Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte?

Um ganz simpel zu beginnen, mit einer einfachen Alltagsbeobachtung. Auch ohne den geringsten professionellen Anspruch befaßt sich doch jeder damit, ...

der heute vor einer Entscheidung in einer für ihn wichtigen Angelegenheit steht, und sich, bevor er sie trifft, zu informieren sucht, wie es gestern um diese Angelegenheit stand. Man meint, besser, richtiger und für die Zukunft erfolgverheißender entscheiden zu können, wenn man nicht nur den heutigen Stand der jeweiligen Sache kennt, sondern auch den gestrigen - ihre Geschichte. Heute und gestern sind natürlich nur Metaphern für Gegenwart und Vergangenheit. Denn wer so denkt wie eben angedeutet, verlangt Kenntnis der Vergangenheit, weit über den gestrigen Tag hinaus. Was wir heute gestern nennen, war gestern ja heute, mit den gleichen Impulsen für Fragen nach Vorhergehendem, wie jedermann sie heute stellt. Man braucht den Gedanken nur konsequent auszuziehen und ist beim Interesse für Vorgänge der Urgeschichte.

Es paßt vielleicht zu dieser einfachen Beschreibung von Geschichtsinteresse, daran zu denken, daß die Anfänge von Geschichtsschreibung ebenfalls sehr einfach waren und ganz praktischen Tagesbedürfnissen entsprangen. Man legte Verzeichnisse der Vorsteher des Staates und Kalender an mit Angabe der Gerichtstage, öffentlichen Feste, Spiele und dergleichen. Annalen entstanden, in Rom seit dem 4. Jahrhundert v.Chr., Bücher, in denen jahrgangsweise Begebenheiten in zeitlicher Reihenfolge aufgezeichnet wurden. Grundsätzlich von gleicher Art waren die Chroniken, die nicht von Jahr zu Jahr, aber doch innerhalb kleinerer Zeitabschnitte die Ereignisse ohne Rücksicht auf den ursächlichen Zusammenhang erzählten.

"Wünschenswerte Zukunft" - "Gebrauchsfähige Vergangenheit"?

Das so am Anfang von Geschichtsschreibung sichtbare Gegenwartsinteresse an der Feststellung vergangener Ereignisse blieb ein Grundmuster - nicht das einzige - der historischen Wissenschaft bis in unsere Tage. Vielfach differenziert natürlich und unendlich viel feiner und reicher als in der Annalistik. Nur zwei Zitate aus der überreichen Literatur mögen das verdeutlichen. Daß Geschichte mit dem Blick auf das Leben der Gegenwart betrieben werden solle, war die Meinung des Ranke-Schülers und Direktors der Preußischen Staatsarchive Heinrich von Sybel, in dessen Werk von einer Darstellung der Entstehung des deutschen Königtums bis zu einer siebenbändigen Geschichte der Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. die Fragen von Nation, Staat, Macht und großer Persönlichkeit dominierten. Er begründete 1859 die Historische Zeitschrift, das heute noch bestehende zentrale Organ traditioneller deutscher Geschichtswissenschaft, und betonte im Vorwort zur ersten Nummer, man wolle eine wissenschaftliche Zeitschrift gründen, schwebende Fragen der aktuellen politischen Entwicklung nicht behandeln und sich keiner politischen Partei verschreiben. Gleichwohl gebe es aber allgemeine Voraussetzungen, die das politische Urteil der Zeitschrift bestimmen sollten. Es folgte eine präzise politische Positionsbestimmung - gegen Feudalismus, Radikalismus und Ultramontanismus, ganz im Sinne übrigens der politischen Auffassungen Sybels, der viele Jahre hindurch als Abgeordneter der Nationalliberalen Partei dem Preußischen Abgeordnetenhaus angehörte. "Andererseits", so fuhr er fort, "wollen wir kein antiquarisches Organ gründen. Wir wünschen also vorzugsweise solche Stoffe oder solche Beziehungen in den Stoffen zu behandeln, welche mit dem Leben der Gegenwart einen noch lebenden Zusammenhang haben. Wenn es die höchste Aufgabe der geschichtlichen Betrachtung ist, die Gesetzlichkeit und Einheit alles Werdens und Lebens zu erkennen, so wird sich eine solche Erkenntnis nicht deutlicher ausprägen lassen, als durch den Nachweis, daß das Vergangene noch gegenwärtig ist und in uns selbst bestimmend nachwirkt."1

