Postfordistische Profile

in (01.11.2006)

Postfordistische Arbeitsverhältnisse sind solche, in denen die Ende der 1970er Jahre eintretende Krise der (fordistischen) Massenproduktion zum Ausdruck kam.

Postfordistische Arbeitsverhältnisse sind solche, in denen die in den führenden westlichen Industrienationen Ende der 1970er Jahre eintretende Krise der (fordistischen) Massenproduktion zum Ausdruck kommt. Der zu diesem Zeitpunkt einsetzende Rückgriff auf flexible und dezentralisierte Produktionsstrukturen und die mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien verbundene Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals gehen einher mit einer Ausweitung der industriellen Reservearmee (Massenarbeitslosigkeit). Parallel dazu kommt es zu einem gesteigerten Bedarf an kurzfristig für Dienstleistungstätigkeiten rekrutierbaren Angestellten. Unmittelbare Folge des Übergangs zum Postfordismus ist also eine Expansion der relativen Überbevölkerung, insbesondere in ihren flüssigen und stockenden Formen. Das fordistische "Normalarbeitsverhältnis" weicht dabei tendenziell jener unregelmäßigen Beschäftigung, die in den letzten Jahren vor allem vermittels des Begriffs einer Prekarisierung (Verunsicherung) der Lebens- und Arbeitsverhältnisse reflektiert worden ist.

Dass das Industrieproletariat damit einfach verschwindet, wie es gelegentlich durch den leichtfertigen Gebrauch von Begriffen wie "Dienstleistungsgesellschaft" oder "Wissensgesellschaft" suggeriert wird, ist mit Sicherheit nicht der Fall. Dennoch kommt es in dem Sinn zu einer Entmaterialisierung der Produktion, dass wesentliche Teile der wissenschaftlichen Intelligenz in den kapitalistischen Gesamtarbeiter (Marx) integriert werden. Auch die Kulturproduktion und die mit Formen der Kundenbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit verbundenen Tätigkeiten erlangen innerhalb des Kapitalverwertungsprozesses einen neuen Stellenwert - u.a. in Folge eines gesteigerten unternehmerischen Interesses an der Gestaltung nicht nur des unmittelbaren Produktionsprozesses, sondern auch der Zirkulationssphäre. Damit ergibt sich eine Situation, in der die Kapitalverwertung vermehrt auf Kenntnisse und Fähigkeiten angewiesen ist, die außerhalb des klassischen Produktionsverhältnisses produziert und reproduziert werden. Zu denken ist dabei in erster Linie an all jene Fertigkeiten, die in informationsverarbeitenden, kommunikativen und kreativen Tätigkeiten zum Einsatz kommen.

Seit den 1980er Jahren haben sich verschiedene französische und italienische TheoretikerInnen eingehend mit den soziologischen und anthropologischen Konsequenzen befasst, die sich aus dieser Metamorphose des Gesamtarbeiters ergeben. Heute kann man konstatieren, dass klassentheoretische Überlegungen dabei häufig zu kurz gekommen sind, was u.a. übereilte Schlussfolgerungen bezüglich einer Auflösung des Industrieproletariats oder gar der Herausbildung eines alle übrigen Klassen verdrängenden planetarischen Kleinbürgertums (Giorgio Agamben) zur Folge gehabt hat. Auch liefen diese Überlegungen häufig auf eine Aufschlüsselung der neuen Lebens- und Arbeitswelten hinaus, die das Moment subjektiver Erfahrung überbetonte und damit Fragen wie die nach der gesamtgesellschaftlichen Verteilung des materiellen Reichtums (also nach den konkreten Besitzverhältnissen) aus dem Blickfeld zu verlieren tendierte.

Dennoch sind aus diesen Überlegungen Begriffe hervorgegangen, die - innerhalb der erwähnten Grenzen - einen gewissen hermeneutischen Wert für sich beanspruchen können. Erwähnt seien hier nur die Begriffe der Tautologie, der Feminisierung, des Dividuums und der Transversalität. Die Überlegungen, innerhalb derer diese Begriffe entwickelt worden sind, stellen allesamt einen Bruch mit dem klassischen Marxismus und insbesondere mit der von Marx in den Resultaten des unmittelbaren Produktionsprozesses und den Theorien über den Mehrwert entwickelten Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit dar. Der Frage, inwiefern dieser Bruch gerechtfertigt ist, wird hier nicht nachgegangen. Die betreffenden Überlegungen sollen nicht einer kritischen Analyse unterzogen, sondern lediglich kurz referiert werden. Es bleibt der Leserin und dem Leser überlassen, die in ihnen aufgestellten Thesen anhand der im Hauptteil dieses Textes dokumentierten Erfahrungen (aber auch anhand eigener Erfahrungen) zu überprüfen.

Vom tautologischen Charakter des postfordistischen Kapitalismus wird in der Regel dann gesprochen, wenn es gilt, den gesteigerten Zugriff des Kapitals auf die Reproduktionssphäre - bis hin zur tendenziellen Aufhebung der Unterscheidung zwischen Produktion und Reproduktion - zu untersuchen. Den diesbezüglich z.B. von Antonio Negri vertretenen Positionen liegt die These zugrunde, derzufolge sich postfordistische Arbeitsverhältnisse durch die wachsende Ununterscheidbarkeit von Arbeits- und Lebenszeit auszeichnen. Wenn Arbeitszeit und Lebenszeit, Produktion und Reproduktion zusammenfallen, weil sich die außerhalb der entlohnten Arbeitsstunden stattfindenden Tätigkeiten nicht mehr auf eindeutige Weise vom Arbeitsprozess unterscheiden lassen, dann nehmen die Begriffe "Arbeitszeit" und "Lebenszeit" insofern einen tautologischen Charakter an, als ihnen keine reale arbeitssoziologische Differenz mehr zugrunde liegt. Die Unterscheidung wird rein sprachlich, etwa der zwischen zwei auf dieselbe Person verweisenden Namen vergleichbar. Politisch ist diese These eingesetzt worden, um gegen die Unterscheidung zwischen Erwerbslosen und ArbeitnehmerInnen zu polemisieren und den vermittels dieser Unterscheidung operierenden Spaltungstechniken entgegenzuwirken. Wenn Arbeitszeit und Lebenszeit heute tatsächlich identisch sind, dann folgt daraus, dass Erwerbslosigkeit tatsächlich nicht entlohnte Arbeit ist, ganz so, wie entlohnte Arbeit als entlohnte Lebenszeit verstanden werden kann.

