen und unter Einbeziehung der Medien, - die das gesamte Unternehmensnetzwerk angreifen. Auf diese Weise konnten die amerikanischen Gewerkschaften in den vergangenen Dekaden vielfach Betriebe oder sogar ganze Städte erfolgreich organisieren und Tarifverträge abschließen.

Allerdings sind mehrere Punkte zu berücksichtigen: Zwar sollte die Organizing-Strategie immer an die jeweilig vorhandenen Anknüpfungspunkte angepasst sein, aber es gibt bestimmte Voraussetzungen für den Organisierungserfolg. Die amerikanischen GewerkschaftsforscherInnen Kate Bronfenbrenner und Robert Hickey haben 2003 in einer Studie für den amerikanischen Dachverband AFL-CIO zentrale Bedingungen von Organizing ausgemacht:

1. Das Organizing muss mit ausreichenden und geeigneten personellen und finanziellen Mitteln ausgestattet werden;
2. bei der Auswahl von Organisierungszielen und für den Ausbau der Verhandlungsstärke muss Strategieforschung zum Einsatz kommen;
3. bei den ArbeiterInnen, die organisiert werden sollen, ist besonders auf basisbetonte, interpersonelle Strukturen sowie Aktivierung zu achten;
4. Basismitglieder sollen als freiwillige Organizer ausgebildet und eingesetzt werden;
5. Themen, welche die zu organisierenden ArbeiterInnen sowie die breitere Community beschäftigen, müssen aufgegriffen werden;
6. bereits während der Organisierungskampagne muss ein erster Tarifvertrag vorbereitet werden;
7. am Arbeitsplatz und in der Community muss zunehmend mit Taktiken der Erzeugung von Druck gearbeitet werden, um Engagement und Zusammenhalt unter den zu organisierenden ArbeiterInnen zu fördern und die Unternehmen von Gegenmaßnahmen abzuhalten.
8. Je umfassender, aggressiver und facettenreicher die Strategie der Gewerkschaft während der Organisierungskampagne ist, je mehr gewerkschaftsbildende Strategien zur Anwendung kommen, desto wahrscheinlicher ist ein Sieg der Gewerkschaft.

Eine Organizingkampagne ist also ein umfangreiches, sehr personal- und mittelintensives Projekt, dem oft eine jahrelange Vorbereitungsphase vorausgehen kann. Gleichzeitig wirft der Organizing-Ansatz Fragen auf: Ist er ohne weiteres übertragbar auf andere Branchen, andere Personengruppen? Wie vertragen sich Gewerkschaften, die weiterhin in hoch organisierten Branchen mit dem Service-Prinzip arbeiten mit Gewerkschaften, die sich eher als konfrontative Organizing-Gewerkschaften verstehen? Was sind notwendige, hinreichende Kriterien? Eins ist jedoch klar: Eine Garantie für eine erfolgreiche Kampagne gibt es nie.

ORGANIZING - EINE VERHÄNGNISVOLLE AFFÄRE?
Organizing bedeutet im weiteren Sinne eine nachhaltige Transformation von Gewerkschaftsarbeit. Wenn die Gewerkschaften dem basisorientierten Prinzip gerecht werden wollen, müssen sie den neu organisierten Mitgliedern ihre Strukturen öffnen und für angemessene Repräsentationsstrukturen sorgen, sonst droht der partizipatorische Anspruch zur Makulatur zu werden. In den USA hat in einigen Gewerkschaften tatsächlich eine umfassende Umstrukturierung des gewerkschaftlichen Apparates stattgefunden, in dem nun ein Großteil ehemals prekarisierter Frauen mit Migrationshintergrund repräsentiert und beschäftigt sind. Bis dato eher gewerkschaftsfremde Arbeits- und Lebenswelten finden Eingang in gewerkschaftliche Strukturen und bestimmen diese nun auch mit. Dies führt zu inner-organisatorischen Widerständen und Konflikten, die zum Teil auch erbittert ausgetragen werden. In den USA führten das im Jahre 2005 mitunter zur Spaltung des Dachverbandes.

Organizing kann nicht von oben, als schnelle Methode der Mitgliedergewinnung und der Erschließung "weißer Flecken" angeordnet werden, sondern muss als gewerkschaftlicher Erneuerungsprozess "von unten" ernst genommen werden. Wenn sich mit Organizing, Glücksversprechen auf reine Mitgliedergewinne und den Sprung aus der Defensive verbinden, nicht aber die Bereitschaft zur Veränderung besteht, ist die Möglichkeit eines Misserfolgs und die Wahrscheinlichkeit von internen Konflikten groß.