Sehr anregend sind Gedanken, die sich in unseren Tagen der liberale Hans-Ulrich Wehler, Protagonist sozialgeschichtlicher Geschichtsforschung, zu diesem Gegenstand gemacht hat. Im Vorwort einer Sammlung eigener Aufsätze, die er unter dem Titel Die Gegenwart als Geschichte herausgab, fordert er von der Geschichtswissenschaft, sich dem "unauflöslichen Nexus zwischen der vermeintlich toten Vergangenheit und der eigenen Lebenswelt" bewußt zu stellen.2 Diese gehe aus den weiter wirkenden Antriebskräften früherer Zeiten hervor, werde durch die überkommenen Grenzen, gescheiterten Projekte und verschütteten Hoffnungen vergangener Epochen eingeengt, arbeite sich an den Problemen ab, die ihr als Erbschaft langlebiger Konflikte und ungelöster Aufgaben vermacht wurden. Gleichermaßen eindringlich bringt Wehler auch die Kategorie Zukunft ins Spiel. Die Art und Weise, wie die Gegenwart durch die Geschichte geprägt wird, gestalte auch die Zukunft in einem hohen Maße mit. Offensichtlich", so fährt der konsequente Denker fort und betritt damit gefährliches Terrain, "kommen ... an dieser Stelle die normativen Leitvorstellungen des Historikers mit ins Spiel, im Lichte welcher wünschenswerten Zukunft er die Vergangenheit interpretiert und die Wirkung auf die Gegenwart beurteilt". Unwiderlegbar, so beruft er sich auf ein Diktum Wilhelm Diltheys, sei dessen erkenntnistheoretische Einsicht: "Was wir unserer Zukunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung der Vergangenheit".

Wenn ich von einem gefährlichen Terrain spreche, auf das Wehler sich hier begibt, meine ich die Selbstverständlichkeit, mit der er von der "wünschenswerten Zukunft" spricht, auf die hin der Historiker, auf dem Boden seiner normativen Leitvorstellungen, die Vergangenheit interpretiert. Die Beobachtung trifft zu, soll uns aber, vor allem im Blick auf ihre problematischen Aspekte, noch ein wenig näher beschäftigen. Diese treten noch deutlicher hervor, wenn wir dem Begriff der wünschenswerten Zukunft das Komplement einer "gebrauchsfähigen Vergangenheit" hinzufügen; eine Formel, die Michael Jeismann jüngst in seinem intelligenten Essay Auf Wiedersehen gestern gebrauchte.3 "Wünschenswerte Zukunft" - "gebrauchsfähige Vergangenheit": man zuckt schon zusammen, wenn Vertreter eines Berufs mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit, was doch das Prinzip von Objektivität einschließt, mit Begriffen hantieren, die so offensichtlich ganz beliebig, durchaus subjektiv, je nach unterschiedlicher Interessenlage, näher bestimmt werden können.

Normative Leitvorstellungen des Historikers, die nach Wehler dessen Interpretation der Vergangenheit bestimmen, gibt es gewiß und hat es immer gegeben - nur verdeckt der Begriff des Normativen die innere Schwierigkeit des Gedankens. Man denkt bei dem Wort sogleich an Norm, die Bezeichnung für eine verbindliche Regel mit allgemeinem Geltungsanspruch. Die aber kann es in unserem Falle nicht geben. Es sollte auch nicht versucht werden, sie aufzustellen. Einschlägige Erfahrungen sind eine eindringliche Warnung, wobei ich nicht zuletzt, aber keineswegs nur, an die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft der DDR denke.

Geschichtsdarstellung als Kunstprodukt

Die Grundschwierigkeit jeder Art von Beschäftigung mit der Geschichte liegt in der unübersehbaren, buchstäblich unendlichen Massenhaftigkeit der Fakten, Ereignisse und Zusammenhänge, die in ihrer Gesamtheit die Vergangenheit ausmachen. Es ist unmöglich, sie alle, oder auch nur einen großen Teil von ihnen zu erfassen. Der Historiker kann nicht anders, als jeweils nur einen kleinen Teil von Zeugnissen der Vergangenheit auszuwählen, versuchen, sie zu analysieren, und daraus das ihm richtig scheinende Bild vergangener Dinge zu konstruieren. Von einem merklichen Mißverhältnis zwischen dem Gange der Welt und dem Gange der Weltgeschichte spricht Schiller angesichts der Lücken in der Überlieferung. "Jenen, den Gang der Welt, möchte man mit einem ununterbrochen fortfließenden Strom vergleichen, wovon aber in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle beleuchtet wird".4 Jede Geschichtsdarstellung ist ein Artefakt, ein Kunstprodukt. Das gilt für jeden, gleichgültig welcher Leitvorstellung er folgt. Irgendeine Art von Leitvorstellung aber ist, notwendigerweise, bei jedem im Spiel, der daran geht, aus dem unergründlichen Meer der Vergangenheit herauszufischen, was ihm der näheren Betrachtung, Untersuchung und Darstellung wert erscheint. Das gilt auch für das elementare Motiv der Neugier, das den ehrlich Geschichtsinteressierten treibt, Dinge zu beschreiben, die bisher nicht beschrieben worden sind, oder Dinge anders zu beschreiben, als sie früher beschrieben wurden. "Jedes betrachtende Individuum", bemerkt Jacob Burckhardt, "kommt auf seinen Wegen, die zugleich sein geistiger Lebensweg sein mögen, auf das riesige Thema zu und mag dann seinem Wege gemäß seine Methode bilden".5 Jede Methode aber, fügt er hinzu, sei bestreitbar und keine allgültig. Angesichts so vieler unguter Erfahrungen mit diktatorisch oder gewohnheitsmäßig verordneten Geschichtsmethoden und -bildern kann die Grundwahrheit dieses Votums nicht nachdrücklich genug hervorgehoben werden. Ganz so einfach aber, wie die apodiktische Formulierung nahelegt, liegen die Dinge nicht, was uns zurückbringt zu dem Begriffspaar von wünschenswerter Zukunft und gebrauchsfähiger Vergangenheit.