Die Rede von einer Feminisierung der Arbeit (Gilles Deleuze) ist theoriegeschichtlich auf Überlegungen zurückzuführen, die innerhalb des europäischen und US-amerikanischen Feminismus der 1970er Jahre angestellt wurden. Dem in diesem Zusammenhang formulierten Begriff femininer Arbeitsformen liegt nicht die Vorstellung einer weiblichen Natur zugrunde, sondern vielmehr der Hinweis auf das Frauen traditionell abverlangte Arbeitsverhalten. Bekanntlich war Frauen in den fordistischen Gesellschaften der 1950er und 1960er Jahre mehr noch als heute die Aufgabe unentlohnter Reproduktionsarbeit überlassen. Diese Arbeit lag immer schon quer zu der eben erwähnten Unterscheidung zwischen Arbeits- und Lebenszeit, so wie ihr auch immer schon (ausdrücklich oder stillschweigend) der Arbeitscharakter abgesprochen wurde - häufig vermittels des Hinweises auf ihren weitgehend affektiven und kommunikativen, vor allem aber auch nicht entlohnten Charakter. Der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts vollziehende Eintritt eines Großteils der weiblichen Bevölkerung in die Erwerbsarbeit lässt sich insofern zur Herausbildung postfordistischer Verhältnisse in Beziehung setzen, als man sagen kann, dass die klassischen Merkmale der Reproduktionsarbeit mittlerweile zu Merkmalen eines Großteils der im expandierenden Dienstleistungssektor geleisteten Tätigkeiten geworden sind. Es sind dies häufig Tätigkeiten, in denen eine nahezu uneingeschränkte zeitliche Verfügbarkeit und eine intensive persönliche Identifikation mit den vom Unternehmen gestellten Aufgaben verlangt wird. Zusätzlich zur Verausgabung eines bestimmten Quantums an physischer Arbeitskraft werden auch Eigenschaften wie Kreativität und Spontaneität verlangt. Es kommt zu einer bewussten und planmäßigen Ausschöpfung all jener affektiven und intellektuellen Reserven, die vormals nur auf mehr oder weniger zufällige Weise in den Arbeitsprozess eingingen. Auch der Rede von der Feminisierung der Arbeit liegt also die These von der tendenziellen Identität von Arbeits- und Lebenszeit zugrunde.

Der Begriff des Dividuums (Deleuze) verweist als provokative Umkehrung einer zentralen Kategorie der klassischen Soziologie (der Kategorie des Individuums) auf das für postfordistische Arbeitsverhältnisse charakteristische Phänomen einer gesteigerten Ausdifferenzierung der einzelnen Lebens- bzw. Arbeitsbereiche. Das Arbeitssubjekt verfügt der hier zugrunde liegenden These zufolge längst nicht mehr über jene Unteilbarkeit, auf die der Begriff des Individuums etymologisch verweist. Wo es einmal das wesentlich einheitliche Subjekt des fordistischen "Normalarbeitsverhältnisses" gab, findet man nunmehr bloß noch die Schnittstelle einer Vielzahl heterogener und häufig auch widersprüchlicher Tätigkeiten. Dem entspricht der Sachverhalt, dass der postfordistische Unternehmer von seinen Angestellten in der Regel Eigenschaften wie Flexibilität, Vielseitigkeit und Fantasie verlangt, bevor er auf klassische Tugenden wie Verlässlichkeit oder auf die Vertrautheit mit technischen Spezialkenntnissen zu sprechen kommt. Dazu gehört, dass die aus dem Zeitalter fordistischer Vollbeschäftigung vertraute "Arbeit auf Lebenszeit" dem Einzelauftrag weicht, den es mosaikartig in den Gesamtzusammenhang einer Vielzahl weitgehend voneinander unabhängiger Tätigkeiten einzufügen gilt.

Wenn schließlich im Anschluss an Félix Guattari von der Transversalität der neuen Lebens- und Arbeitsverhältnisse die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass sich vormals in sich geschlossene Kategorien wie eben "Arbeit" und "Leben" nicht mehr fein säuberlich von einander trennen lassen. Ein vertikales (hierarchisches) Verhältnis lässt sich zwischen diesen Kategorien ebenso wenig ausmachen, wie sie sich als gleichwertige aber voneinander unabhängige Einheiten aneinanderreihen, also in eine horizontale Beziehung bringen lassen. Eine solche rasterartige Aufschlüsselung der gelebten Realität des arbeitenden Einzelsubjekts wird in dem Moment inadäquat, in dem gerade die Querverbindungen zwischen den unterschiedenen Bereichen produktiv werden. Eben auf diesen Sachverhalt verweist die heute so beliebte Rede von der "Vernetzung" - die längst zum Gemeinplatz gewordene Ansicht, dass es auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr so sehr darum geht, bürokratischen Kriterien gerecht zu werden, als vielmehr um die Fähigkeit, persönliche "Kontakte" und "Beziehungen" zum Einsatz zu bringen.

Ein abschließendes Urteil über die analytische und empirische Brauchbarkeit dieser Begriffe soll hier wie gesagt nicht formuliert werden. Ebensowenig kann an dieser Stelle auf jene (u.a. von Maurizio Lazzarato und Antonella Corsani formulierten) Argumente eingegangen werden, vermittels derer für die Aufgabe des marxistischen Arbeitsbegriffs und seine Ersetzung durch Begriffe wie den der Kreativität plädiert wird. Schließlich muss hier auch die Frage unerörtert bleiben, inwiefern sich der Postfordismus als kapitaladäquate Reaktion auf jene gesellschaftlich diffuse Ablehnung klassisch fordistischer Lebens- und Arbeitsverhältnisse verstehen lässt, die in den sozialen Kämpfen der 1960er Jahre zum Ausdruck kam (massenhafte Abkehr von der Kernfamilie, den mit ihr verbundenen traditionellen Geschlechterrollen und dem als unzumutbare Freiheitsbeschränkung empfundenen fordistischen Arbeitsverhältnis; Einforderung einer am Ideal fantasievoller Selbstbestimmung orientierten Lebensweise). In Zusammenhang mit dieser letzten Frage sei lediglich darauf verwiesen, dass eines der weltweit führenden Wirtschaftsunternehmen (General Electric) im Herbst 2005 mit einem Plakat für sich warb, das die Aufschrift "Imagination at Work" trug - was zumindest jenen zu denken gegeben haben wird, die die während des Pariser Mais weitverbreitete Losung "L'imagination au pouvoir" noch nicht aus ihrem historischen Gedächtnis getilgt haben.

Die hier vorgelegte Untersuchung wurde nicht als theoretische, sondern als empirische konzipiert. Über die Befragung von vier Personen im Alter zwischen neunzehn und 39 Jahren sollte ein - notgedrungen provisorisches und unvollständiges - Bild der postfordistischen Arbeitsrealität entstehen. Die befragten Personen entstammen dem unmittelbaren Bekanntenkreis des Autors. Sie sind auf keinerlei Weise repräsentativ für die Klassenzusammensetzung der arbeitenden Bevölkerung in den westlichen Industrienationen, geschweige denn für die Struktur des transnationalen Gesamtarbeiters. Die Klassenlage der Befragten ist weitgehend jene der (kleinbürgerlichen) kultur- und sozialwissenschaftlichen Intelligenz. Es handelt sich fast ausnahmslos um Personen, die entweder studieren oder bereits über einen akademischen Abschluss verfügen. Alle sind mehrsprachig. Zwei haben im Ausland gelebt. Eine der Befragten ist Schülerin, eine andere Architektin. Mehrere haben künstlerische oder schriftstellerische Ambitionen. Die meisten beziehen finanzielle Unterstützung aus dem Elternhaus und haben Aussicht auf Erbschaften (z.B. in Form von Immobilien und Geldvermögen).

