Kapitalistische Entwicklung zwischen Zivilisierung und Entzivilisierung
Die kapitalistische Entwicklung unterliegt einer Janusköpfigkeit, die bereits von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beschrieben wurde: der Gleichzeitigkeit von Zivilisierung und Zerstörung
So viele "Schwarzbücher" wie nach dem "Sieg im Kalten Krieg" sind wohl noch nie in so kurzer Zeit auf dem Büchermarkt erschienen: "Schwarzbuch Kapitalismus", "Schwarzbuch Markenfirmen", "Schwarzbuch Globalisierung", "Schwarzbuch Banken", "Schwarzbuch Erdöl", "Schwarzbuch Klimawandel", "Schwarzbuch VW"Â… Schwarzbücher verkaufen sich offenbar gut. Das war auch schon vor etwa zehn Jahren beim "Schwarzbuch Kommunismus" so. Darin wurden dem real existierenden Sozialismus die Millionen Tote in den Gulags der Sowjetunion, den politisch erzeugten Hungersnöten in Afrika und auf den kambodschanischen "killing fields" zur Last gelegt. Schwarzbücher geben dem zivilisatorischen Unbehagen Ausdruck, das viele Menschen in vielen Ländern befällt. Sicher ist im "kurzen 20. Jahrhundert" im Namen von Sozialismus und Kommunismus ein "Desaster" erzeugt worden (so Geras 2000), das schließlich zum Kollaps geführt hat. Die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl vor 20 Jahren geht auf das Konto der Verantwortlichen in der ehemaligen Sowjetunion. Selbst angesichts dieser Katastrophen und menschlichen Tragödien auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs kann der Kapitalismus jedoch nur durch "den einfachen Trick (zum Ideal verklärt) werden, wenn aus dem Bild die sich fortsetzende Katastrophe herausretuschiert wird, die der Kapitalismus für unzählbare Massen der Weltbevölkerung bis in unsere Tage geblieben ist" (Geras 2000: 47). Das ist eine Aussage über die Gegenwart des Kapitalismus. Über dessen Vergangenheit, nämlich über das Kolonialregime des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schreibt Rosa Luxemburg: "Was die kapitalistische Produktionsweise vor allen früheren besonders auszeichnet, ist, dass sie das innere Bestreben hat, sich mechanisch auf die ganze Erdkugel auszudehnen und jede andere, ältere Gesellschaftsordnung zu verdrängenÂ… Dadurch werden die naturwüchsigen Gesellschaftsverhältnisse und die Wirtschaftsweise der Eingeborenen überall vernichtet, ganze Völker werden zum Teil ausgerottetÂ…" (Luxemburg 1975b: 772f.)
Es ist keine Frage, dass der Kapitalismus unserer Tage in den reichen Ländern Nordamerikas, Europas und Asiens eine Verbesserung der Lebensbedingungen gebracht hat, jedenfalls im Hinblick auf die Versorgung mit materiellen Gütern und Diensten. Doch gleichzeitig breitet sich auch heute die Armut in der Welt aus. Die natürliche Umwelt ist so sehr bedroht, dass das Leben vieler Tier- und Pflanzenarten in Frage gestellt ist; unsere Mitwelt siecht dahin. Bevor noch die fossilen Energieträger zur Neige gehen, könnte das Klima des Planeten Erde kollabieren. Terror und Krieg gegen den Terror, die Banalisierung von Folter, das Verschwinden von Menschen im schwarzen Loch von Guantánamo machen vielen Menschen Angst. Die Privatisierungsmanie der jüngsten zwei Dekaden, die nicht nur Liberale und Konservative, sondern ebenso Sozialdemokraten und Grüne wie eine globale Pandemie erfasst hat, hat schlimme Auswirkungen auf die Gesellschaften vom südlichen Afrika bis Skandinavien, von Lateinamerika bis China. Die endemischen finanziellen Instabilitäten spitzen sich zu zerstörerischen Finanzkrisen zu. Die USA leisten sich ein auf Dauer unhaltbares Defizit der Leistungsbilanz und eine immer größere Verschuldung gegenüber dem Ausland und destabilisieren auf längere Frist die Weltwirtschaft - und Alternativen sind nicht in Sicht. "Das System des Kapitalismus ist in den reichen Ländern gegenwärtig durch Alternativen nicht bedroht," resümiert Andrew Glyn lakonisch (Glyn 2006: 151). Gesellschaften sind im Zuge der neoliberalen Politik fragmentiert worden, so dass auch der Widerstand fragmentiert oder auf globalen und regionalen Sozialforen an die Peripherie des (welt)politischen Geschehens gedrängt ist. Dass eine Mehrheit der US-Amerikaner das Kabinett der Kriegsverbrecher 2004 wieder gewählt oder fast die Hälfte der italienischen Wähler dem korrupten Berlusconi im Frühjahr 2006 die Stimme gegeben haben, ist Zeichen moralischer und politischer Zersetzung. Die jüngste kapitalistische Entwicklung ist zerstörerisch, da hat Norman Geras Recht.
Die Streikenden bei der Catering-Firma Gate Gourmet, die vom Private Equity Fund Texas Pacific übernommen und danach umstrukturiert wurde, um die Rendite auf einen die "Investoren" befriedigenden Stand zu bringen, haben für die Art und Weise der Ausplünderung den Begriff parat: "Kapitalismus brutal".
Barbaren des Geistes
Ganz anderer Auffassung vom modernen Kapitalismus sind die Herausgeber des "Merkur", der sich selbst so bezeichnenden "deutschen Zeitschrift für europäische Kultur". Sie werden hier stellvertretend für all jene zitiert, die den Kapitalismus verteidigen, für selbstverständlich und für das einzig mögliche ökonomische System einer modernen Zivilgesellschaft halten. Ein Sonderheft des "Merkur" aus dem Jahre 2003 (mit dem ich mich an anderer Stelle bereits auseinander gesetzt habe; vgl. Altvater 2004) trägt den polemischen und zugleich apodiktischen Titel "Kapitalismus oder Barbarei". Es ist grölender Applaus für einen zum Ideal verklärten Kapitalismus, und eine ebenso marktschreierische Schelte der kapitalismus- und globalisierungskritischen Bewegungen. Zu diesem Zweck beziehen sich die Herausgeber Bohrer und Scheel affirmativ auf einige emphatische Passagen des "Kommunistischen Manifests" und verwenden sie, um damit dem Kapitalismus das Zeichen der Fortschrittlichkeit und Zivilität aufzustempeln und zugleich auf Kapitalismus- und Globalisierungskritiker als Barbaren der Gegenwart loszuschlagen. Es gehe Marx und Engels, so schreiben sie richtig, "um die zivilisatorische Mission des KapitalismusÂ…: ‚An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen ProduktionÂ… Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt.Â’" (zit. nach Bohrer/Scheel 2003: 746; im Original: MEW 4: 466)
Noch mehr Belegstellen für die "höchst revolutionäre Rolle" (MEW 4: 464) der Bourgeoisie hätten Bohrer und Scheel finden können, um noch besser munitioniert auf "die Reaktionäre von Attac" (Bohrer/Scheel 2003: 745) loszuschießen. "Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen, als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen - welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten" (MEW 4: 467).