Ein breites Spektrum tut sich da auf. Es gibt erstens die simple Fälschung. Die Königinhofer Handschrift ist eines von vielen Beispielen, jene Sammlung von Gedichten und Aufzeichnungen, die ein tschechischer Historiker anfangs des 19. Jahrhunderts als einen Fund von Zeugnissen aus tschechischer Heldenzeit im frühen Mittelalter präsentierte. Er hatte sie selbst fabriziert, erreichte aber für einige Zeit den erhoffen Effekt, eine Stärkung des tschechischen Nationalbewußtseins. Zweitens, in vielfacher Abstufung, die Tendenz der Verklärung, Verdammung, Betonung partikularer Interessen, und drittens die Situation mit einem neuen Geschichtsbild, ermöglicht und erfordert durch eine neue Gegenwart mit neuen Zielen. Ersteres können wir vernachlässigen, weil es nicht problematisch ist. So etwas hat es immer wieder gegeben, richtet unter Umständen auch beträchtlichen Schaden an, ist aber im Prinzip widerlegbar und bedarf keiner differenzierenden Überlegung. Falsch ist falsch. Anders ist es im Bereich der zweiten Kategorie. Schnoddrig hat kürzlich ein Journalist Geschichtsschreibung generell als "Erfindung der Vergangenheit durch Interessengruppen" definiert. In diesen, überaus häufigen Fällen ist genauer hinzusehen, wobei ich davon ausgehe, daß Erfindung der Vergangenheit nicht Erzählung von Märchen meint. Produkte interessengeleiteter Vergangenheitsbeschreiber sind m.E. nicht von vornherein als irrelevant für die Erforschung geschichtlicher Vorgänge abzutun. Nehmen wir das Beispiel einer großen, in ihrem Land und darüber hinaus einflußreichen Bank, die eine Gruppe von Historikern beauftragt, zu ihrem hundertsten Gründungstag eine Geschichte des Unternehmens zu verfassen. Die machen das, auch unter Verwendung ihnen zur Verfügung gestellter Bestände des sonst unzugänglichen Firmenarchivs, und legen eine Darstellung mit mehr oder weniger deutlich apologetischen Zügen vor. Die ist aber deshalb nicht einfach wertlos. Man wird die Arbeit, schon weil sie zumindest teilweise neue Quellen heranzieht, sorgfältig ansehen, ihre Thesen prüfen, das Apologetische, wenn man kann, widerlegen und gleichwohl die eine oder andere Mitteilung von Tatsachen finden, die man bisher nicht gekannt hat, und vielleicht auch Zusammenhänge zur Kenntnis nehmen, die man bisher so nicht gesehen hat, die aber geeignet sind, das eigene Bild zu bereichern. Ganz wichtig sind die unter drittens genannten Veränderungen des Geschichtsbildes, die nicht aus mehr oder weniger willkürlicher Interessensicht folgen, sondern sich aus objektiv faßbaren, grundlegenden Veränderungen gesellschaftlicher, politischer und sozialer Verhältnisse ergeben. Neue Perspektiven für die Zukunft öffnen sich, neue Orientierungen in der Gegenwart werden notwendig. Beides führt zu neuem Blick auf die Vergangenheit, weil die Menschen glauben, ein neues Bild der Vergangenheit zu brauchen, um den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft besser gerecht werden zu können. Zusammenhänge dieser Art hatte Goethe im Auge, wenn er es als zweifellos bezeichnete, daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, und zwar nicht, weil neue Tatsachen entdeckt wurden, sondern "weil der Genosse einer fortgeschrittenen Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf neue Weise überschauen und beurteilen lässt".6 An solche Umstände dachte Jeismann, als er von neuer, gebrauchsfähiger Vergangenheit sprach, einem neuen Blick auf die Vergangenheit, den die Deutschen, und zwar alle, nach dem Umbruch von 1989/90 brauchten.

Kann man aus der Geschichte lernen?