Der Politisierungsgrad der Befragten wurde bei deren Auswahl und bei der Formulierung der ihnen vorgelegten Fragen nicht berücksichtigt. Nach Abschluss der Untersuchung lässt sich konstatieren, dass die meisten der Befragten eine politische Haltung aufweisen, die als liberaldemokratisch bezeichnet werden kann. Es bestehen linke Sympathien und z.T. auch unverbindliche Kontakte zur radikalen Linken. Zwei der Befragten haben sich in der Vergangenheit als Aktivistinnen betätigt. Sie haben politische Bildungsarbeit betrieben und Wahlkampfmobilisierung geleistet. Bei den übrigen reicht die Politisierung nicht über gelegentliche Demonstrationsbeteiligungen und den sporadischen Besuch politischer Veranstaltungen hinaus.

Schwerpunkte der den hier vorgelegten Profilen zugrunde liegenden Gespräche waren die finanzielle Lage der Befragten, der kontinuierliche bzw. diskontinuierliche Charakter ihrer Arbeitsbiografien und die subjektive Einschätzung der Beziehung zwischen "Arbeitszeit" und "Lebenszeit." Die Gespräche wurden zwischen August 2005 und Januar 2006 geführt. Bei zwei der Befragten (Claudia D. und Matvei Y.) war kein direktes Gespräch möglich. Sie wurden schriftlich befragt.

Claudia D.

Als gebürtige Deutsche mit migrantischem Familienhintergrund beginnt Claudia erstmals in den frühen 1980er Jahren gegen Entlohnung zu arbeiten. 1980 nimmt sie im Alter von 15 Jahren einen Sommerjob bei Siemens in München an. Sie sortiert Computerausdrucke. Der Lohn beträgt etwa DM 1.500,- monatlich. Im folgenden Jahr arbeitet Claudia bei BMW am Fließband. Es handelt sich um ein von der Münchner Rudolf-Steiner-Schule organisiertes dreiwöchiges Praktikum. Claudia beschreibt die Arbeit rückblickend als "völlig stupide" und erwähnt insbesondere die "unmöglich frühen" Arbeitszeiten.

1985 arbeitet Claudia für einen Stundenlohn von DM 20,- als Jazzpianistin in einem Münchner Cafe. Dazu notiert sie: "Alte Damen mussten unterhalten werden mit netten Jazzsongs. Ich wurde ersetzt mit einem blonden Mann, der den Damen besser gefiel. Völliger Eigeneinsatz. Für mich fantastische Bezahlung."

Zwischen 1985 und 1986 studiert Claudia an der Technischen Universität München Bauingenieurswesen. 1986 absolviert sie ein mit einem Stundenlohn von DM 12,- gut bezahltes Vorpraktikum in einem Münchner Architekturbüro. Zwischen 1986 und 1992 erwirbt sie ihr Architekturdiplom. Sie studiert auch zwischen 1990 und 1991 an der Universität Wien Filmtheorie und Philosophie, ohne aber in diesen Fächern einen Abschluss zu erwerben. Zwischen 1996 und 1998 erwirbt sie am Berlage Institute (Amsterdam) einen Magister in Architektur und Landschaftsplanung.

Claudia arbeitet während ihrer Studienzeit, vor allem in den Semesterferien. Sie sagt, die Arbeit sei gut bezahlt und meistens auch inhaltlich interessant und studiumsbezogen gewesen. "Ich wollte mehr Leute und auch das Arbeitsfeld kennenlernen. Z.B. habe ich in Wien für die Stadtzeitung Falter Architekturartikel geschrieben. Im Studium wurde nur gezeichnet. Es gab keine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Fach. Oder ich arbeitete mit der Wiener Kunstgruppe Gangart, mit der ich in Eigenverantwortung meine frei entwickelten Projekte ausführen konnte."

Claudia lebt seit 1998 in Brooklyn, New York. Sie übt nicht den Beruf aus, für den sie ausgebildet wurde (Architektur), sondern arbeitet im Bereich Textildesign. Außerdem hat sie mehrere Nebenjobs im Designbereich. Diese hätten mehr mit ihrer Ausbildung zu tun als ihr Hauptjob. Sie seien mit etwa $5.000,- im Jahr nicht gut bezahlt, aber inhaltlich interessant.

Claudias Jahreseinkommen (etwa $55.000,-) würde ihre Lebenskosten abdecken, wenn sich nicht immer wieder zusätzliche Ausgaben ergeben würden, z.B. aufgrund der mit der Beantragung eines US-Arbeitsvisums verbundenen Anwaltskosten. Hinzu kommt, dass die Miete und die Lebenskosten in New York in den letzten fünf Jahren extrem angestiegen sind.

Claudia sagt, das Einkommen sei bei ihrer Jobsuche bis etwa 2002 nicht das Hauptkriterium gewesen. Eine wichtige Rolle hätte hingegen die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit gespielt. "Nach dem Ende meines Studiums 1998 wurde der Aufenthaltsort entscheidend. Es war mir wichtiger, an einem interessanten Ort zu leben, als Karriere zu machen. Seit ich in New York lebe, bin ich immer mehr Kompromisse eingegangen. Der finanzielle Aspekt ist immer wichtiger geworden. 2002 habe ich eine Firma gegründet, um meinen eigenen Projekten nachzugehen. Das hat sich als finanziell unhaltbar erwiesen. Jetzt, da ich im Textildesign arbeite, ist die Arbeitszeit niedriger (etwa 43 Stunden die Woche) und ich habe ein geregeltes Einkommen. Meinen Projekten im Designbereich kann ich nebenher nachgehen."

Auf die Fragen, wie mobil sie aufgrund ihrer Arbeit sei und inwiefern diese Mobilität von ihr gewünscht und also selbst bestimmt sei, antwortet Claudia, Architektur sei immer wirtschafts- und ortsabhängig. Als Angestellte könne man überall arbeiten, müsse aber Kenntnisse der jeweiligen Baugesetze und Arbeitsmethoden erwerben. Claudia sagt, sie habe die Erfahrung gemacht, dass es oft einfacher ist, in ein anderes Land umzuziehen und dort eine Arbeit zu finden, als in dem Land, in dem man sich gerade befindet, eine Arbeitsgenehmigung zu bekommen. "Ich bin als Angestellte nur selten gereist. Wenn ich doch einmal einen Auslandsauftrag zu betreuen hatte, wurde viel Flexibilität hinsichtlich der Arbeitszeiten erwartet. Es gab kein Erbarmen, was Jetlag oder Wochenendarbeit anging. Meistens kam mir die Mobilität sehr gelegen, weil ich lieber andere Kulturen kennenlernen als die typische Architektenlaufbahn absolvieren wollte. Allerdings fühle ich mich jetzt recht wurzellos. Es fällt mir immer schwerer, umzuziehen und wieder von vorn zu beginnen. Altlasten wird man nicht los. Freundschaften werden durch die Mobilität sehr oberflächlich."

Claudia sagt, sie habe sich noch nie aufgrund der Erfordernisse des Arbeitsmarkts "neu erfinden" müssen, es aber dennoch immer wieder getan - "aus Langeweile heraus." Auf die Frage nach den in ihrem Arbeitsbereich abverlangten Fertigkeiten (skills) antwortet sie: "Da das Fach Architektur sehr unspezifisch unterrichtet wird und man Einblicke in viele unterschiedliche Bereiche bekommt, hat man skills, die man in fast jedem Beruf, der etwas mit Design und Produktion zu tun hat, einsetzen kann. Im Bereich Computerdesign werden nicht sehr viele skills verlangt. Es genügen Grundkenntnisse für den Umgang mit Grafikprogrammen. Individuelle Qualitäten sind fast nicht mehr gefragt. Neuerdings wird mehr multitasking gefordert, was auf eine ziemliche Ausbeutung hinausläuft, d.h. es werden andere Arbeitskräfte wie z.B. das Kindermädchen eingespart. Verantwortung bedeutet immer öfter nur noch für die Fehler anderer Leute gerade stehen müssen."

