Das verzwickte Verhältnis von DGB-Gewerkschaften und kämpferischen Berufsgewerkschaften
Im letzten Jahr gab es einen bemerkenswerten Schlagabtausch zwischen ver.di und der Ärztegewerkschaft Marburger Bund.
Deren Chef Frank Montgomery forderte für seine Berufsgruppe mehr, als der von ver.di ausgehandelte TVÖD hergab. Ver.di warf ihm und seinem Verband Gruppenegoismus vor. Montgomery konterte: Er würde an Stelle von ver.di erst mal still sein und, wenn Marburg dann mehr durchgesetzt habe als ver.di, entsprechende Nachforderungen für alle stellen. Klingt das nicht ganz gescheit?
Die Sache ist vertrackt und verzwickt.
Einerseits gilt es richtigerweise als Regel, dass die Arbeitnehmerfront sich nicht aufspalten soll, weil das der Gegenseite nützt. Andererseits gilt das wohl eher für Unterbietungskonkurrenz, etwa durch die inzwischen zu traurigem Ruhm gekommenen "Christen"-Tarifverträge, bei denen arbeitgeberabhängige Scheingewerkschaften des CGB Minderlöhne statt Mindestlöhne vereinbaren. Nebenbei: Wäre es nicht an der Zeit, dass Sprecher der christlichen Kirchen dieses Treiben im Namen christlicher Soziallehren einmal ausdrücklich verdammten?
Der Marburger Bund - und andere Gewerkschaften von Schlüsselberufen, etwa: Piloten, Fluglotsen, Lokführer - versuchen aber meistens das Gegenteil - sozusagen Überbietungskonkurrenz: Wer setzt die höhere Forderung durch?! Das müsste doch für die anderen das Nachziehen nach oben leichter machen.
Einerseits sind die exklusiven Verhandlungen und exklusiven Tarifverträge für in exklusiven Gewerkschaften organisierte Gruppen ein Bruch der Solidarität mit allen anderen. Eine Einheitsgewerkschaft nach DGB-Modell organisiert Solidarität so, dass die Kraft der Starken auch den Schwachen zugute kommt.
Andererseits haben auch die DGB-Gewerkschaften sich längst darauf eingestellt und damit abgefunden, dass die ökonomisch etwas Stärkeren die Schwächeren oft ziemlich allein lassen, ja dass sie weitere Spaltungen in Starke und Schwache hinnehmen oder befördern. Das gilt etwa bei Outsourcing, Umwandlung von Normalarbeit in Leiharbeit, abgesenkten Löhnen für Einsteiger etc. Es gibt auch in DGB-Gewerkschaften das Kalkül: Je mehr Leiharbeiter, umso sicherer die Stammarbeitsplätze. Oder: Je niedriger die Arbeitskosten, die bei der Zulieferung aus Asien entstehen, umso sicherer die Arbeitsplätze für höher Qualifizierte in Deutschland. Standortsicherungsverträge sind stets Ausdruck von exklusiver Solidarität der Arbeitsplatzverteidiger. Die Gewerkschaften des DGB sollten sich gegenüber den kleinen Berufsgewerkschaften nicht selbstgerecht auf das hohe Ross des alleinigen Hüters der allumfassenden Solidarität schwingen.
Bemerkenswert ist auch, dass die Berufsverbände durch ihre eigenständigen Kampfaktionen einen Prozess der Vergewerkschaftlichung bisher ständisch denkender Gruppen wie der Klinikärzte befördern: Dass man/frau kämpfen, Druck machen, solidarisch zusammenstehen muss, um die eigenen Interessen durchzusetzen, wird, wie die DGB-Gewerkschaften schon seit langem wissen, in einem Streik viel besser gelernt als in einem Seminar.
Einerseits ist es unsolidarisch, wenn sich die eher Privilegierten und Unentbehrlichen in Zeiten der allen verordneten Kürzung öffentlicher Ausgaben ein größeres Stück vom Kuchen sichern, denn dann bleibt für den Rest der Beschäftigten noch weniger übrig.
Andererseits ist es aber nicht ausgemacht, dass dieser Kürzungskurs unumstößlich ist. Warum sollte der Kuchen nicht vergrößerbar sein? Warum gilt das Prinzip der "Deckelung"? Und warum muss dieses Prinzip von ver.di übernommen oder gar aktiv verteidigt werden? Gewiss: Wenn ver.di vor der Berufsgewerkschaft abgeschlossen hat, gilt für die KrankenpflegerInnen die Friedenspflicht, während nachher die Ärzte, wenn sie stark genug sind, den Rahmen für sich noch mal ausweiten können. Nur: Dass der Rahmen dehnbar ist, können sich die Krankenschwestern fürs nächste Mal merken. Und vielleicht können sie dann auch wieder koordiniert mit den Ärzten vorgehen. Die Tarifgemeinschaft ist ja nicht für alle Zeiten aufgekündigt.
Außerdem sind ja nicht alle aus dem üblichen Rahmen fallenden Forderungen der Berufsgewerkschaften unbegründet oder "Abzocke"-Versuche. Als die Gewerkschaft Cockpit vor Jahren bei der Lufthansa rund 35 Prozent Gehaltserhöhung forderte, wussten die Piloten dies nach guter gewerkschaftlicher Argumentationstradition mit dem Ausgleich für jahrelange besondere Lohnzurückhaltung zu begründen. Die KlinikärztInnen hatten 2006 besonders gute Gründe, sich, auch im Interesse der Patienten, gegen unbezahlte Mehrarbeit zur Wehr zu setzen. Allerdings setzte ihr Verband hierzu weniger Entlastung als monetäre Kompensation durch, was ver.di dann zu Recht kritisierte. Im übrigen will ich hier nicht das Ergebnis der Marburger von 2006 lobpreisen. Auch beim Geld ist die Verteilung unter den Ärztegruppen durchaus fragwürdig. Aber dass der finanzielle Rahmen durch den Abschluss ausgeweitet wurde, ist unbestritten.