Kann man aus der Geschichte lernen? Voltaire hat die Frage rückhaltlos bejaht. Die großen Fehler der Vergangenheit, schreibt er in einer Abhandlung über die Nützlichkeit der Geschichte, seien in jeder Beziehung sehr lehrreich. "Man kann sich Verbrechen und Unglück nicht oft genug vor Augen halten - was auch darüber gesagt wird, beide lassen sich vorhersehen; die Geschichte des Tyrannen Cristiern kann eine Nation daran hindern, einem Tyrannen die absolute Gewalt anzuvertrauen; und die Katastrophe Karls XII. vor Poltawa mahnt einen General, nicht ohne Verpflegung in die Ukraine einzudringen". Er fährt dann fort mit der Anprangerung der Schandtaten der Kirche, der von den Päpsten begangenen Greuel: "Wenn man die Jugend nicht mit diesen Kenntnissen vertraut machen würde, ... dann wäre das Publikum immer noch so dumm wie zur Zeit Gregors VII. Die Schrecken jener Zeit der Unwissenheit würden unfehlbar wiederkehren, weil man keine Vorsichtsmaßregeln ergreifen würde, um sie abzuwenden ... Man schaffe das Studium der Geschichte ab, und man wird vielleicht eine neue Bartholomäusnacht in Frankreich und einen Cromwell in England erleben".7 Man hat das Studium der Geschichte nicht abgeschafft, und wir haben Schrecknisse erlebt und erleben sie jeden Tag aufs neue, die die Bartholomäusnacht und die Taten eines Cromwell bei weitem übertreffen. Gründlich hat uns die geschichtliche Erfahrung den naiven Glauben des großen Aufklärers an die Heilsamkeit geschichtlicher Lehren ausgetrieben. Niemand wird heute so argumentieren. Daß aus der Geschichte nur zu lernen sei, daß nichts aus ihr zu lernen sei, ist heute weitverbreitetes Urteil. Belege für diese These zu finden, fällt nicht schwer. Bemerkenswert aber, daß Rückgriffe auf Vergangenes wie eh und je als handlungsleitend für Gegenwart und Zukunft angesehen werden. Denken wir nur an die eigentlich doch erstaunliche, durchaus erklärungsbedürftige Tatsache, daß alle Seiten in großen Konflikten unserer Tage geschichtliche Erfahrungen für sich geltend machen, an häufig Jahrhunderte zurückliegende Ereignisse oder Zustände erinnern, um, immer wieder mit großem Erfolg, Anhänger für diese oder jene Haltung in gegenwärtigen Kämpfen zu mobilisieren. Da sind die Serben mit ihrer Erinnerung an die, noch dazu verlorene, Schlacht auf dem Amselfeld am 28. Juni 1389, an die zweimal in unserem Jahrhundert auf besondere Weise erinnert wurde: am 28. Juni 1914, als Franz Ferdinand ausgerechnet an diesem Tag zum Truppenbesuch nach Sarajewo kam, was die Attentäter zusätzlich motivierte, und am 28. Juni 1989, als Milosevic die Sechshundertjahrfeier zu einer leidenschaftlichen, bedrohlichen Demonstration serbischen Patriotismus und Chauvinismus nutzte. Aber auch die Iren, Protestanten wie Katholiken, die Israelis und Palästinenser seien genannt. Es macht keine Mühe, die Reihe fortzusetzen.

Die Antwort, die ich hier auf die Frage des Themas zu geben versuche, wird ein wenig anschaulicher, wenn ich die bisher angestellten allgemeinen Erörterungen ergänze durch die Besprechung von Erfahrungen und Schlußfolgerungen meiner eigenen, persönlichen Arbeit als Historiker. Die Frage, warum befaßt man sich mit Geschichte, provoziert natürlich die Gegenfrage: Wer ist "man"? Es gibt unendlich viele "mans", mit prinzipiell unendlich vielen Antworten. Und da die Beobachtung Burckhardts zutrifft, daß jedes Individuum auf seinen Wegen, die zugleich sein geistiger Lebensweg sein mögen, auf das riesige Thema zukommt, und seinem Wege gemäß seine Methode bildet, kann die schlüssige Antwort eines Historikers, der sich sein Leben lang mit Geschichte befaßt hat, nicht nur in allgemeinen Betrachtungen bestehen. Er ist aufgefordert, so scheint es mir jedenfalls, zu sagen und zu erklären, wie er es nun gehalten hat mit der Geschichte, warum und in welcher Absicht er sie betrieben hat und zu welchen Ergebnissen er dabei gelangte. Nicht um irgendwelche Muster auszubreiten, will ich das im folgenden versuchen, sondern mit der Absicht, ein Beispiel zu zeigen für mögliches Verhalten zur Geschichte, eingenommen natürlich nicht nur von diesem Einzelnen; ein Verhalten, dessen genauere Betrachtung uns auch zu einigen der allgemeinen Beobachtungen zurückführen wird, von denen wir bisher sprachen.