Claudia sagt, sie sei für eine "strikte Trennung" von Arbeitszeit und Privatzeit. "Über meine Privatzeit möchte ich völlig autonom verfügen können. U.a. möchte ich mich in dieser Zeit auf meine eigenen Projekte konzentrieren können. Gleichzeitig möchte ich während meiner Arbeitszeit so wenig wie möglich durch private Gespräche, Emails usw. unterbrochen werden." Dementsprechend gibt Claudia auch "nur mit Unbehagen" ihre privaten Telefonnummern an ArbeitgeberInnen aus. Wenn sie das in den letzten Jahren doch getan habe, sei es häufig missbraucht worden, wodurch ihr Privatleben gestört worden sei.

Auf die Frage, welche Art von Arbeitsverhältnis und welches Verhältnis zwischen Arbeitszeit und Freizeit sie sich für die Zukunft wünscht, antwortet Claudia: "Ich glaube, es gibt keine perfekte Lösung für mich. Ich würde mir aber wünschen, in jeder Arbeitssituation, ob selbständig oder angestellt, möglichst konzentriert arbeiten zu können - auch um in meiner Freizeit nicht an die Arbeit denken zu müssen. Was das Finanzielle angeht, denke ich, dass eine an der Arbeitserfahrung ausgerichtete Stundenbezahlung die beste Lösung ist."

Brigitte W.

Brigitte ist sechsundzwanzig Jahre alt und arbeitet u.a. als freischaffende Künstlerin und Theaterregisseurin. Sie verfügt über ein Diplom in Regie (Musiktheater) von der Hochschule für Musik Hanns Eisler und ist zurzeit Stipendiatin der Berliner Akademie der Künste. Das Stipendium beläuft sich auf EUR500,- monatlich. Kürzlich hat Brigitte außerdem ein zweijähriges Stipendium der Deutschen Bank erhalten. Dieses Stipendium beinhaltet aber keine regelmäßige Geldüberweisung, sondern lediglich die Finanzierung von Theaterbesuchen und Ausbildungsworkshops. Es hat, wie Brigitte sagt, hauptsächlich "Preischarakter."

Brigitte wohnt in Berlin Mitte. Für die Wohnung, die ihren Eltern gehört, zahlt sie keine Miete. Brigitte ist, obwohl sie keiner regelmäßigen Lohnarbeit nachgeht, nicht arbeitslos gemeldet. Sie erzählt, sie habe sich einmal melden wollen, dies dann vor allem deshalb nicht getan, weil sie sich mit der Kategorie "arbeitslos" nicht identifizieren könne. Sie beschwert sich über die Undurchsichtigkeit des Bewerbungsverfahrens. Diese Undurchsichtigkeit ist ihrer Ansicht nach durchaus gewollt.

An der Akademie der Künste könne man beobachten, wie zwei gänzlich verschiedene Arbeitswelten parallel zueinander existieren: die der festen Angestellten und die der StipendiatInnen. Die Angestellten, von den MitarbeiterInnen der Presseabteilung bis zum Hausmeister, hätten feste Arbeitszeiten und würden "Dienst nach Vorschrift" leisten. Die StipendiatInnen würden ihren Arbeitstag selbst gestalten. Sie seien regelmäßig von acht Uhr morgens bis ein Uhr morgens in ihren Ateliers bzw. Studios. Es bestehe also ein deutlicher Kontrast zwischen der klassisch fordistischen Arbeitsweise z.B. des Hausmeisters, der auch einmal zwei Stunden zu Tisch sitze, und der Arbeitsweise der KünstlerInnen, bei der die Grenze zwischen "Arbeit" und "Freizeit" sehr viel schwieriger ausfindig zu machen sei. Brigitte wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, wie die Wertschöpfung (der "Output") künstlerischer Arbeit sinnvoll zu messen sei.

Wenn sich Brigitte einem möglichen Auftraggeber vorstellt, profitiert sie nicht von ihrer Verbindung zur Akademie. Der Erfolg oder Nichterfolg ihrer Bewerbung ist allein in der Qualität ihrer eigenständig entwickelten Projekte begründet. Brigitte stellt sich somit regelmäßig die Frage, worin die Funktion der Akademie eigentlich besteht. Vor allem fragt sich Brigitte, wo das Korrektiv für die im Verwaltungsapparat der Akademie angelegte Tendenz zur Verselbständigung liegt. Dieser Verwaltungsapparat verbraucht öffentliche Gelder in beträchtlicher Höhe. U.a. unterhält die Akademie eine Putzkolonne und ein Überwachungsunternehmen.

Um StipendiatIn zu werden, muss eineN ein Mitglied der Akademie den übrigen Mitgliedern vorstellen. Es handelt sich bei diesen Mitgliedern um etablierte KünstlerInnen, die jeweils für bestimmte Bereiche zuständig sind (bildende Kunst, darstellende Kunst, Literatur, Musik usw.). Die Mitgliedschaft ist lebenslänglich. Brigitte hat nicht den Eindruck, dass sie von dem Regisseur, der sie für ein Stipendium vorgeschlagen hat, "entdeckt" worden ist. Sie ist auf ihn zugegangen und er hat daraufhin den anderen Akademiemitgliedern gegenüber das wiedergegeben, was sie ihm über sich erzählt hat.

Dass der Akademiebetrieb hohe Geldsummen verschlingt, empfindet Brigitte als "irritierend." Sie vergleicht die Akademie mit einem großen, nicht manövrierfähigen Schiff. Brigitte selbst muss bei ihrer Arbeit stark wirtschaften und dabei laufend ihr organisatorisches Geschick anwenden. Für ihr letztes Inszenierungsprojekt, ihre an der Akademie aufgeführte Diplominszenierung, erhielt sie EUR30.000,- vom Berliner Kulturfond. Sie vergleicht das mit einem "Sechser im Lotto." Es war aber zuwenig. Brigitte musste etwa fünfzig Orchestermusiker und Sänger überreden, für jeweils nur EUR500,- ein halbes Jahr lang für sie zu arbeiten. Die Miete für den Aufführungsraum und die Gehälter der Techniker wurden ihr von der Akademie erlassen. Dennoch war sie gezwungen, sich EUR10.000,- von ihren Eltern zu leihen, um das Projekt realisieren zu können. Das Projekt kann insofern auch als eine Quersubventionierung der Akademie durch die Hochschule für Musik und durch Brigitte selbst (bzw. durch ihre Eltern) betrachtet werden. Der Hauptarbeitsbeitrag der Akademie bestand darin, in einem aufwendig produzierten Programmheft für die Aufführung zu werben. Bei Brigitte hat das den Eindruck hinterlassen, die Akademie habe sich mit dem Ergebnis fremder Arbeit geschmückt.