Gewerkschaften müssen sich also die Frage stellen, ob sie offen sind für Veränderung und Erneuerung und bereit für einen Paradigmenwechsel, der womöglich eine völlig neue Gewerkschaft hervorbringt.1

FRAGEN DER ÜBERTRAGBARKEIT
Es fällt auf, dass viele Aspekte des Organizing-Ansatzes nicht unbedingt neu klingen. In der Tat wurde die beteiligungsorientierte Betriebsarbeit bereits in den 90er Jahren hoch diskutiert. Neu scheint lediglich die systematische Zusammenführung von offensiven, expansivern Mitgliedergewinnungsstrategien im Dienstleistungssektor mit projektartig, professionell organisierten Kampagnen in Zusammenarbeit und mit Mitteln der sozialen Bewegungen.

Auch in Deutschland breiten sich mitbestimmungsfreie Bereiche ohne Tarifbindung, Betriebsrats- oder Vertrauensleutestrukturen, mit niedrigem oder non-existentem gewerkschaftlichen Organisationsgrad aus. Können beteiligungsorientierte Organizing-Kampagnen eine sinnvolle Krisenlösungsstrategie sein? Und darüber hinaus gehend: Sind die Gewerkschaften bereit für nachhaltige, strukturelle Veränderungen? Verstehen sie Organizing auch als organisationspolitische Herausforderung? Können sie in einigen Bereich Abschied von der Stellvertreterpolitik nehmen? Welche Rolle haben Betriebsräte und Vertrauensleute in diesem Modell?

Für Deutschland gibt es bislang noch wenig Forschungen über die Übertragbarkeit von Organizing-Modellen ins deutsche System der industriellen Beziehungen, dennoch werden bereits jetzt die ersten Organizing-inspirierten Projekte u.a. von ver.di durchgeführt: ver.di Hamburg hat 2006 ein "Organizing"-Pilot-Projekt im Hamburger Sicherheitsgewerbe durchgeführt . Der ver.di -Bundesvorstand hat einen neuen Bereich "Mitgliederentwicklung" ins Leben gerufen und plant den Umbau einer ver.di-Bildungsstätte zu einer Organizing-Akademie. Die LIDL- und die Mindestlohnkampagne beschreiten seit 2005 neue Wege der gewerkschaftlichen Kampagnenpolitik. Auch andere Einzelgewerkschaften wenden sich verstärkt den ehemals unattraktiven Randbelegschaften zu.

Könnte so die Übersetzung "auf deutsch" aussehen? Anderseits gibt es z.B. mit der Schlecker-Kampagne schon jahrelange Erfahrung in der erfolgreichen Erschließung solcher "weißer Flecken" über die Selbstaktivierung der Mitglieder. Wie passen diese Erfahrungen mit Organizing-Ansätzen zusammen, gibt es Synergien, gegenseitiges Lernen, Wissenstransfer? Auf welche anderen Quellen von Organisationswissen kann und sollte zurückgegriffen werden?

Die Debatte ist eröffnet.

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Fussnote:
1 Die Soziologinnen Kim Voss und Rachel Sherman haben anhand des Beispiels USA drei zentrale Faktoren für eine grundlegende Erneuerung festegemacht: Erstens, es gibt eine Krise in der Gewerkschaft, aus der ein Führungswechsel hervorgeht, zweitens, neue Gewerkschafter aus anderen politischen Hintergründen bringen neue Impulse (z.B. aus sozialen Bewegungen) und drittens, der Wandel wird durch den Dachverband gefördert und unterstützt.

Erscheint im März 2007:
Peter Bremme/Ulrike Fürniß/Ulrich Meinecke (Hrsg.):
Never work alone. Organizing - ein Zukunftsmodell für Gewerkschaften, Hamburg: VSA Verlag.

Links
Organizing Woche: www.neverworkalone.de
Organisierung & Kampagnen: www.orka-web.de

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Hae-Lin Choi ist Redakteurin bei ver.di Perspektiven und forscht zu gewerkschaftlichen Strategien zur Organisierung von prekär Beschäftigten in den USA, Italien und Südkorea.