Warum ich mich der Geschichte verschrieb

Ich kam 1945 aus dem Krieg, den ich drei Jahre lang als Soldat mitgemacht hatte, 21 Jahre alt, aufgewachsen in einer antinazistischen Familie - nicht im aktiven Widerstand. Wie viele Deutsche meines Alters bewegte mich der brennende Wunsch, daß die Zukunft anders sein sollte, besser als das, was endlich hinter uns lag. Auf tätiges Interesse an Politik und Zeitgeschehen hingelenkt seit der Kindheit durch das Vorbild von Vater und Pflegevater - der Vater war 1936 verstorben -, wollte ich mittun bei der Arbeit für eine wünschenswerte Zukunft. Es war ein logischer Gedanke, daß man das Böse und Falsche, das nun hinter uns lag, nur wirklich überwinden konnte, wenn man wußte, wie es dazu gekommen war, wo seine Wurzeln lagen. Deshalb habe ich Geschichte studiert. Es schien mir nützlich und notwendig, die Vergangenheit zu befragen nach Handlungen, Haltungen und Tendenzen, die letztlich zum Faschismus geführt hatten, wie nach solchen, die dieser Richtung entgegengestanden hatten. Wußte man darüber besser Bescheid, so dachte ich, könnte man aus der Vergangenheit lernen für eine bessere Zukunft. Wie selbstverständlich, ohne jeden theoretischen Anspruch, dachte ich in Vorstellungen, die uns vorhin mit den Begriffen von wünschenswerter Zukunft und gebrauchsfähiger Vergangenheit beschäftigt haben. "Wir studieren die Vergangenheit, um die Gegenwart besser zu verstehen und die Zukunft besser zu gestalten" - dieser Satz, den ich von meinem Lehrer Alfred Meusel häufig gehört habe, schien mir eine einleuchtende, gültige Devise für Denken und Handeln. Den Rahmen für beides fand ich, vorbereitet darauf durch antinazistische, im zweiten Elternhaus linke Erziehung, im Gedankengebäude des Marxismus.

Daß die Geschichte aufzufassen sei als eine Abfolge von Kämpfen interessengeleiteter Klassen, deren Handeln aus ihrer je verschiedenen materiellen Situation zu erklären sei, daß die Spaltung jeder Nation in Herrschende und Unterdrückte auf spezifischen Ausbeutungsmechanismen beruhte, die ökonomisch zu analysieren und zu erklären seien, daß Kriege nicht für die erhabenen Prinzipien von Nation und Vaterlandsverteidigung geführt wurden, sondern in Wahrheit für die Festigung und die Ausweitung der Macht von Herrschenden, daß die stets und überall Unterdrückten berufen und in der Lage seien, die Macht der Herrschenden zu stürzen und damit nicht nur die eigene Unterdrückung zu beenden, sondern die Voraussetzung zu schaffen, daß alle Menschen in Frieden und Freiheit leben konnten: all das erschien mir eine großartige Vision, geeignet als Wegweiser im Studium der Geschichte wie auch im Handeln in der entschiedenen Wende, einer tiefgreifenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die in Deutschland so offensichtlich anstand. Ich habe mich als marxistischer Historiker verstanden.

Marxistischer Geschichtsauffassung, wie ich sie verstand, waren Hauptthemen meiner wissenschaftlichen Arbeit verpflichtet:

- der Kampf maßgeblicher Teile von Großfinanz und Großindustrie gegen die demokratische Republik und ihre entscheidende Mitverantwortung für die Übertragung der Macht an Hitler im Januar 1933. Beizutragen mit den Mitteln des Historikers an der Begründung einer Zukunft, die man sich ohne die gesellschaftliche Macht dieser Schichten wünschte, war die offen ausgesprochene Absicht solcher Forschungen;

- die durchaus aktuellen Auseinandersetzungen um Krieg und Frieden, Rüstung und Abrüstung verbundenen Studien zur historischen Friedensforschung;

- vor allem aber die vielfältigen Arbeiten zu Geschichte und Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Der in der Zwischenkriegszeit vorherrschenden Tendenz der deutschen Geschichtsschreibung, in empörter Ablehnung des "Schandvertrags" von Versailles die deutsche Kriegspolitik zu verteidigen und die Schuld am Kriege ausschließlich den Gegnern Deutschlands zuzuschieben, sollte eine realistische Sicht entgegengesetzt werden, die Vorbereitung und Führung des Krieges aus Grundtatsachen der Klassenstruktur des Kaiserreiches erklärte. Das schien umso dringlicher, als die apologetische Tendenz der Zwischenkriegszeit in den ersten Jahren der Bundesrepublik noch höchst lebendig war.

Über "Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewußtseins"8 klagte Gerhard Ritter, als der Hamburger Historiker Fritz Fischer in den fünfziger/sechziger Jahren mit kritischen Arbeiten zum wilhelminischen Expansionismus hervortrat und sein großes Buch über den deutschen Griff nach der Weltmacht im Ersten Weltkrieg schrieb. Mehrheitlich reagierten seine Zunftgenossen mit empörter Ablehnung. Widerspruch erregte besonders die allgemeine und zutreffende Schlußfolgerung, die Fischer aus den Ergebnissen seiner Forschungen zog, daß nämlich die Aufdeckung von Denkformen und Zielsetzungen der deutschen Politik im Ersten Weltkrieg über diesen hinauswies, sein Buch also ein Beitrag zum Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg sei.

Vergleichbare Sensation machten Fischers Arbeiten in der DDR nicht. Daß Deutschland die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges trug, daß die Aufstellung weitreichender Kriegsziele wesentlich geprägt war durch die Interessen führender Wirtschaftskreise und daß die ausgreifende Kriegspolitik des deutschen Reiches nur eine lange vor 1914 von deutscher Politik und deutschen Eliten verfolgte Politik fortsetzte, die auch mit der ersten Niederlage 1918 nicht zu Ende war: Thesen dieser Art waren für uns weder wissenschaftlich neu noch politisch irritierend. Die Weltkriegshistoriker der DDR, einig mit Fischer in der scharfen Kritik an der friedensgefährdenden, ausgreifenden Aggressionspolitik der deutschen Reichsleitung, die damit in hohem Maße den Interessen mächtiger Wirtschaftskreise folgte, unterschieden sich von ihm in der Betonung der auf Seiten aller Beteiligten gegebenen Konstellation einer auf Machtausbreitung und ökonomischen Vorteil ausgerichteten Politik. Der Erste Weltkrieg - ein von allen Seiten für ungerechte, imperialistische Ziele geführter Krieg, so lautete die Grundformel unserer Arbeiten, die es gestattete, zu wichtigen Fragen des Zusammenhangs ökonomischer und politischer Interessen, der Verbindung von Innen- und Außenpolitik, von Kriegführung, Wirtschaft und Politik Forschungsergebnisse vorzulegen, die eine Bereicherung bisherigen Wissens darstellten. Ihre Wirkung wurde freilich durch die der DDR-Gesellschaftswissenschaft eigene Tendenz zur Dogmatisierung eingeschränkt. Sie wirkte auch in der Weltkriegsforschung - nicht gleichmäßig stark in allen Fragen, bei allen Autoren und im ganzen abnehmend im Laufe der Jahre.

In den letzten vierzig Jahren haben die Forschungen zum Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung erlebt. Es waren aber nicht nur weit mehr Historiker am Werk, sondern es vollzogen sich inhaltliche, konzeptionelle Veränderungen. Themen werden aufgegriffen und Quellen herangezogen, die in der bisherigen Forschung allenfalls marginal vorkamen. Über Nutzen und Grenzen von Alltagsgeschichte hat es eine Zeitlang heftige Auseinandersetzungen gegeben. Der Anspruch ihrer eifrigsten Verfechter, mit einer Geschichte von unten die bisher, wie argumentiert wurde, vorwiegend betriebene Geschichte von oben ersetzen zu können, stieß auf heftigen Widerspruch. Aufzuklären sei vielmehr gerade der "Zusammenhang zwischen popularer Biographie und gesellschaftlichen Strukturen, zwischen begrenzt wahrgenommenem Ereignis und zentralen staatlichen Entscheidungen, kurz: zwischen Mikro- und Makrogeschichte".9 Alltag im Kriege, des Soldaten an der Front und im Hinterland wie der Menschen in der Heimat, die Wechselbeziehung zwischen beiden, Wandel der Mentalität durch das Erlebnis des Krieges, Wissenschaft und Krieg, seine Wahrnehmung in der Erinnerung, die veränderte Rolle der Frau - aber dadurch auch die des Mannes - es sind neue, in der traditionellen Weltkriegsforschung, auch bei Fritz Fischer wie in der Weltkriegsforschung der DDR, nicht oder kaum beachtete Felder, auf die sich die Weltkriegsforschung ausgebreitet hat.

Kräftige Anstöße zu dieser Horizonterweiterung der Historiker kamen aus anderen Disziplinen, von Philosophen, Psychologen, Soziologen und Literaturwissenschaftlern. Ein eindrucksvolles Beispiel war der gedankenreiche Vortrag des Germanisten Bernd Hüppauf auf dem Kolloquium Geschichte als Literatur 1989 an der Freien Universität in Berlin. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit wurden dort auf hohem Niveau besprochen. Hüppauf sprach zum Problem der Darstellung des Ersten Weltkriegs. Zu wenig, merkte er an, sei die deutsche Geschichtswissenschaft bereit, den Ersten Weltkrieg jenseits von Fragen der Kriegsschuld und traditioneller militärisch-diplomatischer Geschichte auch in seiner Bedeutung für die Geschichte der modernen Zivilisation und das Selbstbewußtsein des 20. Jahrhunderts zu untersuchen Anders als frühere Kriege sei die Erschütterung des Ersten Weltkriegs auf einer fundamentalen Ebene erlebt worden. Die Gewalt des modernen technologischen Krieges und die Erfahrung einer prinzipiellen Disproportionalität zwischen seinen Zerstörungsmitteln und den legitimierenden Kriegszielen hätten zu einem Zerfall der kulturellen Sinnstrukturen geführt. Der Erste Weltkrieg nehme seine unvergleichliche Position in der Geschichte der Moderne dadurch ein, daß er als elementare Katastrophe und zugleich als Grundmuster der modernen Welt erfahren wurde.10