In letzter Zeit arbeitet Brigitte vermehrt mit Videotechnik. Das ist u.a. eine Folge des Finanzierungsproblems. Sie hat vor etwa einem Jahr begonnen, bei möglichen Sponsoren anstelle eines schriftlichen Exposés eine Videofassung der zu realisierenden Inszenierung vorzulegen. Die Idee kam ihr, als sie für die Firma Musikakzente, die Konzerte und andere künstlerische Veranstaltungen organisiert, als Grafikerin arbeitete. Die ursprünglich als Werbemittel gedachten Videos haben sich seitdem zu eigenständigen künstlerischen Projekten entwickelt. Natürlich interessiert Brigitte dabei auch das ästhetische Experiment. Ausschlaggebend ist allerdings der Sachverhalt, dass sich Videos relativ kostengünstig produzieren lassen.

Brigittes Videos sind vielseitig anwendbar: als Werbemittel, als Vorarbeiten zu Regieprojekten, aber auch als eigenständige Videokunst. Brigitte kann sich nun nicht nur als Regisseurin, sondern auch als bildende Künstlerin, darstellende Künstlerin oder Film- und Videokünstlerin um Arbeitsaufträge und Stipendien bewerben. Ihre Arbeit sprengt in diesem Sinn die herkömmlichen Kategorien. Sie empfindet das als "Vermarktungsvorteil." Wenn sich Brigitte einem möglichen Auftraggeber vorstellt, stellt sie ihre verschiedenen Arbeitsbereiche und Fähigkeiten vor und hofft, dass einer bzw. eine von ihnen gebraucht wird. Jahrelang in einem einzelnen Bereich zu arbeiten wäre ihr insofern unangenehm, als sie befürchtet, ihre Arbeit könne dadurch an "Vielseitigkeit" einbüßen.

Brigitte beschreibt sich selbst als "ungenutzte Energie" - ungenutzt aufgrund von Stellenmangel, Zeitmangel und dem Fehlen von Möglichkeiten zur Artikulation der eigenen Ansprüche und Bedürfnisse. Der Sachzwang, dass sie sich im Rahmen der Planung von Regieprojekten regelmäßig möglichen Sponsoren vorstellen muss, verursacht für sie einen hohen Arbeitsaufwand, dem sie nur durch eine strenge und aufwendige Zeitplanung gerecht wird. Trotz ihrer hohen, durch zahlreiche Stipendien und Preise belegten Qualifikation hat sie häufig den Eindruck, in ihrer Tätigkeit gebremst zu werden, weil die nötigen Strukturen und vor allem die finanziellen Mittel fehlen. "Ich habe die Fahrkarte," sagt sie, "aber nicht den Bus."

Matvei Y.

Matvei ist gebürtiger Russe, aber in den USA aufgewachsen. Er ist Anfang dreißig, lebt in Brooklyn und studiert im Ph.D. Programm der City University of New York Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik). Nebenher publiziert er Lyrik, organisiert Lesungen und betreibt mit Freunden einen Kleinverlag.

Als Jugendlicher hat Matvei u.a. als Bibliothekar, Sekretär und Bäckereigehilfe gearbeitet. Außerdem hat er ehrenamtlich für Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen sowie als freischaffender Übersetzer gearbeitet. Während gelegentlicher Russlandaufenthalte war er als Englischlehrer und im Lektorat einer Moskauer Tagszeitung tätig. In New York habe er sich immer schwer getan, gut bezahlte Arbeit zu finden. Als seltene Ausnahme nennt er seine bereits einige Jahre zurückliegende Mitarbeit bei der New York Times. Matvei arbeitete dort erst in der Poststelle und später in den Lokal- und Inlandsredaktionen. Die Menschenrechtsorganisation, bei der er anschließend angestellt war, feuerte ihn mit dem Vorwurf, er habe sich nicht ausreichend in die laufenden Projekte eingebracht. Seitdem ist Matvei nicht mehr krankenversichert gewesen.

Weiterhin hat Matvei in New York für Nachhilfe- und Abendschulen, eine Obdachlosenunterkunft und eine Filmproduktionsfirma gearbeitet. Zwischenzeitlich hat er auch in Grundschulen in der Bronx, in Queens und in Brooklyn Englisch unterrichtet. Er habe selten mehr als den gesetzlichen Mindestlohn verdient und sich während der Mittagspause meistens gerade einmal einen Kaffee und einen Bagel leisten können.

Seit Beginn seines Promotionsstudiums 2001 hat Matvei die Möglichkeit, an verschiedenen New Yorker Colleges zu unterrichten. Zunächst bekam er den Auftrag, Studenten mit migrantischem Hintergrund Nachhilfe in Englisch zu geben. Mittlerweile ist er Mitarbeiter der Slavistik-Fakultät des John Jay College und hält Seminare über zeitgenössische russische Lyrik. Die Arbeit macht ihm Spaß, da er sich mit den Studenten gut versteht und die Lehrpläne weitgehend selbst gestalten kann. Er beschwert sich allerdings darüber, dass er selten genug Zeit habe, sich gründlich für den Unterricht vorzubereiten. Außerdem sei die Bezahlung nicht so hoch, wie sie eigentlich sein müsse.

Matveis Kleinverlag verfügt über eine eigene Buchdruckmaschine. Gelegentlich hat er für AutorInnen, die ihre Texte im Selbstverlag veröffentlichen, Druckaufträge erledigt. Diese Arbeit sage ihm sehr zu, weil er sich seine Zeit dabei selbst einteilen könne und es ihm Freude bereite, die praktischen Fertigkeiten, die er sich im Umgang mit der Maschine angeeignet hat, zum Einsatz zu bringen. Es sei auch "ein gutes Gefühl", den eigenen Namen auf der Danksagungsseite eines Buches abgedruckt zu sehen.

Danach befragt, wie er sein Studium mit seinen übrigen Tätigkeiten in Einklang bringt, antwortet Matvei, er würde nicht mehr Zeit mit dem Studium zubringen als unbedingt nötig. Zurzeit besucht er keine Seminare. Die Unterrichtsarbeit sei im Grunde das eigentliche Studium, auch wenn sie wenig Zeit für eigenständige Forschung lasse. Es steht Matvei nicht frei, die Unterrichtsarbeit zugunsten solcher Forschung zurückzustellen. Er erhält keine Stipendien und ist auf das mit den Lehraufträgen verbundene Einkommen angewiesen, um seinen Unterhalt zu bezahlen.

Matvei bezieht seit einigen Jahren Ausbildungsfördergelder (college loans). Diese erlauben es ihm, die Schulden zurückzuzahlen, die er während der vergangenen sieben Jahre in New York gemacht hat - auch wenn es sich bei den Fördergeldern selbst um geliehenes Geld handelt. Einen Teil der Gelder verwendet Matvei zur Finanzierung seines Kleinverlags, auch wenn das aus finanzieller Sicht "keine gute Entscheidung" sei.

"Die meiste Zeit, die ich in New York gelebt habe, habe ich gerade einmal genug verdient, um meine Grundkosten zu decken. Es blieb nie etwas übrig für Kleider, Bücher oder dergleichen. Jetzt kann ich etwas angenehmer leben, aber die Konsequenz daraus ist, dass ich verschuldet sein werde, wenn ich promoviere. Manchmal bekomme ich einen gut bezahlten Übersetzungsauftrag, oder man zahlt mir eine Lesung oder einen Gastvortrag." Das mache aber nur etwa 5% seines Einkommens aus. Der Rest zerfalle in etwa 65% Arbeitseinkommen und 30% Fördergeld. Ohne letzteres hätte Matvei die letzten Jahre unterhalb der Armutsgrenze gelebt. "Während der Sommerferien ist es besonders schlimm, weil du keine Lehraufträge bekommst. Dann musst du irgendeinen Job finden, um dich bis zum nächsten Semester durchzuschlagen."