Doch hätten die Merkur-Herausgeber ein wenig mehr Marx studiert, so wären sie vielleicht auch auf jene Passage gestoßen, in der Marx und Engels von der "Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse" (MEW 4: 467) schreiben. Die "BourgeoisieÂ… (habe) nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden - die modernen Arbeiter, die Proletarier." (MEW 4: 468). "Die proletarische Bewegung", so fügen die Verfasser des "Manifests" hinzu, "ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl" (MEW 4: 472) und sie beschließen bekanntlich das "Kommunistische Manifest" mit den Worten: "Die Proletarier haben in (einer kommunistischen Revolution) nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" (MEW 4: 493).
Bohrer und Scheel lassen sich von Marx und Engels wohl affirmieren, nicht aber irritieren. Ihre Alternative des 21. Jahrhunderts lautet schlicht: "Kapitalismus oder Barbarei". Wer will schon für Barbarei plädieren oder gar in der Barbarei leben? Also muss man für den Kapitalismus, und das heißt in modernen Zeiten für den globalisierten Kapitalismus sein, um die Zivilität zu bewahren und die Barbarei zu verhindern. Die Alternative, die mit dem "oder" angedeutet wird, ist also gar keine. Es gibt also auch innerhalb des kapitalistischen Weltsystems keine "neuen Barbaren", wie sie Jean-Christophe Rufin ausmacht (Rufin 1996). Die hochtrabende "deutsche Zeitschrift für europäische Kultur" bietet eine Autorenriege auf, um Margret Thatchers schlichte Botschaft "There is no alternative" zu propagieren. Das warÂ’s denn auch, es bleibt nichts als eine Paraphrase der von Francis Fukuyama vor mehr als einem Jahrzehnt aufgestellten These vom "Ende der Geschichte", weil es jenseits der kapitalistischen Marktwirtschaft keine Zukunft geben könne. Wenn es keine Alternativen gibt, prallt Kritik an der Faktizität der gesellschaftlichen Sachzwänge ab. Daher werden die Globalisierungskritiker nicht nur als irrende "Ideologen", sondern als "Reaktionäre" verurteilt. Die Herausgeber zitieren erneut die Kritik an den vorkapitalistischen "Reaktionären" im "Kommunistischen Manifest", wo Marx und Engels über die "altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen" spotten (bei Bohrer/Scheel 2003: 745). Mehr als 150 Jahre später münzen sie dieses Verdikt des "Reaktionären" auf die Kritiker des inzwischen globalen Kapitalismus, explizit auf Attac, die "Sozialisten des Herzens" (Bohrer/Scheel 2003: 746). Man muss tatsächlich extrem hartherzig und auch ein wenig borniert sein, um Guantánamo, die Verbrechen der US-Besatzer im Irak und in Afghanistan, die Aufrufe der fundamentalistischen Hassprediger auf den US-Fernsehkanälen zur Ermordung von Hugo Chavez, die Vorbereitung eines Atomkriegs gegen den Iran oder die Armut und das Elend in der durchkapitalisierten Welt von heute nicht als Zeichen einer drohenden Entzivilisierung und Barbarei des Kapitalismus zu deuten.
Haben die europäischen Intellektuellen aus Deutschland den beißenden Hohn von Voltaire in seiner Persiflage "Candide oder der Optimismus" aus dem Jahre 1756 vergessen, den er über Leibniz ergießt, über seine These, dass die Welt, so wie sie mit all ihren Mängeln ist, doch die beste aller möglichen Welten sei, das Resultat des unergründlichen Ratschlusses Gottes? Die politische Lehre, die Leibniz unter vorbürgerlichen Verhältnissen selbst nicht zieht, lautet dann in aller vordemokratischen Schlichtheit: Finde Dich mit den Zuständen ab, sei ein guter Bürger, bearbeite Deinen Garten und sieh zu, dass die Äpfel reifen, versuche aber nicht jenseits der besten möglichen in blasphemischer Absicht eine andere Welt zu schaffen (Voltaire 1759/1990).
Dieses Weltverständnis der Alternativlosigkeit (das so schön erleichtert in dem Ausruf "Und das ist gut so" seinen Ausdruck findet) trifft sich mit heutigen Anforderungen des Kapitals, willige und billige Arbeitskräfte vorzufinden, die das Protestieren und Revoltieren gegen die herrschenden Verhältnisse nicht nur verlernt haben, sondern es auch für unschicklich und unzeitgemäß, für ungebracht, weil zwecklos halten. In den Jahrzehnten des Neoliberalismus sind die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in allen Ländern rückläufig (Glyn 2006: 121ff), bedingt durch Arbeitslosigkeit, Informalisierung der Arbeit und Prekarisierung, aber auch als Folge der Individualisierung und Ideologisierung wirtschaftlicher "Freiheit". Diese wird auch von Bohrer und Scheel als Kern der kapitalistischen Zivilisation herausgestellt. "Von Adam Smith und David Ricardo bis Friedrich August von Hayek und Milton Friedman: Den bedeutenden Theoretikern des Kapitalismus ging es primär um Freiheit - der Kapitalismus war das Mittel, nicht der Zweck." (Bohrer/Scheel 2003: 746) Gemeint ist die wirtschaftliche Freiheit der Marktteilnehmer, eine negative Freiheit von Regeln und Gesetzen durch Deregulierung, die die positiven Freiheiten politischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger beschränkt oder gar aufhebt, Wirtschaft und Gesellschaft gestalten zu können. Es ist die Freiheit, die Natur zu plündern und zu zerstören und die Menschen um des Profites willen in manchen Regionen extrem auszubeuten. Das ist die Freiheit der großen Konzerne, die Naomi Klein so eindringlich mit vielen Beispielen in "No Logo!" beschreibt (Klein 2001). Diese Verständnis von Freiheit im Kapitalismus hat Friedmann und von Hayek dazu veranlasst, aktiv mit der chilenischen Militärjunta unter Pinochet zusammenzuarbeiten.
Die ehemalige UNO-Botschafterin der USA, Jane Kirkpatrick, hat mit Blick auf Chile und Kuba die feinsinnige Unterscheidung zwischen Autoritarismus und Totalitarismus getroffen. Kuba gilt ihr als totalitär, weil es auf der Insel keine Wirtschaftsfreiheiten gäbe. Pinochets Chile sei zwar politisch autoritär aber wirtschaftlich frei. Wegen der im neoliberalen Dogma gepflegten Annahme einer "Interdependenz der Ordnungen" wird sich die wirtschaftliche Freiheit auch politisch durchsetzen. In einem "totalitären" System sei dies aber ausgeschlossen. Doch zu welchem Preis, mit welchen Opfern und nach wie langer Zeit wird der mörderische Autoritarismus einer Militärdiktatur politischer Freiheit Platz machen!? Nehmen wir an, dass Bohrer und Scheel diese Seite der Geschichte der "Freiheit", wie sie von Hayek und Friedman meinen, übersehen haben und beenden wir die Auseinandersetzung mit dieser deprimierend apologetischen Barbarei des Geistes. Nun soll aber der Fairness halber erwähnt werden, dass einige Autoren-Beiträge im "Merkur"-Heft durchaus mit Gewinn lesbar sind. Aber sie haben sich unter dem erwähnten Motto versammeln und hinter dem Vorspann der Herausgeber einspannen lassen, und das korrumpiert sie alle.