Wie könnte es weitergehen? Müssen die DGB-Gewerkschaften, vor allem die Multibranchen-Gewerkschaften wie ver.di, damit rechnen, dass ihnen künftig noch mehr Konkurrenz von kämpferischen Berufsgewerkschaften gemacht wird? Welche Strategien sollten die dem Prinzip der Solidarität aller abhängig Arbeitenden verpflichteten Gewerkschaften gegenüber den Berufsgewerkschaften verfolgen?
Auch zu diesen Fragen fällt die Antwort uneindeutig aus. Ich kenne keine wissenschaftliche Untersuchung, ja nicht einmal eine plausible Prognose zu diesen Fragen. Man wird sicherlich davon ausgehen dürfen, dass die Globalisierung und die Flexibilisierung der Arbeitsorganisation immer mehr Unterschiede zwischen Gruppen von ArbeitnehmerInnen schafft - weltweit und auf nationaler Ebene. Dabei geraten einige Berufsgruppen in Schlüsselpositionen, die ihnen eine besondere Durchsetzungsstärke geben - allerdings meist nur für Übergangszeiten. Andere bisher ständisch Privilegierte sehen sich erstmals bedroht und gezwungen, mit gewerkschaftlichem Kampf zu reagieren.
Wieder andere Stände, etwa der Stand der Professoren, die vom Staat dafür bezahlt wurden, dass sie nach Erkenntnis und Wahrheit strebten, lösen sich übrigens gerade kampflos auf und verwandeln sich in Kleinunternehmer bei der Produktion von ökonomisch nutzbarem "Wissen". Aber das ist eine andere Geschichte, die gesondert zu behandeln wäre.
Kurzum: Es ist derzeit überaus unübersichtlich, was aus Berufen, Ständen, Schlüsselpositionen und der Organisierbarkeit ihrer Träger wird. Und immerhin gibt es ja, in Deutschland, Großbritannien und den USA zum Beispiel, immer wieder auch Fusionen, in denen Gewerkschaften, die unterschiedliche Branchen und Berufsgruppen organisieren, nach dem Prinzip der Solidarität "Nur gemeinsam sind wir stark" ihre Ressourcen zu bündeln versuchen.
Dennoch seien vorläufig und vorsichtig ein paar Antworten auf die Frage nach Strategien versucht:
1. Genau hinsehen ist wichtig: Ist die Konkurrenzorganisation eine unabhängige, kampffähige und kampfbereite Gewerkschaft oder eine gelbe, arbeitgebergesteuerte Scheingewerkschaft?
2. Wo sich aus der spezifischen Arbeitssituation bestimmter Berufsgruppen Unzufriedenheit und neue Kampfkraft entwickelt, sollten die DGB-Gewerkschaften dies als Stärkung des gewerkschaftlichern Gedankens und zugleich als Hinweis auf mögliche eigene Versäumnisse bei der Werbung und Organisierung ansehen.
3. Wo der Kampf der Berufsgewerkschaften exklusiv-solidarisch nur um Gruppenprivilegien geht, sollte die DGB-Gewerkschaft dies kritisieren - aber zugleich auch auf die reale Entwicklung an der betrieblichen Basis setzen: Dort sind oft gerade die aktivistischen Vertreter der Berufsgewerkschaften sehr sensibel gegenüber Solidaritäts- und Gerechtigkeitsansprüchen der anderen Berufsgruppen. Cockpit hat seine Hochlohnstrategie für Piloten nur ein Jahr lang verfolgt und danach den Ausgleich mit dem sonstigen Personal der Lufthansa gesucht. Die Klinikärzte sind auf einen guten Umgang mit den Krankenschwestern angewiesen - das stünde einer Fortsetzung der Strategie "Lohnerhöhung nur für Ärzte" entgegen.
4. DGB-Gewerkschaften, die seit ihrer Gründung das Prinzip der doppelten Einheitsgewerkschaft - keine Spaltung nach politischen Richtungen, wie z.B. in Weimar oder in Italien, und: "ein Betrieb = eine Gewerkschaft", also Industriegewerkschaften statt Berufsgewerkschaften - vertraten, hatten schon immer riesige praktische Probleme, dieses Prinzip durchzusetzen und aufrecht zu erhalten. Auch heute sind Abgrenzungskonflikte und sogar Tarifunterbietung zwischen DGB-Gewerkschaften nicht selten.
5. Das Herstellen und Organisieren von Solidarität, die über den exklusiven Zusammenhalt der Berufsgruppen hinaus geht, bedarf heute mehr als früher der gewerkschaftlichen Überzeugungsarbeit. Aber warum sollte die nicht möglich sein? Unterschiede der Lage und der spezifischen Interessen müssen von der Gewerkschaft anerkannt werden. Aber dass es gemeinsame Arbeitnehmerinteressen und einen gemeinsamen Interessengegner gibt, bestreiten auch die Gewerkschaften der Klinikärzte, Lokführer, Piloten und Fluglotsen nicht.
Wir dürfen auf Lernprozesse auf beiden Seiten hoffen.
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Bodo Zeuner ist Professor a. D. für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin