Genozid und Versöhnung

Eindrücke von den Afrika-Filmen der Berlinale

Mit den Schwerpunktthemen "Fußball, Sex und Politik" lockten die diesjährigen Internationalen Filmfestspiele in Berlin (kurz: Berlinale).

Auf diesen Nenner brachte es zumindest der Leiter der Berlinale, Dieter Kosslick, der zugleich "mehr Inhalte, weniger Stars" und ein "politisches Festival" versprach. Dessen politischer Schwerpunkt war Afrika und ein afrikanischer Film gewann auch den Hauptpreis, den Goldenen Bären. Frühjahr 1994. Aus einem halb leeren Swimmingpool der luxuriösen Hotelanlage "Mill Collines" wird mit Eimern Wasser geschöpft, Wasser zum Trinken, weil kein anderes mehr vorhanden ist. Ringsherum sind Straßensperren aufgestellt und leblose Körper pflastern die Straßen. Das Hotel "Mill Collines" liegt im Zentrum der ruandischen Hauptstadt Kigali. Dies ist eine Szene aus dem Spielfilm "Hotel Rwanda" von Terry George, der, wie auch Raoul Pecks "Sometimes in April", den Völkermord der Hutu an den Tutsi behandelt, bei dem über eine Million Menschen umgebracht wurden. Beide Filme erzählen die Geschehnisse aus der Sicht von Familien, in denen die Ehemänner Hutu und die Frauen Tutsi sind. "Hotel Rwanda", außer Konkurrenz im Berlinale-Wettbewerb, greift die wahre Geschichte des ehemaligen Hotelmanagers Paul Rusesabagina (Don Cheadle) auf, der während der 100-tägigen Eskalation durch sein couragiertes Handeln über tausend Tutsi-Angehörigen das Leben rettete, indem er die Hoteltüren für die fliehenden Menschen öffnete. Während "Hotel Rwanda" einer linearen Erzählstruktur folgt und eher einem Heldenepos gleicht, ist der Wettbewerbsfilm "Sometimes in April" formal wie inhaltlich vielschichtiger angelegt. Der Film nimmt den Aspekt der Vergangenheitsbewältigung auf und schneidet so die Frage an, wie nach dem Völkermord Aussöhnung möglich ist. Formal wird die Vergangenheit durch eine vielschichtige Rückblendenmontage eingeholt, in der Einzelschicksale gezeigt werden und Dokumente sowie Spielszenen die Rolle der Clinton-Regierung offenbaren. In dem Film besucht der Lehrer Augustin (Idris Elba) 2004 seinen inhaftierten Bruder Honoré (Oris Erhuero), der sich vor dem UN-Tribunal verantworten muss. Die Anklage lautet Aufruf zum Völkermord. Honoré arbeitete 1994 als Radio-Journalist bei einem Propagandasender, der Hutu-Extremisten zum Morden aufhetzte. Die Massaker begannen bereits wenige Stunden nach dem Flugzeugabschuss am Abend des 6. April 1994, bei dem Präsident Habyarimana und sein burundischer Amtskollege Cyprien Ntaaryamira getötet wurden, als sie gerade von Friedensverhandlungen im tansanischen Arusha nach Kigali zurück kehrten. Der fast zeitgleiche Ausbruch der Gewalttätigkeiten zeugt davon, dass der Genozid von Regierung und Armee geplant war. Die Filme kritisieren zu Recht die Medien, die den Völkermord als Ergebnis jahrhundertealter Spannungen zwischen "verfeindeten Stämmen" und "als Ausdruck atavistischer Gewalt" werteten. (W-C. Peas: 163) Richtig ist vielmehr, dass ethnische und religiöse Spannungen und Konflikte nicht zu unterschätzen sind, aber solche Ideologeme eher eine Ressource bilden zur Mobilisierung für die Kriegsparteien. (vgl. H. Münkler: 8)

Kindersoldaten - Täter und Opfer

Ein Dokumentarfilm ruft einen weiteren vergessenen Kriegsschauplatz ins Gedächtnis: den Norden Ugandas, wo seit 18 Jahren ein Bürgerkrieg andauert. Der Film "Lost Children" beschäftigt sich mit der individuellen und sozialen Bewältigung der Vergangenheit. Die Filmemacher Ali Samadie Ahadi und Oliver Stoltz begleiten vier ehemalige Kindersoldaten (8-15 Jahre) bei der Suche nach ihren Eltern. Von den Milizen der Lord's Resistance Army (LRA) entführt und zu Soldaten abgerichtet, finden sie nach geglückter Flucht im Auffanglager der Caritas Schutz. Dort werden sie versorgt, psychologisch betreut und bei der Suche nach ihren Verwandten unterstützt. Die Kinder reden offen über ihre Taten, Ängste, Wünsche und Hoffnungen. Jennifer (15) hat fünf Jahre in der Armee zugebracht. Geraubt und vergewaltigt, kann sie heute nicht einmal mehr einfache Zeichnungen anfertigen; Kilama (13) und Francis (12 Jahre) leiden unter ständigen Albträumen. Auch die Rückkehr in ein familiäres Umfeld wird ihnen erschwert, wenn nicht gar verweigert. Die Familien haben Angst vor ihren eigenen Kindern und den Repressionen der Rebellen. Je ablehnender die kriegsgestörte Gesellschaft auf ihre zurückgekehrten und traumatisierten Kinder reagiert, um so eher kommt in diesen der Wunsch auf, wieder in den Busch zurückzukehren. Der Film verzichtet auf Bilder von Maschinenpistolen schwingenden Kindersoldaten. Er stellt sich auf die Seite der Kinder als Opfer, ohne ihre Taten auszublenden oder zu verharmlosen. Um einen Eindruck von den Gräueln zu vermitteln, werden nur kurz Bilder von geschändeten und enthaupteten Leichen gezeigt. Der Film über die ugandischen Kindersoldaten beschreibt nicht nur eine afrikanische Tragödie. Er lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die zu schützenden Rechte von Kindern, die entführt, entwürdigt und missbraucht werden; laut UNO wird die Zahl der Kindersoldaten weltweit auf 300.000 geschätzt. Rekrutiert werden sie, weil sie billiger sind, leichter zu manipulieren und sorgloser im Umgang mit Gefahren; zudem wird auf das Kalkül gesetzt, dass Blauhelmtruppen zögern, auf Kinder zu schießen.

Carmen in der Wellblechhütte

Die Filme haben eine klare Aussage: "Schaut nicht weg, sondern genau hin. " Und sie werfen Fragen auf: Hätte der Völkermord verhindert werden können? Welche politischen Instrumentarien müssen bereitgestellt werden, um Konflikte zu vermeiden oder zu entschärfen? Wie groß ist die Chance auf Versöhnung? Wie können Kinderrechte weltweit geschützt werden? Einen anderen Konfliktherd zeigt der Film "Arlit, deuxième Paris". Arlit, eine Stadt am Rande der Wüste im Norden von Niger, ist für viele Menschen Zwischenstation auf dem Weg durch die Sahara nach Europa. Aber häufig findet die Reise hier ihr vorläufiges Ende, weil das nötige Geld zur Weiterfahrt fehlt. In den siebziger Jahren war Arlit eine aufstrebende Stadt und galt als "zweites Paris". Die Uranvorkommen, die noch heute von der französischen Firma Cogema gefördert werden, zogen viele Arbeiter aus allen afrikanischen Ländern an und machte die Stadt zu einem sprichwörtlichen multiethnischen Schmelztiegel. Doch die Tuareg-Aufstände und der Preisverfall des Urans führten die Stadt an den Abgrund. Heute haben ihre BewohnerInnen kaum noch das Nötige zum Leben. Die Bilder des aus Benin stammenden Regisseurs Idrissou Mora-Kpai zeugen von Trostlosigkeit, Tristesse und Stillstand, wenn z. B. zwei Barfrauen vergeblich auf zahlende Kundschaft warten. Aber auch Krankheit und Tod bestimmen die Geschichten. Von offizieller Seite wird eine Verseuchung durch den Uranabbau geleugnet - und das, obwohl Minenarbeiter ohne Schutzkleidung mit dem radioaktiven Stoff hantieren. Aus Südafrika kommt der Film "Grietjie van Garies", mit dem die Regisseurin Odette Geldenhuys die lokal bekannte Sängerin Grietjie Adams porträtiert: eine 78 jährige schwarze Frau, aufgewachsen auf einer Farm in Garies in Namaqualand. Heute tritt sie auch auf lokalen Country-Festivals vor überwiegend weißem Publikum auf. Die etwas kauzige Grietjie singt ihre Lieder in Africaans, der Sprache der Apartheid. Im Laufe des Films wird dies immer selbstverständlicher, weil sich die energiegeladene Performerin Grietjie entschlossen hat, weder Opfer zu sein, noch sich dazu machen zu lassen. Der zweite südafrikanische Film "U-Carmen eKhyelitscha" ist mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet worden. Auch Mark Dorford-May kann sich dem Carmen-Mythos nicht entziehen, von dem sich schon zahlreiche Regisseure vor ihm haben inspirieren lassen. Dorford-May verlegt die Geschichte ins südafrikanische Township und lässt Bizets Oper in der Xhosa-Sprache singen. Das Spiel um Liebe und Hass, Eifersucht und Freiheit funktioniert auch zwischen Wellblechhütten. Aber auch hier muss Carmen am Ende sterben. Der Mythos hat seine Eigengesetzlichkeiten, die nicht umgangen werden können. Ob dieser Film, der weder stilistisch noch thematisch herausragend ist, den Goldenen Bären zu Recht bekommen hat oder nicht, sei dahin gestellt. Problematischer ist, dass ein "Schwerpunkt" Afrika mit nur acht Filmen dem Kontinent in seiner Vielschichtigkeit natürlich nicht gerecht werden kann. Maria Pins Literatur: Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Hamburg 2002 Wolf-Christian: Versöhnung nach dem Völkermord? In: Böhler/Hoeren (Hrsg.) Afrika. Mythos und Zukunft. Bonn 2002 aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 493/18.3.2005