Was zivilisiert den Kapitalismus?
Es fällt angesichts der quecksilbrigen Apologetik schwer, die historisch durchaus wirksame zivilisierende Macht der kapitalistischen Produktionsweise darzustellen. Doch gibt es sie, und zwar nicht nur unter der Annahme des "historischen Materialismus", die Geschichte der Menschheit bewege sich aufwärts, indem jede Gesellschaftsformation an immanente Grenzen gerate und dann durch eine "höhere" Gesellschaftsformation überwunden würde. An die Stelle der Feudalordnung tritt die kapitalistische Produktionsweise. Diese ist nach Rosa Luxemburg "ihrerseits schon von vornherein, aus der ganzen enormen Perspektive des historischen Fortschritts betrachtet, keine unabänderliche und für ewige Zeiten bestehende, sondern sie ist ebenso eine Übergangsphase, eine Staffel in der kolossalen Leiter der menschlichen Kulturentwicklung wie jede der vorhergehenden gesellschaftlichen Formen" (Luxemburg 1975b: 772). Der Kapitalismus ist also in der Auffassung Rosa Luxemburgs ein Fortschritt, bis aufgrund der ihm eigenen "fundamentalen" Widersprüche die "Unmöglichkeit des Kapitalismus deutlich zutage" (ebd.: 778) tritt. "Er ist ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbstÂ… Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann dieser Widerspruch nicht anders gelöst werden als durch die Anwendung der Grundlagen des SozialismusÂ…" (Luxemburg 1975a: 411).
Es ist aus mindestens zwei Gründen fraglich, dass Entwicklung und Fortschritt diesem unterstellten Schema folgen. Zum ersten sind Zweifel an der Dynamik der inneren Widersprüche kapitalistischer Akkumulation angebracht. Denn die Krisen haben sich trotz ihrer zerstörerischen Auswirkungen immer auch als eine Art "Gesundbrunnen" herausgestellt, der die kapitalistische Produktionsweise mit neuer Energie versorgt, weil der Kapitalkoeffizient (ein Indikator für die Marxsche "organische Zusammensetzung des Kapitals") gesenkt und gleichzeitig die Verteilung zu Gunsten des Kapitals und zu Lasten der Lohnabhängigen verändert wird. Die Profitrate kann steigen, die Akkumulation kommt wieder in Gang. Eher sind die Grenzen der Natur als die des Kapitals eine Schranke der Entwicklung. Diese aber schließt Rosa Luxemburg explizit aus: "An sich kennt die Ausdehnungsmöglichkeit der kapitalistischen Produktion keine Grenzen, weil der technische Fortschritt und damit auch die Produktivkräfte der Erde keine Grenzen habenÂ…" (Luxemburg 1975b: 777). Das stimmt so nicht, wie wir fast 100 Jahre, nachdem Rosa Luxemburg die "Einführung in die Nationalökonomie" verfasst hat, angesichts von Klimakatastrophe und Ölvorräten, die zur Neige gehen, wissen (vgl. dazu Altvater 2005). Die Akkumulationsdynamik ist also ganz entscheidend vom gesellschaftlichen Naturverhältnis bestimmt, und daher ist es problematisch, Grenzen der Natur (der "Produktivkräfte der Erde") für unerheblich zu halten.
Einen zweiten Einwand formuliert David Moore als Frage: "Can primitive accumulation complete its task in the ‚Third WorldÂ’"? (Moore 2004: 87) und er beantwortet sie mit einem "nein". Denn nicht nur ist es fraglich, dass sich Modernisierung und Fortschritt in zeitlicher Aufeinanderfolge innerhalb einer nationalen Gesellschaft vollziehen. Es ist noch weniger wahrscheinlich, dass dies räumlich in verschiedenen Gesellschaften nebeneinander geschieht. Dieses Urteil ist aus der Kritik der Modernisierungs- und Dependenztheorien bekannt. Allerdings ergänzt Moore die Feststellung um den Hinweis, dass dies eine Folge der "Unvollkommenheit" des Kapitalismus und daher auch des "Komplexes" von Staat und Gesellschaft sei, und dass "flows of huge amounts of wealth - including money as well as pure labour, its products and other resources - from periphery to core" (Moore 2004: 92) geleitet werden. Der schwache Nationalstaat könne nicht durch einen globalen Staat ersetzt werden. Den gibt es nämlich nicht, trotz allen Geredes um ein neues "Empire". Allenfalls können "globale öffentliche Güter" eine gewisse Ausgleichsfunktion übernehmen; wenn nicht, dann "Liberian and Congolese warlords will demonstrate how accumulation takes place in the ‚hinterlandÂ’. China illustrates the brighter but not very libertarian lights of state capitalism following ‚primitive socialist accumulationÂ’. Americans will invade more IraqsÂ…" (Moore 2004: 105) Nur die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter kann eventuell auf "a fragile trajectory to a different path" (ebd.) steuern. Das ist eine bescheidene Hoffnung, den "Limes" zwischen Nord und Süd, von dem Rufin schreibt, zu überwinden.
Der zivilisatorische Fortschritt kommt im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung vor allem dadurch zustande, dass das Geld in Kapital verwandelt wird. Das ist ein komplexer Prozess, von dem Moore zu Recht schreibt, "that the first stages of capitalist development cannot be accomplished without significant state involvement" (Moore 2004: 105). Vom Geld als Geld erwarten die politischen Philosophen seit Aristoteles nichts Gutes. Denn das Geld, das aus der Wertform der Ware resultiert, kann sich gegenüber der Ware mit ihrem Gebrauchswert verselbstständigen und sich dann selbstreferentiell auf sich selbst beziehen. Geld unterscheidet sich vom Geld nicht qualitativ, sondern nur quantitativ, Geld muss zu mehr Geld werden. Geld spaltet die Gesellschaften, denn erstens haben die einen viel, die anderen wenig davon. Reichtum und Armut können in monetären Quantitäten ausgedrückt werden, und der Geldvermögensbesitzer schützt seinen Schatz gegen die Habenichtse. So kommt neben Lug und Trug auch die Gewalt in die Gesellschaft, und es ist ein zivilisatorischer Fortschritt, wenn das Monopol der Gewaltausübung nicht bei privaten, sondern bei öffentlichen Akteuren liegt, die dazu legitimiert sind. Zweitens ist Geld eine soziale Beziehung zwischen Gläubigern, die eine Forderung haben, und Schuldnern, die die Forderung bedienen müssen. Daraus entstehen Abhängigkeiten und existenzielle Gefährdungen, wenn Schuldner den Schuldendienst nicht leisten können. In vorkapitalistischen Zeiten drohte der Schuldturm, die Schuldknechtschaft, die Sklaverei. Hier wird der Staat eine Zwangsanstalt zur Sicherung der Funktionen des Geldes im Interesse der Besitzer von Geldvermögen.
Das ist ein altes Thema der politischen Philosophie und der Theologie in allen Hochreligionen. Um die für die Gesellschaften schädlichen Wirkungen des Geldes und vor allem die von Zins und Zinseszins einzudämmen, ist seit Aristoteles und später bestärkt im Islam und mit dem kanonischen Zinsverbot der christlichen Kirche der Geldverleih gegen Zinsen geächtet worden. Das diente dem Selbstschutz von "langsamen" Gesellschaften, in denen ökonomisches Wachstum ein Fremdwort war, gegen Zinsen, die an die Substanz gingen und diejenigen, die sie zu zahlen hatten, mit Sicherheit überforderten. Das änderte sich erst seit dem Beginn des Kapitalismus im "langen 16. Jahrhundert". Das kanonische Zinsverbot fiel nach und nach im Zuge der einsetzenden Modernisierung. Das islamische Zinsverbot blieb vielleicht auch deshalb, weil die islamische Welt der Modernisierung hinterher hinkte.
Vor allem Marx fand heraus, dass erst im Kapitalismus der monetäre Zuwachs, das "Mehrgeld" als Mehrwert in der Produktion produziert wird, also nicht dadurch zustande kommt, dass einige die anderen im Handel oder bei der Kreditvergabe wucherisch ausnehmen (vgl. das 4. Kapitel des ersten Bandes des "Kapital"). Nein, die Produktion des Mehrwerts ist kein Nullsummen-, sondern ein Positivsummenspiel. Alle Beteiligten haben am Ende mehr, also nicht nur die Gläubiger, auch die Schuldner gewinnen. Dies ist durchaus ein Fortschritt in der kapitalistischen Entwicklung: Die Zinsen für die Kredite, mit denen die Akkumulation erweitert wird, können aus dem Überschuss (aus dem produzierten Mehrwert) bezahlt werden. Für die Profite der industriellen Kapitalisten bleibt auch genügend übrig, so dass der Anreiz zur Akkumulation aufrecht erhalten bleibt, und selbst die Lohneinkommen können steigen, auch wenn sich die Verteilung in der Tendenz für die Lohnabhängigen verschlechtert - von den "goldenen Jahren" der Wirtschaftsentwicklung abgesehen, die in der Geschichte des Kapitalismus eine Ausnahme sind. Allerdings ist diese positive Wirkung das Resultat der radikalen und brutalen Umgestaltung des Produktionsprozesses. Auch dabei spielt der Staat eine entscheidende Rolle. Eigentumsrechte müssen gegen die Eigentumslosen geschützt werden, und die eigentumslosen Klassen werden häufig genau unter direktem Zwang der Staatsgewalt und nicht nur aufgrund des "stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse" (Marx 1867: 765) zur Lohnarbeit gezwungen.
Die Mehrwertproduktion kennt prinzipiell zwei Formen, die absolute Mehrwertproduktion und die relative Mehrwertproduktion. Letztere setzt voraus, dass die Produktivität der Arbeit steigt, dass also in den Produktionsprozess moderne technische und organisatorische Methoden zur Steigerung der Mehrwertrate eingeführt werden. Dies genau ist die fortschrittliche Seite des modernen Kapitalismus, die Produktivkraftsteigerung ist ihre Voraussetzung. Daher das Lob der neuen Produktionsmethoden in der kapitalistischen Produktion, das im kommunistischen Manifest von Marx und Engels, aber auch an anderer Stelle nachzulesen ist.
Die dem Kapital angemessene Produktionsweise der relativen Mehrwertproduktion verbreitet sich erst mit der industriellen Revolution, die zugleich eine fossilistische Revolution ist. Es findet nämlich ein Übergang von einem auf biotischen Energien basierenden Energiesystem zum fossilen Energieregime statt. Nun kann nicht nur der relative Mehrwert steigen, sondern es erhöht sich auch der Wohlstand der Nationen, so wie es von der klassischen Politischen Ökonomie versprochen worden ist. Allerdings ist der Preis des zivilisatorischen Fortschritts in der kapitalistischen Marktwirtschaft hoch. Karl Polanyi bezeichnet den entbetteten Markt als "Teufelsmühle", in der die Arbeitskraft, die Natur und das Geld zugrunde gerichtet werden. Darauf wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein.
Im Unterschied zum relativen Mehrwert kommt der absolute Mehrwert im wesentlichen durch die Zunahme des Arbeitsvolumens zustande, indem Arbeitskräfte aus nicht kapitalistischen Sektoren in die kapitalistische Ökonomie gezogen werden, durch Vertreibung der Bauern vom Land im Zuge von Einfriedungen (enclosures), die Zunahme von Frauenarbeit, Kinderarbeit und eine extreme, die Gesundheit ruinierende Ausdehnung der Arbeitszeit. Das hört unter dem modernen Regime der relativen Mehrwertproduktion nicht auf, rückt aber in den Hintergrund - dank der sozialstaatlichen Regelungen zur Bremsung der "Teufelsmühle".
In heutigen Zeiten freilich verändert sich das Verhältnis von relativer und absoluter Mehrwerterzeugung. Die Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität gehen zurück (auf die Ursachen kann hier nicht eingegangen werden, vgl. z. B. Glyn 2006) und damit die Möglichkeiten, den relativen Mehrwert zu steigern. Zugleich gewinnen die Finanzmärkte an Bedeutung, die Renditen in eine Höhe erzwingen, die das erwähnte Positivsummenspiel nicht mehr erlauben. Der Druck auf die Lohneinkommen und die Arbeitsleistung wird enorm erhöht. Die Methoden der absoluten Mehrwertproduktion durch Arbeitszeitverlängerung, die Zunahme der Arbeitsintensivierung, die Informalisierung und Prekarisierung der Arbeit werden bedeutsamer als die "zivilen Formen" der Ausbeutung. Die Akkumulation des Kapitals gründet erneut eher auf Enteignung von materiellen und immateriellen Errungenschaften, von Vermögen und Rechten, als auf Produktion des Surplus. Der "neue Imperialismus" des 21. Jahrhunderts ist eine Ökonomie der Enteignung ("Akkumulation durch Enteignung" - Harvey 2005).
In der Teufelsmühle
Von Karl Polanyi wird der historische Übergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft als eine "Entbettung" der Wirtschaft aus der Gesellschaft beschrieben, und dieser Prozess dauert bis heute fort. In der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte ist "die Wirtschaft des MenschenÂ… in seine gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet" (Polanyi 1979: 135) Der entbettete Markt und "der ÜbergangÂ… zu einer Gesellschaft, die, umgekehrt, im Wirtschaftssystem eingebettet ist, war eine gänzlich neue Entwicklung" (ebd.), die im 18. Jahrhundert in England Premiere hatte. Die Dominanz der Marktökonomie über die Gesellschaft ist die Bedingung für die "freie" ungebändigte Wirkung der Konkurrenz und für den Anstieg des "Wohlstands der Nationen", obwohl Adam Smith, wie Polanyi bemerkt, "den Wohlstand der Nationen als eine Funktion ihres physischen und ethischen Lebens" (Polanyi 1978: 157) betrachtete und nicht nur als Folge der Wirkungsweise der "unsichtbaren Hand" des Marktes.
Freilich darf man sich eine vorkapitalistische Gesellschaft mit eingebetteter Wirtschaft nicht als bukolische Idylle vorstellen. Dies hält Marx jenen entgegen, die die sozialen Zerstörungen durch die britische Kolonialherrschaft in Indien beklagen: "Â…So sehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Tausende betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöst werden..., so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, dass diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, dass sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten" (Marx 1853a: 133).
Der "Entbettungsmechanismus", wie Anthony Giddens ihn nennt (1995), ist jedoch nicht nur Sachzwang, also ein "Fetisch", der Macht über die Menschen und ihr Bewusstsein erlangt, sondern ein sozialer und politisch unterstützter Prozess der Gesellschaftsspaltung. Wenn er aus den gesellschaftlichen und politischen Bindungen "befreit" ist und wenn die Grenzen der Natur missachtet werden, funktioniert der Markt wie eine "Teufelsmühle", und diese zerstört die Arbeitskraft, die Natur und das Geld. "Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt, oder auch nur des Umfangs und der Anwendung der Kaufkraft, zuließe, dann würde dies zur Zerstörung der Gesellschaft führen", resümiert Karl Polanyi (Polanyi 1978: 108). Die Arbeitskraft wird durch Überausbeutung zerstört ebenso wie der Boden. Dies hatte bereits Marx als dunkle Seite des industriellen Fortschritts festgestellt: "Die kapitalistische Produktion entwickeltÂ… nur die Technik und die Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" (Marx 1867: 530). Aber wie steht es mit dem Geld? "Während die Gefahren, die dem Boden und der Arbeit durch den Mahlstrom des Marktes drohen, ziemlich klar sind, so sind die dem Geldwesen innewohnenden Gefahren für das Geschäftsleben nicht so ohne weiteres ersichtlich" (Polanyi 1978: 260f.). Polanyi hat vor allem die desaströsen Wirkungen der Deflation vor Augen. Denn da mit sinkenden Preisen auch die Profite sinken, komme es unweigerlich zur Krise und zu einer "massiven Zerstörung von Kapital" (Polanyi 1978: 261). Das war auf die Zeiten des Goldstandards bis in die 1920er Jahre gemünzt. Doch auch heute haben die liberalisierten Finanzmärkte verheerende Finanzkrisen ausgelöst, in deren Verlauf 20% bis mehr als 60% des Bruttoinlandsprodukts der betroffenen Gesellschaft vernichtet (d.h. von spekulativen Investoren abgezockt) worden sind (de Luna Martinez 2002). Banken- und Währungskrisen haben dann in aller Regel das gesamte Wirtschaftssystem der betroffenen Länder durcheinander gebracht und viele Menschen in Armut und Elend gestürzt. Einige haben sich dabei aber auch mit nicht immer legalen Methoden bereichern können. Geschichten von Betrug, Mord und Totschlag bei der Ausplünderung von Ländern kann man beispielsweise bei Partnoy (1998) oder Perkins (2005) nachlesen.
Die Teufelsmühle ist also nicht für alle Menschen in einer Gesellschaft in gleicher Weise zermalmend. Sie mahlt für einige auch hohe Gewinne in den Sack. Daher ist es abwegig, den sozialen Prozess der Entbettung als einen "Mechanismus" zu klassifizieren. Gegen die Teufelsmühle und ihre barbarisierende Wirkung, gegen die Umverteilung von Einkommen, Vermögen und Macht zu Gunsten des Kapitals sind immer soziale Bewegungen auf der Bildfläche erschienen, zur Verteidigung von Arbeit, Natur und Geld. Die Arbeiterbewegung hat gegen den Markt und seine Akteure Systeme der sozialen Sicherung, in allen Industrieländern dem Kapital den modernen Sozialstaat "aufgeherrscht", ihn erkämpft. Der Naturschutz wurde nach und nach durchgesetzt und teilweise zwischenzeitlich zur Staatsaufgabe deklariert. Zur Regulation des Geldes sind moderne Zentralbanken und Aufsichtsbehörden entstanden. Das sind gesellschaftliche und politische Gegenbewegungen, sozusagen "Sand im Getriebe" der Teufelsmühle entbetteter Märkte. Dies darf man sich nicht als einen "politischen Konjunkturzyklus" (Kalecki 1943/1974) vorstellen, als ein dauerndes Her und Hin zwischen Entbettung und Wiedereinbettung des Marktes. Es handelt sich um eine soziale Auseinandersetzung um soziale und ökonomische Rechte, die immer auch gegen den Staat, um den Staat und im Staat geführt wird. Die Strukturen von Ökonomie, Politik, Gesellschaft und die Klassenverhältnisse verändern sich in diesem historischen Prozess. Nichts ist reversibel und nichts wiederholt sich.
Das ändert nichts an der Berechtigung der Polanyischen Feststellung, dass liberalisierte Märkte zerstörerische Wirkungen haben und dass die Versprechen des Freihandels nichts als Ideologie sind. Die Welle der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung im Zuge der Globalisierung seit etwa Mitte der 1970er Jahre und verstärkt nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus kann als eine erneute "Revolution der Reichen gegen die Armen bezeichnet" werden (Polanyi 1978: 61). Diese hat eine gewaltige Umverteilung von Einkommen und Geldvermögen in allen Weltregionen zur Folge, eine enorme Zunahme der ökonomischen Macht großer Kapitale, die sich als "Investoren" camouflieren, die brutale Aneignung von Rohstoffen, von Land, von geistigem Eigentum, von anderen bislang öffentlichen Gütern durch deren Privatisierung. Es ist davon die Rede, dass die Praktiken aus der Zeit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals seit dem 16. Jahrhundert im 21. Jahrhundert fortgesetzt werden. David Harvey spricht von der "Akkumulation durch Enteignung" (Harvey 2005), David Moore nennt diese jüngste Entwicklung das "second age of the Third World", ein Zeitalter der Proletarisierung und der Privatisierung (Moore 2004) und - so müssen wir hinzufügen - der globalen Vermarktwirtschaftlichung als Prinzip. Die Macht der Zerstörung gewinnt Überhand. Das Mahlwerk der Teufelsmühle läuft wieder schneller. "Unbezahlte Mehrarbeit auf dem Vormarsch", überschreibt das DIW eine Untersuchung über Arbeitszeiten in Deutschland, die über die tariflichen Regelungen hinausgehen, und berichtet zugleich über den "wachsenden Niedriglohnsektor in Deutschland" (Anger 2006, Brenke 2006). Das ist nur ein Blitzlicht. Wenn man die soziale Landschaft gründlich ausleuchten würde, könnte man viele solcher Beispiele in allen Weltregionen für die zerstörerische Teufelsmühle finden.
Unternehmer und Krieger
Das wäre vielleicht hinzunehmen, wenn die Zerstörung wie Joseph A. Schumpeter darlegt, schöpferisch wäre. Kapitalistische Entwicklung ist in jeder Hinsicht "eine Geschichte von Revolutionen" (Schumpeter 1950: 137). Techniken werden revolutioniert, die Produktionsstruktur oder der "Inhalt des Arbeiterbudgets" (ebd.). Auch die Formen gesellschaftlicher Organisation, Machtpotentiale und -dispositive, gesellschaftliche Strukturen wandeln sich, sowohl national als auch global. Das gesellschaftliche Naturverhältnis und nicht zuletzt das Verhältnis von Ökonomie und Politik, von Markt und Staat werden im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung umgewälzt. Ähnlich wie neues Lernen nur möglich ist, wenn Altes vergessen wird, können Innovationen nicht umgesetzt werden, ohne dass "das Alte", das nicht mehr gebraucht wird und vielleicht sogar ein Hindernis der Entfaltung des Neuen darstellt, verdrängt, vernachlässigt, schließlich zerstört wird. Der Kapitalismus ist in den Methoden der relativen Mehrwertproduktion innovativ, aber Innovationen haben einen Preis. Die Wirtschaftsstruktur, so Schumpeter, wird "unaufhörlichÂ… von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue (geschaffen)." Und er fügt die Schlussfolgerung an: "Dieser Prozeß der ‚schöpferischen ZerstörungÂ’ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muß auch jedes kapitalistische Gebilde leben." (Schumpeter 1950: 137f). Für die ökonomische Theorie, so Schumpeter, folgt daraus, dass eine bloß statische Analyse und die Unterstellung einer stationären Wirtschaft völlig unzureichend sind. Die Analyse des Wirtschaftsgeschehens muss dynamisch sein (Schumpeter 1950: 138f) und dabei der Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Schöpfung, von Zivilisierung und Entzivilisierung Rechnung tragen. Das hat schon lange vor Schumpeter auch Marx erwähnt, vor allem in seinen Schriften über Indien. England habe, so führt er aus, "in Indien eine doppelte Mission zu erfüllen: eine zerstörende und eine erneuernde - die Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und die Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen Gesellschaftsordnung in AsienÂ…. Hat die Bourgeoisie jemalsÂ… einen Fortschritt zuwege gebracht, ohne Individuen wie ganze Völker durch Blut und Schmutz, durch Elend und Erniedrigung zu schleifen?" (Marx 1853b: 221-224).
"Schöpferische Zerstörung" ist ein positiv besetzter Begriff, weil damit der Unternehmer den haut gout des Ausbeuters ablegen kann und zum innovativen Schöpfer stilisiert wird - und Innovation ist die Mutter der Wettbewerbsfähigkeit. Das verstehen alle, auch der Ex-Bundespräsident Roman "Ruck" Herzog. In einer Rede auf einer Veba-Konzerntagung sagte er: "Wer Gesellschaften in einer solchen Situation von innen heraus revolutionieren kann, das hat ein anderer Ökonom, Joseph Schumpeter, beschrieben. Es sind die Unternehmer und die Manager, die durch Innovation die - wie er sagt - ‚schöpferische ZerstörungÂ’ des Althergebrachten betreiben, um Neues zu schaffen.(...) Dynamischer, gewissermaßen schumpetischer Unternehmer sein, ist und bleibt der kategorische Imperativ, die erste unternehmerische Verantwortung und Pflicht..." (Herzog 1996).
Schumpeter ist vorsichtiger als der ehemalige Bundespräsident. Er ist nämlich der Auffassung, dass "im ewigen Sturm der schöpferischen Zerstörung" (Schumpeter 1950: 143) durchaus Regeln greifen, nämlich in erster Linie "monopolistische Praktiken" (ebd.: 143ff). In der vollkommenen Konkurrenz kann der Schutz von Investitionen nicht gelingen, "die alten Investitionen (müssen) entweder unter Opfern angepasst oder aufgegeben werden" (ebd.: 157), und daher werden Innovationen eher ausbleiben, weil die Erträge zu ungewiss sind. "Die Einführung neuer Produktionsmethoden und neuer Waren ist bei einer von Anfang an vollkommenen - und ganz sofortigen - Konkurrenz kaum denkbar" (ebd.: 172). Erst die Großunternehmung kann mit ihren "monopolistischen Praktiken" den Prozess der schöpferischen Zerstörung gestalten und so "zum kräftigsten Motor (des) Fortschritts und insbesondere der langfristigen Ausdehnung der Gesamtproduktion" werden (ebd.: 174f). Innovationen benötigen Schutz, z.B. durch Patentierung, gegen die Unterstellung in der ökonomischen Theorie, dass nur die Konkurrenz wirtschaftlichen Fortschritt garantiere. Erst das Patent erlaubt die Aneignung dynamischer Unternehmergewinne. Dazu bedarf es eines Staates, der das Patentrecht durchsetzt und die "innovativen Unternehmer" schützt. Schumpeter hatte es zu seiner Zeit noch nicht mit einem finanzgetriebenen globalen Kapitalismus zu tun, in dem der "Shareholder Value" auch durch Betrug, Korruption, Raubzüge und nicht durch Innovationen in schöpferischer Zerstörung gesteigert wird. Denn die durch Deregulierung geschaffenen Freiräume können auch für Absahne und illegale bis kriminelle Machenschaften genutzt werden. Im Verlauf der Deregulierung der vergangenen Jahrzehnte ist ein Zustand der Konkurrenz hergestellt worden, den Schumpeter für gar nicht zuträglich für Innovationen hält. In den Worten von Makoto Itoh: "Capitalism seems to be running the film of history backwards by ‚melting downÂ’ the sustained trend of a century, and returning to an older stage of liberalism (zit. nach Glyn 2006: 23).
Den Prozess der schöpferischen Zerstörung treiben "dynamische Unternehmer" voran. Sie müssen Neues schaffen und zugleich zerstörerisch mit dem Alten umgehen. Als Promotoren dieser doppelten Aufgabe werden sie aus eben diesem Grunde nicht selten mit Kriegsherren verglichen, die die "Methoden des erfolgreichen Angriffs und der Abwehr" (Lay 1999) gelernt haben müssen. Der "Krieg ist der Vater aller Dinge" lehrte Heraklit im 5. Jahrhundert v.u.Z. Auch 26 Jahrhunderte danach gilt der "dynamische Unternehmer" als Schöpfer in der Zerstörung, als Partisan des Fortschritts, als Stratege auf dem Schlachtfeld des Marktes, als evolutorische Fortentwicklung des Homo sapiens erectus zum Übermenschen, zum CEO (Chief Executive Officer) im strategischen Spiel der Steigerung des Unternehmenswerts. Tatsächlich findet man diese martialische Sprache in der Manager- und Wirtschaftsliteratur. "Man muss Krieger sein", erklärt der Chef der Billig-Fluggesellschaft Air-Berlin dem "Manager-Magazin" in einem Interview (20.8.2004). Mit einem Titel wie "Business Krieger. Überleben in Zeiten der Globalisierung" (Bauer-Jelinek 2003) wird die Buchauflage zu steigern versucht. Zur Vorbereitung auf den harten Unternehmerjob müssen schon im Überlebenstraining die Fähigkeiten zu zerstören, ohne mit der Wimper zu zucken, gelernt, ja verinnerlicht werden. "Überlebenstraining für Manager" im tropischen Urwald soll hart machen, Bergsteigen für Führungskräfte im "Hochseilgarten" soll ihnen die Angst vor dem Absturz nehmen. Die Natur ist den dynamischen Unternehmern nur Trainingsgelände für ihre innovativen und daher zugleich zerstörerischen Praktiken. Die Zerstörung im Interesse der Innovationen und des wirtschaftlichen Fortschritts wird durchaus als Kriegsakt gegen gesellschaftliche Interessen, Bewegungen, Machtgruppen, politische Kräfte verstanden, die am Alten festhalten und es verteidigen. Verkrustungen gilt es aufzubrechen, und darüber gibt es einen breiten medialen Konsens.
Doch von Schumpeter wissen wir auch: Wenn bei diesen militanten Übungen zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit die sichernden Regeln außer Kraft gesetzt werden, werden Innovationen aus Gründen der Vorsicht entweder nicht unternommen oder die "innovativen Unternehmer" verwandeln sich in gemeingefährliche Hasardeure.
Interessanterweise betont Schumpeter jene sozialen, politischen und ökonomischen Sicherheiten, die die Akteure im Kapitalismus zur Innovation veranlassen. Planungssicherheit wird durch die große Unternehmung hergestellt, nicht durch die ungebändigte Konkurrenz auf dem Markt. Allerdings müssen auch die "monopolistischen Praktiken", die Schumpeter positiv wertet, kontrolliert werden. Denn es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass sie sich gegen die Gesellschaft wenden. Dann könnte es sein, dass nach der Zerstörung das Schöpferische ausbleibt. Schumpeter hat die schöpferische Zerstörung nicht nur als Gleichzeitigkeit synchron sondern vor allem als eine Aufeinanderfolge diachron verstanden. Das Schöpferische folgt aus der Zerstörung, es ist der Bruch der Zirkularität der tradierten Entwicklung, die kapitalistische Zivilisation macht Fortschritte. Doch ist die Annahme dieser Stufenfolge realistisch? Realistischer bei der Einschätzung kapitalistischer Entwicklung ist eine vorwiegend synchrone Betrachtung der Gleichzeitigkeit von Zivilisierung und Zerstörung. Hier kommt zweifelsfrei die Dialektik der Aufklärung zum Tragen, die Licht- und Schattenseiten des Projekts der Moderne, so wie es der Maler Francisco Goya zeichnete: "Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer".
Von globaler Inwertsetzung zum "prepaid capitalism"
Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts sprengen die feudalen Fesseln, die Ordnung des Zunftwesens, die Jahrhunderte lang dafür gesorgt haben, dass die Gesellschaft die Ökonomie dominierte und deren Dynamik den langsamen gesellschaftlichen Entwicklungen unterordnete. Erst in der "Great Transformation" (Polanyi 1978) zur kapitalistischen Marktwirtschaft werden jene Freiräume geschaffen, die ein funktionierender Markt benötigt. Nun ist der Kapitalismus unvergleichlich dynamischer als die vorkapitalistischen Gesellschaften. Dies zeigen schon die wirtschaftlichen Wachstumsraten, die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von jährlich ca. 0,2% in den Jahrhunderten zuvor auf mehr als 2% im Durchschnitt der nachfolgenden 200 Jahre verzehnfachen (Daten nach Maddison 2001). In quantitativen Größen gemessen steigt tatsächlich "der Wohlstand der Nationen", aber zugleich wird auch die Ungleichheit in den Nationen und zwischen den Nationen größer. Da sich die neue kapitalistische Dynamik vor allem der Industrialisierung und dem massenhaften Einsatz fossiler Energieträger verdankt, und Wachstum in der Zeit immer auch mit der Expansion im Raum einhergeht, wird der "Umweltraum" beansprucht und schließlich überbeansprucht. Die globale Umweltkrise hat inzwischen alle Sphären des Planeten Erde ergriffen, die Biosphäre infolge der Beeinträchtigung der Biodiversität ebenso wie die Atmosphäre wegen des Treibhauseffektes oder die Hydrosphäre aufgrund der Verschmutzung aller Gewässer, und sie ist dafür verantwortlich, dass die ökonomischen Kosten des Wachstums inzwischen steigen. Die Zerstörung ist also nicht immer kreativ, die unternehmerische Befolgung des "kategorischen Imperativs" der Innovation durch "schöpferische Zerstörung" resultiert in der "Zerstörung der Schöpfung".
Diese Geschichte der Zivilisierung und Entzivilisierung des Kapitalismus lässt sich auch in der Geschichte des Kolonialismus und des Imperialismus wiederfinden. Rosa Luxemburg hat die extrem ausbeuterische Wirkung der Kolonialsysteme vielleicht am eindruckvollsten dargestellt (vor allem in: Luxemburg 1975a). Der Grund ist möglicherweise der theoretische Fehler Rosa Luxemburgs bei der Interpretation der Marxschen Reproduktionsschemata im zweiten Band des "Kapital". Sie ging davon aus, dass der produzierte Mehrwert im Falle der erweiterten Reproduktion nicht vollständig durch die Käufe der Arbeiter- und Kapitalistenklasse realisiert werden könne. Es bleibe ein überproduzierter Rest. Daher ist der Kapitalismus "auch in seiner vollen Reife in jeder Beziehung auf die gleichzeitige Existenz nichtkapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen" (Luxemburg 1975a: 313f), die die Realisierung des Mehrwerts besorgen und so die Akkumulation des Kapitals in Gang halten. Das Kapital kann gar nicht "ohne die Produktionsmittel und die Arbeitskräfte des gesamten ErdballesÂ… auskommen, zur ungehinderten Entfaltung seiner Akkumulationsbewegung braucht es die Naturschätze und die Arbeitskräfte aller Erdstriche." (Luxemburg 1975a: 314) Wie sich das Kapital die Erde unterordnet, ist Gegenstand der Darstellung der "geschichtlichen Bedingungen der Akkumulation" im 27. bis 32. Kapitel in der "Akkumulation des Kapitals" aus dem Jahre 1913 (Luxemburg 1975a: 316-411). Der theoretische Fehler veranlasst also zu einer umfassenden historischen Darstellung kapitalistischer Expansion, der Inwertsetzung im Sinne der Integration aller Räume in den Prozess kapitalistischer Wertbildung und Verwertung.
Darin wird eindringlich und überzeugend in einer großartigen und leidenschaftlich geschriebenen historischen Skizze geschildert, wie die Naturalwirtschaft bekämpft, also das nicht-kapitalistische Milieu zugleich genutzt und dabei zerstört (27. Kapitel) und wie die Warenwirtschaft auf den Trümmern der Naturalwirtschaft eingeführt wird (28. Kapitel). Märkte werden häufig mit militärischer Gewalt (wie in den so genannten "Opiumkriegen" in China) geöffnet. Auch hier zeigt sich wieder der politisch-ökonomische Machtkomplex, der das Kolonialsystem trägt. Auch stellt sie dar, wie die Bauernwirtschaft und andere Formen der Subsistenzökonomie vernichtet (29. Kapitel), wie durch internationale Anleihen Länder ausgeblutet und in Abhängigkeit von den imperialen Mächten gebracht werden (30. Kapitel). Dann geht es darum, wie mit Schutzzöllen und gleichzeitiger Freihandelsrhetorik die imperialistischen Kernländer ihre Wirtschaft schützen und andere Ökonomien öffnen, um sie in den globalen Akkumulationsprozess, in ihren politischen und ökonomischen Herrschaftsbereich zu integrieren (31. Kapitel). Dabei spielt die Gewalt eine herausragende Rolle (32. Kapitel), und daher begleitet der Militarismus "die Schritte der Akkumulation in allen ihren geschichtlichen Phasen" (Luxemburg 1975a: 398) Es ist eben nicht möglich, die Einbeziehung des "nichtkapitalistischen" Milieus in das imperialistische, in das kapitalistische Weltsystem zu erörtern, ohne dabei die Rolle von Politik und Staat zu berücksichtigen. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen, weil im Zuge kapitalistischer Akkumulation - anders als Rosa Luxemburg meinte - immer wieder Menschen und Gesellschaften exkludiert werden: die informell und prekär Beschäftigten, die Menschen, die aus den monetären Kreisläufen ausgeschlossen sind, weil sie über kein Geld verfügen, und die aus den globalen Kreisläufen ausgesonderten Regionen. Also geht es nicht nur um Enteignung, sondern auch um Exklusion und obendrein um die Belastung mit den negativen Externalitäten des kapitalistischen Produktionsprozesses, insbesondere mit den Zerstörungen der Umwelt (vgl Hallowes/Butler 2005, die diese Unterscheidung explizit treffen).
Die Integration von nicht kapitalistischen Räumen und Menschen in den kapitalistischen Akkumulationsprozess durch die Mechanismen des Marktes, des Geldes und des Kapitals wird begleitet von politischer Gewaltausübung, ebenso wie die soeben erwähnte Exklusion in aller Regel nicht nur mit ökonomischen Mitteln erfolgt sondern politisch bewirkt wird. Die Inwertsetzung, also die Einbeziehung in die Welt der Werte, ist ohne den Staat gar nicht möglich. Die "Freiheit" des Arbeiters, seine Ware Arbeitskraft auf dem Markt anbieten zu können, erfordert die andere Freiheit, die von den Produktionsmitteln, weil durch den Staat daran Eigentumsrechte an Kapitalisten vergeben wurden. Eigentumsrechte gründen daher in aller Regel nicht auf Arbeit (wie John Locke schreibt), sondern sehr häufig auf gewaltsamen Prozessen der Enteignung. Selbst die liberalen Vertreter eines minimalen Staates halten die Vergabe und Sicherung privater Eigentumsrechte für eine öffentliche Aufgabe. Ausbildung und Schutz der Arbeitskraft gegen Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und im Alter sowie andere öffentliche Güter und Dienste hingegen werden mehr und mehr privatisiert. Die öffentliche Hand zieht sich also aus der Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit Gütern und Diensten der Daseinsvorsorge zurück, überlasst dies privaten Unternehmen, die die Bürgerinnen und Bürger mit politischen Rechten gegenüber dem Staat als Konsumenten bedienen, aber nur dann, wenn diese auch über die notwendige Kaufkraft verfügen, um das Angebot der Güter und Dienste der Daseinsvorsorge auf dem Markt profitabel zu machen. Wenn der Staat bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern, d.h. von "allgemeinen Produktionsbedingungen" (Marx) zurückgenommen wird, schwinden auch die Voraussetzungen für eine nachholende ursprüngliche Akkumulation, bei der der Staat historisch eine große Rolle gespielt hat (Moore 2004).
Statt dessen stützt der Staat den Prozess der Inwertsetzung durch private Aneignung öffentlicher Güter und von Ressourcen. Dabei werden auch (private) Eigentumsrechte gesichert, und daher widerspricht die liberal-neoliberale Auffassung vom minimalen Staat keineswegs der aktiven Ausübung der Staatsgewalt. Die Ultraliberalen, die am liebsten den Staat als Sozial- und Interventionsstaat abschaffen würden, sind auch jene, die ohne Wimpernzucken die Aneignung von Ressourcen - vom Öl im Irak bis zum Kabeljau vor Neufundland oder zum Coltan im Kongo militärisch betreiben. Das ist die unilaterale Methode des "neuen Imperialismus" (Harvey 2005). Parallel dazu werden multilaterale Strukturen einer internationalen Staatlichkeit durch internationale Organisationen, den IWF oder die Weltbank und die EU errichtet und ein Regelsystem geschaffen: Darin gehört die Privatisierung öffentlicher Güter zu den Kernelementen von "(global) good governance" (vgl. Soederberg 2006), der sich die Länder zu befleißigen haben, die auf Kredite angewiesen sind. Gutscheine für die Bildung, Kundenkarten für das Gesundheitswesen, vorausgezahlte Karten für den Wasserzähler, um das Wasser geliefert zu bekommen, bestimmen dann das Alltagsleben. Der Kapitalismus wird zum "prepaid capitalism", Es gilt nicht mehr die Regel des Warentausches "erst die Ware, dann das Geld", sondern die Macht und das Misstrauen verlangen "erst das Geld, dann die Ware". Der perverse prepaid capitalism wird total wie in vielen afrikanischen Ländern, wo sich die Menschen der totalen Inwertsetzung und Monetarisierung von elementaren Lebensbedingungen wie der Versorgung mit Wasser nur noch durch illegale Akte, also durch den Diebstahl von Wasser oder Energie, entziehen können - es sei denn sie revoltieren gegen dieses System einer "Akkumulation durch Enteignung" (Harvey 2005). Dies ist in Bolivien geschehen, und dort wurde denn auch von Präsident Morales im April 2006 die Privatisierung der Bodenschätze durch deren Nationalisierung rückgängig gemacht. Inwertsetzung durch Enteignung und den Übergang zu einem prepaid capitalism ist nicht eine erste Stufe in aufstrebender kapitalistischer Entwicklung, sondern Entwicklungsblockade, die noch dadurch höher wird, dass denjenigen, die sich am wenigsten zu wehren in der Lage sind, die "Externalitäten" der Entwicklung, die Umweltschäden und sozialen Kosten aufgebürdet werden. Am Beispiel der Ölförderung in Nigeria beschreibt Naomi Klein, wie für den Treibstoff der Autos die Natur des Niger-Deltas zerstört, die Menschen krank gemacht und sogar ermordet werden (Klein 2001: 388ff; 428ff).
Wie beim Zauberlehrling von Goethe verwandelt sich der "losgelassene Kapitalismus" (Glyn 2006), der wild gewordene Kapitalismus ("Capitalismo selvagem, bzw. salvaje" sind geläufige Begriffe in Lateinamerika) und der Privatisierungszauber des "prepaid capitalism" in unbändige Plage für die Menschen in den betroffenen Ländern. Nur gibt es keinen Zaubermeister, der den Spuk mit dem erleichternden Zauberspruch anhalten könnte "Besen, Besen seiÂ’s gewesenÂ…." Die Zähmung des Kapitalismus und seine Zivilisierung kann nur durch soziale Bewegungen gelingen, darunter die von den Barbaren des Geistes im "Merkur" abschätzig so genannten "Sozialisten des Herzens".
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Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Prokla - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft: 'Die 'Killing Fields' des Kapitalismus', Nr. 143, Juni 2006