Die Lehraufträge an der Universität schätzt Matvei nicht nur wegen des Einkommens. Wichtig sei auch, dass er dabei etwas lerne und dabei später verwertbare Arbeitserfahrungen sammle. Matvei könnte sich vorstellen, einmal eine anspruchsvollere akademische Tätigkeit zu übernehmen, z.B. im Rahmen einer Professur.

Wichtigstes Kriterium bei der Jobsuche ist für Matvei, dass ihm Zeit zum nachdenken und schreiben bleibt. Er hat noch nie einen Vollzeitjob gehabt und kann sich das auch nicht vorstellen. Wenn er ganztägig gearbeitet hat, dann nur drei oder vier Tage die Woche. Das sei bereits zu regelmäßig gewesen. Er sei immer zu spät zur Arbeit erschienen.

In Matveis Kleinverlag arbeiten alle auf freiwilliger und unentlohnter Basis. Der Arbeitsaufwand ist beträchtlich. Profit entsteht nicht. Erstes Anliegen der Mitarbeiter ist es, anspruchsvolle Literatur zu veröffentlichen - vor allem solche, die bei anderen Verlagen nicht unterzubringen ist.

Matvei legt großen Wert darauf, sich an seinem Arbeitsort wohlzufühlen. "Ich möchte in New York leben, auch wenn es immer wieder schwierig ist und ich mir gelegentlich Geld leihen musste, um meine Kosten zu decken. Vielleicht werde ich in Zukunft einmal woanders hinziehen. Im Moment freue ich mich über kleine Auftragsarbeiten, die es mir erlauben, zu reisen. Im Sommer 2006 soll ich in St. Petersburg Vorlesungen halten. Außerdem werde ich eine Woche lang in Denver an einem Schriftstellerkongress teilnehmen. Solche Aufträge sind nicht gut bezahlt, aber sie vermitteln mir den Eindruck, dass meine Arbeit einen gewissen Wert hat. Vor allem bekomme ich die Reisekosten erstattet. Gelegentlich fahre ich mit meiner Freundin in Kleinstädte außerhalb New Yorks, um dort Lesungen abzuhalten. Das Geld, das wir dabei verdienen, deckt gerade einmal die Spritkosten. Literarische Übersetzungsaufträge vermitteln mir das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, und ich versuche sie so gut zu erledigen, wie ich kann. Ich nehme solche Aufträge auch dann an, wenn sie nicht gut bezahlt sind. Manchmal kann von Bezahlung überhaupt nicht die Rede sein. Wichtig ist, dass ich Übersetzungs- und Redaktionsaufträge von zuhause aus erledigen kann. Dann kann ich nebenher schreiben und andere Sachen erledigen. Das ist natürlich nicht immer die effizienteste Arbeitsweise."

Die Unterscheidung zwischen Lebenszeit und Arbeitszeit erscheint Matvei befremdlich. Ganz gleich, ob er nun einen Übersetzungsauftrag erledige, sich für den Universitätsunterricht vorbereite oder für seinen Kleinverlag arbeite (z.B. einen Text redigiere, ein Buch drucke oder Verwaltungs- und Öffentlichkeitsarbeit leiste) - er habe immer das Gefühl, mit dem beschäftigt zu sein, was er seine "Lebensarbeit" (life's work) nennt. Das gelte auch dann, wenn er sich mit seiner Freundin unterhalte (die ebenfalls für den Kleinverlag arbeitet), sich mit Bekannten einen Film ansehe, schreibe oder eine Lesung besuche. All das sei Teil seiner Lebensarbeit - selbst wenn er nur dasitze und rauche.

Matvei sagt, er hätte gern mehr Zeit zum lesen. Er fügt hinzu: "Auch wenn ich weniger arbeiten müsste, würde ich deshalb nicht weniger unternehmen. Ich würde mich wahrscheinlich vermehrt kreativen Tätigkeiten widmen. Die sind auch Arbeit. Was ist überhaupt Freizeit?"

Lena S.

Lena trägt mit dreizehn in ihrer Baden-Württembergischen Heimatstadt Reutlingen Zeitungen aus. Mit vierzehn kellnert sie einmal die Woche. Später arbeitet sie ein halbes Jahr lang bei Bosch am Fließband und in einer Färberei. Vor allem aber arbeitet sie in einem selbstverwalteten Jugendzentrum des Reutlinger Stadtjugendrings an der Bar. (Der Stadtjugendring ist der in einzelne Stadtverwaltungen integrierte Dachverein deutscher Jugendvereine. Er betreut selbstständig gegründete Jugendprojekte.) Lena kümmert sich im Jugendzentrum dreimal die Woche um das Getränkelager und den Ausschank. Diesen Job macht sie drei Jahre lang, bis sie siebzehn ist. Ein halbes Jahr lang arbeitet sie nebenher schwarz als Verkäuferin auf dem Stadtmarkt. Sie übernimmt auch zweimal die Woche für die Firma ZFS Legal den Briefversand. Diese Jobs gibt sie auf, um zusätzlich zur Arbeit an der Bar zweimal die Woche im Jugendzentrum zu putzen (schwarz). Später arbeitet sie auch zweimal die Woche an dem vom Jugendzentrum organisierten Mittagstisch. Sie beteiligt sich an einem Musikprojekt für körperlich Behinderte und übernimmt für das Jugendzentrum einen Teil der Pressearbeit (d.h. sie verfasst und verschickt Pressemitteilungen). Den Hauptanreiz dieser für das Jugendzentrum geleisteten Tätigkeiten sieht sie rückblickend darin, dass sie jederzeit Zugang zu den Räumlichkeiten hatte. Zu diesen Räumlichkeiten gehörte auch ein Proberaum, in dem sie musizieren konnte. Das Jugendzentrum sei damals zu ihrem "zweitem Zuhause" geworden. Sie habe dort gewohnt, wenn sie sich mit ihren Eltern gestritten habe.

Den Unterschied zwischen der Arbeit für das Jugendzentrum und anderen Jobs sieht Lena vor allem darin, dass sie sich am Jugendzentrum aufgehoben fühlte. "Ich habe dort nur Freunde gehabt, keinen Chef." Aus der Identifikation mit dem Umfeld habe sich die Bereitschaft ergeben, Verantwortung zu übernehmen. Der finanzielle Aspekt sei zwar nicht ausschlaggebend, aber dennoch wichtig gewesen. Lena hat bereits mit vierzehn beschlossen, von ihren Eltern kein Taschengeld mehr anzunehmen, war also von diesem Zeitpunkt an auf Lohnarbeit angewiesen. Sie sagt, sie habe immer schon ein starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit vom Elternhaus verspürt. Sie habe frei über ihr Leben verfügen wollen und auch die Kosten selbst bestreiten wollen.

Mit siebzehn zieht Lena erstmals in eine eigene Wohnung. Sie kann die Miete selbst finanzieren, hat aber für Lebensmittel nur etwa EUR60 monatlich zur Verfügung. Eine Zeit lang kellnert sie in einem Reutlinger Lokal. Dann gibt sie diesen Job auf, um doch Geld von ihren Eltern anzunehmen: einen Betrag in Höhe des Kindergeldes (EUR154,-). Dieser Betrag deckt die Telefon- und Lebensmittelkosten. Wenn Lena an dem vom Jugendzentrum organisierten Mittagstisch arbeitet, kann sie dort essen (also zweimal die Woche). Lena kauft möglichst billige Lebensmittel. Drei- bis viermal die Woche geht sie etwas trinken. Club- oder Kinobesuche kann sie sich nicht leisten.

Ihre Heimatstadt Reutlingen beschreibt Lena als "reich und spießig." Einziger Lichtblick seien das Jugendzentrum und die Kulturschockzelle (eine autonome Kommune) gewesen. In der "Zelle" gibt es Musikveranstaltungen, einmal die Woche für EUR7 eine Filmvorstellung, außerdem politische Veranstaltungen. Die Zelle war ursprünglich ein besetztes Haus. Nach einer Räumungsdrohung kam es zur Einigung mit der Stadtverwaltung, die den Betreibern das Grundstück (auf einer ansonsten unbebauten Flussinsel) überließ und ihnen seitdem zwecks Erhaltung der Räumlichkeiten Geld zukommen lässt. Der Unterschied zu einem Jugendzentrum besteht im autonomen Charakter der Zelle, d.h. die Zelle ist nicht an den Stadtjugendring und dessen Auflagen gebunden.

Lena beteiligt sich mit den Betreibern der Zelle an der Organisation von politischen Veranstaltungen (Demonstrationen, Podiumsdiskussionen anlässlich tagespolitischer Ereignisse). Schwerpunkt ist die Regionalpolitik, es gibt aber auch internationale Kontakte.

Mit achtzehn beschließt Lena, die Schule abzubrechen. Sie hat Schwierigkeiten mit dem Mathematikunterricht und mit den naturwissenschaftlichen Fächern. Bei der Schule handelt es sich um eine vom US-amerikanischen Konzern Microsoft betriebene Privatschule, die für ihre naturwissenschaftliche Schwerpunktsetzung bekannt ist. Eine Zeit lang überlegt sich Lena, eine andere Schule zu besuchen. Sie informiert sich über Montessori- und Waldorfschulen. Die dort üblichen Unterrichtsmethoden sagen ihr aber nicht zu. Es ergibt sich die Möglichkeit eines Stipendiums, das es Lena erlauben würde, ein halbes Jahr lang ein schottisches Internat zu besuchen. Das Stipendium würde nicht alle Kosten abdecken. Die übrigen Kosten würden die Eltern übernehmen. Diese Vorstellung ist Lena zu diesem Zeitpunkt weniger unangenehm als zuvor. Sie sagt sich, dass ihre Eltern das Geld ja haben. Lena entscheidet sich dann aber doch, ein halbes Jahr lang überhaupt keine Schule zu besuchen. Das empfiehlt ihr die Mutter einer Freundin. Lena gefällt der Vorschlag, weil sie zu dem Schluss kommt, dass ihr das Schulsystem im Allgemeinen nicht zusagt. Die Neurodermitis, an der Lena bereits seit ihrer Kindheit leidet, verschlimmert sich regelmäßig durch den mit der Schule verbundenen Leistungsdruck.

Lena beschließt, nach Berlin zu ziehen. Zu dieser Entscheidung trägt auch die Tatsache bei, dass die meisten Freunde, die Lena aus dem Jugendzentrum und aus der Zelle kennt, mittlerweile fortgezogen sind. Lena verspürt das Bedürfnis, einen neuen Ort kennenzulernen. "Richtig Pause, richtig raus." Interessant sind auch die niedrigen Unterhaltskosten in Berlin. Lenas Eltern versprechen, ihr die Miete in Berlin zu bezahlen und ihr außerdem EUR100 des Kindergeldes zu überlassen. Mehr will sie nicht annehmen.

In Berlin arbeitet Lena für ein weiteres Jugendzentrum, das Haus der Jugend im Stadtteil Köpenick. Auch bei diesem Jugendzentrum handelt es sich um ein ehemals besetztes Haus, das jetzt vom Stadtjugendring betreut wird. Zu den Angestellten des Hauses der Jugend zählen drei Sozialpädagogen und ein Zivildienstleistender. Lena arbeitet als Praktikantin. Sie übernimmt bürokratische Aufgaben und kümmert sich um die Verwaltung der Räumlichkeiten. Sie arbeitet an 5-6 Tagen die Woche von zwölf Uhr mittags bis spät (an Veranstaltungsabenden bis zwei Uhr morgens) und erhält dafür EUR100 monatlich. Außerdem beteiligt sich Lena an der politischen Jugendbildung, d.h. konkret an der Veranstaltung von Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen. Sie plakatiert, organisiert Konzerte und diskutiert mit Punks über deren Probleme mit der Köpenicker Neonaziszene. Einmal ist Lena anlässlich einer antifaschistischen Demonstration vierundzwanzig Stunden unterwegs. Sie sagt heute, die Arbeit am Haus der Jugend sei "mehr als ein Job" gewesen. Eine wichtige Rolle habe auch hier die Identifikation mit dem Umfeld gespielt.

Lena arbeitet länger am Haus der Jugend, als ursprünglich vereinbart. Sie muss den Job schließlich aufgeben, weil das Haus der Jugend das ursprünglich vereinbarte Gehalt aufgrund der Kürzung städtischer Zuschüsse nicht mehr bestreiten kann. Von den EUR50 monatlich, die Lena in Aussicht gestellt werden, kann sie nicht leben. Außerdem verspürt sie das Bedürfnis, ein anderes Umfeld kennenzulernen. Sie will in Berlin bleiben, nicht wieder umziehen.

Lena ist mittlerweile neunzehn Jahre alt und möchte wieder auf die Schule gehen. Die Bewerbung um einen Berliner Schulplatz nimmt zwei Monate in Anspruch und führt vorerst zu keinem Ergebnis. Die Stadt Berlin will Lena keinen Schulplatz zugestehen, da sie bereits volljährig ist. Außerdem sei das Oberbezirksamt Baden-Württemberg zuständig. Lena wird gesagt, sie solle einen Arbeitsplatz finden und eventuell eine Abendschule besuchen. Eine Schule in Reutlingen wäre bereit, Lena einen Schulplatz zur Verfügung zu stellen, aber das Oberschulamt sperrt sich dagegen. Lena schreibt zahlreiche Briefe und nimmt Kontakt zu verschiedenen Schulen auf - ohne Erfolg. Ihr Einkommen bestreitet Lena in dieser Zeit als Praktikantin bei einem bekannten Berliner Musiklabel. Sie gibt diesen Job auf, nachdem sie ihren Chef an einer wichtigen Musikveranstaltung mit Prostituierten erlebt.

Lena kellnert zwei Monate lang, bis das Lokal bankrott macht. Ein Bekannter aus Reutlingen vermittelt ihr weitere Jobs. Sie repariert Fahrräder, übernimmt Schreiner- und Malerarbeiten. Einmal erlebt sie, wie ihr Bekannter für das Aquarium Sealife eine Kulisse im Haifischbecken baut. Dieser Bekannte arbeitet auch als Künstler und Bühnenbildner, u.a. für das Maxim-Gorki-Theater. Lena verdient an vielen dieser Jobs mit. Außerdem kellnert sie wieder zweimal die Woche. Ihr Monatseinkommen beläuft sich auf durchschnittlich EUR150,-. Manchmal verdient sie nur EUR100,- manchmal aber auch EUR300,-.