Das Plädoyer für eine entschiedene, bisherige Grenzen überschreitende Erweiterung der Weltkriegsforschung hin zu einer im weitesten Sinne kulturgeschichtlichen Zivilisationsgeschichte ist überzeugend. Die viel gebrauchte, nicht selten aber zur redensartlichen Floskel heruntergekommene Formel vom Ersten Weltkrieg als der Urkatastrophe des Jahrhunderts erhält so Inhalt und Kontur. Auch daß die Historiker sich daran gewöhnen sollten, daß das Medium der Sprache als Vermittlung zwischen realem Geschehen und der Erfahrung des Geschehens neue Gedanken des sogenannten linguistic turn verlangt, verdient Beachtung. Nicht zu folgen vermag ich freilich der radikalen Schlußfolgerung seiner Überlegungen, derzufolge eine Zivilisations-, Erfahrungs- oder Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs einen Begriff von Geschichtsschreibung voraussetze, in dem Geschichte als die sich verändernden Formen der Erfahrung von Wirklichkeit und nicht als Wirklichkeitswissen selbst aufgefaßt wird.11

Was geschehen ist, geschah wirklich

Es ist gewiß interessant, darüber nachzudenken, was es heißt, daß Historiker, wie gesagt worden ist, Texte über Texte über Geschichte schreiben und nicht Geschichte. Metaphorisch aufgefaßt kann die These nützlich sein, zwingt sie doch zur Prüfung des eigenen Tuns. Es führt aber in die Irre, zu einer Art von Beliebigkeit konkreter Wirklichkeit gegenüber, auf deren Aufhellung es doch letztlich ankommt, nähme man sie buchstäblich ernst und machte sie zur Grundlage der Beurteilung historischer Arbeit. Kaum ein Gegenstand wie ein großer Krieg, das ist wahr, eignet sich so zur interessengeleiteten Darstellung in Texten, die höchst unterschiedliche Erfahrungen wiedergeben. Die Versuchung ist groß, die Geschichte des Krieges zu schreiben als die Geschichte des Wandels der Erfahrungen in den Texten. Natürlich muß dieser Wandel studiert werden, wozu doch aber die seit langem geübte, subtile Kunst der Quellen- und Textkritik, die in jedem anständigen historischen Proseminar gelehrt wird, hinreichende Anleitung gibt.

Ich möchte an einem Beispiel aus der eigenen Arbeitserfahrung meine Kritik an der postmodernen Leugnung von historischem Wirklichkeitswissen kurz erläutern. Es gibt seit Beginn der neunziger Jahre in der nordfranzösischen Stadt Péronne, unweit der Stelle, wo im Juli 1916 die Sommeschlacht begann, ein Historial de la Grande Guerre, eine Kombination von Museum, internationalem Forschungszentrum und Tagungsstätte. Gerade an einem solchen Ort ist es die massive, überwältigende Präsenz von Vergangenheit, die den Historiker davor bewahren sollte, hinter den Berichten über die Vergangenheit diese selbst als nicht greifbar sozusagen aufzugeben. Da ist das dramatische Schicksal der Stadt selbst - beim Vormarsch 1914 von den Deutschen besetzt, 1916 am äußersten Rand des besetzten Gebiets fast unmittelbar betroffen von der Sommeschlacht, 1917 im Zuge der Frontbegradigung durch den Rückzug auf die sogenannte Siegfriedlinie nach schwerer Zerstörung von den Deutschen geräumt, im Frühjahr 1918 wieder erobert und endgültig befreit erst im Herbst desselben Jahres. Ganz sicher gibt es Berichte über diese Wendungen, die ganz verschiedene Erfahrungen mit und in ihnen wiedergeben, aus der Feder von Deutschen oder Franzosen, von Armen und Reichen, von Menschen, die viel gelitten haben, und solchen, die gut durchgekommen sind. Eigentlicher Gegenstand historischer Weltkriegsforschung müßte doch aber - ich kann es jedenfalls nicht anders sehen - die Untersuchung der tatsächlichen Vorgänge sein. Man kann doch wissen, wie viele Menschen unter welchen sozialen Umständen in Péronne 1914 lebten und wie viele 1918; wie viele Häuser zerstört wurden und wie viele unversehrt blieben; wie viele Menschen starben, krank wurden, an welchen Krankheiten; wie die Menschen sich ernähren und kleiden konnten; wie sich welche Individuen und welche Gruppen zu den wechselnden Autoritäten verhielten. Solche und viele andere Fragen können studiert werden. Schließlich die Schlacht selbst, die Sommeschlacht, eine der verlustreichsten und schrecklichsten des Weltkriegs. Auch sie wurde ganz unterschiedlich erfahren. Besucher des Memorials für die in ihr eingesetzten kanadischen Soldaten bekommen z.B. ein Faltblatt mit dem Bericht eines Divisionskommandeurs, unter dessen Befehl ein Regiment stand, das am ersten Tag der schlecht vorbereiteten Offensive von den Deutschen buchstäblich fast niedergemäht wurde. Sie hätten, preist der Kommandeur die Haltung der Soldaten, die er in den Tod gejagt hatte, Wunder an Heldenmut und Tapferkeit vollbracht und den Sieg nur deshalb nicht erreicht, weil Tote nicht mehr avancieren können. Erfahrungsberichte solcher Art, aus der Kriegszeit selbst wie in der wissenschaftlichen und belletristischen Literatur nach dem Krieg (denken wir in Deutschland an die Schriften von Jünger, Beumelburg, Schauwecker und vielen anderen) haben das Bild vom Krieg weithin geprägt. Eine andere Sprache sprechen die unendlichen Reihen von Gräbern der Gefallenen aus allen an der Schlacht beteiligten Nationen auf den Friedhöfen rund um Péronne; auch sie, wenn man will, ein Text - über Erfahrungen, die im Zentrum der Bücher von Henri Barbusse, Erich Maria Remarque oder Ludwig Renn stehen. Den Wandel von Erfahrungen zu studieren, ist unerläßlich, bekommt seinen Sinn doch aber nur, wenn der Bezug zu dem hergestellt wird, was tatsächlich vorgegangen ist. Und steht man nun bei Péronne auf der kleinen Anhöhe, von der sich ein etwa ein bis anderthalb Kilometer langer Geländestreifen überblicken läßt, auf dem von Juli bis November 1916 Tausende von Soldaten kämpften, bluteten und starben, in ständigem Wechsel von kleinem Geländegewinn und -verlust, so meint man, die Realität des Krieges förmlich vor sich zu sehen.