Nach einem halben Jahr wird Lena ein Schulplatz in Berlin zugewiesen, dank einer Sozialarbeiterin aus dem Haus der Jugend, die sich für sie einsetzt. In der Zwischenzeit hat Lena auch in einem Callcenter gearbeitet. Diese Arbeit ist ihr schwer gefallen. Sie konnte nicht soviele Kunden anwerben, wie von ihrem Arbeitgeber erwartet, und versprach sich regelmäßig am Telefon. Außerdem verschlimmerte sich ihre Neurodermitis aufgrund dieses Jobs wieder.

Seit Lena wieder auf die Schule geht, wird ihr Unterhalt weitgehend von ihren Eltern finanziert. Außer dem Geld für die Miete überlassen Lenas Eltern ihr monatlich EUR200,- für Rechnungen und weitere Ausgaben. Sie würden ihr auch mehr geben, was sie aber nicht annehmen will. Lena arbeitet nebenher als Klavierlehrerin und verlangt EUR10,- die Stunde. Aufgrund der reduzierten Monatskarte, auf die sie aufgrund ihres Schülerstatus Anrecht hat, kann Lena es sich wieder leisten, S-Bahn zu fahren, nachdem sie lange nur auf dem Fahrrad unterwegs war. Lena wohnt mit drei anderen Personen im Stadtteil Friedrichshain. Eine bezahlbare Einzelwohnung hat sie nicht finden können.

Die nächsten zwei Jahre wird Lena auf die Schule gehen. Danach würde sie gern eine Weltreise unternehmen. Das Geld für diese Reise will sie unterwegs verdienen. Langfristig könnte sie sich vorstellen, entweder in Deutschland oder im Ausland ein Café zu betreiben.

Auf die Frage nach den Fähigkeiten, die ihr in ihrem bisherigen Arbeitsleben am meisten genützt haben, antwortet Lena: "Man kann das, womit man sich identifizieren kann." Sie könne dann gut mit anderen Menschen umgehen, wenn sie sich ihnen verbunden fühle. Lena gebraucht in diesem Zusammenhang häufig das Wort "Überzeugung." Wichtig sei nicht, wie gut bezahlt eine Arbeit ist, sondern ob man sie inhaltlich ernst nehmen könne. Großen Wert würde sie auch auf den unmittelbaren Kontakt zu anderen Menschen legen. Deshalb sei der Job im Callcenter eine schlechte Wahl gewesen, sozusagen der extreme Gegensatz zu der Arbeit im Haus der Jugend.

Schlussbemerkungen

Auffallend war bei den diesen Profilen zugrundeliegenden Gesprächen, dass die Befragten trotz ihrer Verpflichtungen und dem allen gemeinsamen Zeitmangel nicht nur keinerlei Misstrauen oder Widerwillen zeigten, wenn sie gebeten wurden, ihre Arbeitserfahrungen und ihre finanzielle Situation zu rekapitulieren, sondern im Gegenteil häufig ein starkes Kommunikationsbedürfnis an den Tag legten. Das Projekt einer empirischen Untersuchung heutiger Arbeitsverhältnisse stieß auch bei nur geringfügig politisierten GesprächspartnerInnen auf großes Interesse. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die meisten der Befragten unaufgefordert weitere mögliche GesprächspartnerInnen vorgeschlagen haben. Offenbar besteht, was die hier behandelten Themen angeht, zumindest in dem den Befragten eigenen Klassensegment ein starkes Kommunikationsdefizit.

Es scheint, dass ein Großteil der heute von der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse Betroffenen noch nicht dazu übergegangen ist, in der aus ständigem Geldmangel und dem Zwang zur fortgesetzten Revision des eigenen Lebensentwurfs folgenden Existenzangst ein kollektives Phänomen zu erkennen. Die meisten der Befragten scheinen in der eigenen Lage einen Sonderfall zu sehen, der nicht so sehr gesamtgesellschaftlichen Gewaltverhältnissen, sondern in erster Linie persönlichen Fehlentscheidungen zuzuschreiben ist. Welche akuten Formen diese Existenzangst zuweilen annimmt, geht z.B. aus der Erklärung einer der hier befragten Personen hervor, sie bestehe "nur noch aus Ängsten."

Eine weitreichende Politisierung der prekär angestellten Bevölkerung zeichnet sich heute nicht ab. Viele Voraussetzungen für eine solche Politisierung bestehen aber bereits, vor allem in Form eines nicht zu unterschätzenden Reichtums an gemeinsamen Erfahrungen und Bedürfnissen. Was fehlt, ist der unmittelbare Austausch. Er wird durch ein gesteigertes, den Wunsch nach Sammlung und Rückzug erzeugendes Arbeitstempo ebenso unterbunden wie durch den bei mehreren der hier Befragten zu beobachtenden Mobilitätszwang.

Mit dem Nachbeten tradierter Parolen haben sich Politisierungsprozesse noch nie in Gang setzen lassen. Gerade heute wäre vielmehr eine kritische Selbstreflexion revolutionstheoretischer Positionen angebracht. Eine solche Selbstreflexion sollte immer von den konkreten arbeitenden Subjekten ausgehen. Sie sollte klassentheoretisch bleiben, ohne fiktive Klassensubjekte zu entwerfen oder die fortgesetzten Verschiebungen im gesamtgesellschaftlichen Klassenzusammenhang zu übersehen. Insofern sind es nicht nur aufs fordistische Industrieproletariat fixierte Revolutionsvisionen, die sich heute den Vorwurf eines verkürzten Blicks auf den realen Kapitalismus gefallen lassen müssen, sondern auch jene neueren Ansätze, die in einem vermeintlich deterritorialisierten "intellektuellen Proletariat" das neue Geschichtssubjekt zu erkennen meinen. Die Realität ist komplexer, widerspruchsvoller und immer noch weitgehend unerforscht.

Vor über 30 Jahren notierte Hans Jürgen Krahl in seinen die damalige Politisierung westdeutscher StudentInnen analysierenden Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein: "Wenn die Wissenschaften nach Maßgabe ihrer technischen Umsetzbarkeit und ihre Träger, die geistigen Arbeiter, in den produktiven Gesamtarbeiter integriert sind, dann ist nicht anzunehmen, dass sozialrevolutionäre Strategien sich in der klassischen Weise nahezu ausschließlich aufs Industrieproletariat beziehen können. Nicht ist die Frage zu stellen, ob wissenschaftliche Intelligenz im traditionellen Sinn industrieproletarisches Klassenbewusstsein entwickeln kann, sondern wie umgekehrt der Begriff des unmittelbaren Produzenten und damit der arbeitenden Klasse sich insgesamt verändert hat."

Diese Forderung nach einer an den realen Veränderungen der kapitalistischen Produktion orientierten Klassenanalyse gilt heute nicht nur für das Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und Industrieproletariat, sondern für die Mehrzahl der in den oben angeführten Profilen besprochenen Arbeitsverhältnisse. Aktuell bleibt an Krahls Thesen vor allem aber auch der Anspruch, einen Beitrag zur "konkreten Analyse der konkreten Situation" zu leisten.