In Defence of History lautete der Titel eines bemerkenswerten Buches des britischen Historikers Richard Evans, das vor einigen Jahren unter dem Titel Fakten und Fiktionen auch in deutscher Übersetzung erschien. Es war eine leidenschaftliche Streitschrift, in manchen Aussagen vielleicht etwas überzogen, grundsätzlich aber meines Erachtens berechtigt, gegen die postmodernen Leugner der Objektivität von Geschichte. Die nur scheinbar simple Wahrheit seines letzten Satzes verdient Beachtung und Zustimmung: Die Vergangenheit, so lautet er, "ist wirklich geschehen, und wir können tatsächlich, wenn wir sehr gewissenhaft, vorsichtig und selbstkritisch sind, herausfinden, wie sie geschah, und einige haltbare Deutungen der Vergangenheit entwickeln".12 Ich denke, er hat recht, und möchte abschließen mit ein paar Überlegungen darüber, wie "man" als marxistischer Historiker heute über die Dinge urteilt, welchen Platz in der Deutung der Vergangenheit man der marxistischen Geschichtssicht einräumt.

Daß die Vergangenheit wirklich geschehen ist, war entschieden die Meinung von Marx und Engels, als sie in der Deutschen Ideologie (1845/46) zum ersten Mal ihre materialistische Geschichtsauffassung zusammenfaßten, in einer Auseinandersetzung mit dem Idealismus von Bruno Bauer und Max Stirner, die man - das Wortspiel ist gewiß gewagt - zur heutigen Kritik an postmodernen Theorien in Beziehung setzen könnte als Kritik an prämodernen Theorien. Mir leuchtet eine Geschichtsauffassung nach wie vor ein, deren Grundlage darin besteht, "den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform ... als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc., aus ihr zu erklären und ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkung dieser verschiedenen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann".13 Richtig hat Hans-Ulrich Wehler zu dieser "Generalthese des Historischen Materialismus" bemerkt, daß sie für sich genommen keine Aprioritäten setzt und keine mechanistische Basis-Überbau-Relation zuläßt.14

Und wenn dann, konzentriert und dezidiert formuliert in Texten wie dem Kommunistischen Manifest von 1848, dem Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 und EngelsÂ’ biographischer Skizze über Karl Marx von 1877, auf dieser Basis eine Theorie der Entstehung und Entwicklung von Klassen abgeleitet wird, deren Auseinandersetzung den Inhalt der Geschichte bilde, so sehen wir ein in sich stringentes Modell historischer Entwicklung, das seit Jahrzehnten seine produktive Erklärungskraft bewiesen hat. Bleiben wird die Vision von der menschlichen Gesellschaft als einer Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".15 Eine wünschbare Zukunft war hier formuliert, auf die hin Geschichte zu schreiben sei, aufklärerisch und emanzipatorisch.

Schwierigkeiten mit dem Kästchen "marxistischer Historiker"

Bei alledem habe ich heute Schwierigkeiten mit der Kategorie "marxistischer Historiker". Erstens, weil marxistische Geschichtswissenschaft durch das, was in der DDR als solche präsentiert und mit größtem administrativem Nachdruck durchgesetzt wurde, so heillos diskreditiert wurde. Wer sich heute in Deutschland als marxistischer Historiker bezeichnet, kann das nicht, ohne sogleich zu beteuern, daß er dabei ganz anderes im Sinne hat als den dogmatischem Marxismus-Leninismus vergangener Jahre. Zweitens aber - und dies ist ein Punkt, den ich heute schärfer sehe als früher (auch Historiker können und sollen aus der Geschichte lernen) - ist es ja nicht getan mit dem Hinweis auf Dogmatisierung einer reinen und schönen Wissenschaft durch Dummköpfe, Vulgarisierer oder gar Machtpolitiker, die ihre düstere Praxis durch den Schleier einer angeblich menschheitsbeglückenden Ideologie zu tarnen versuchen. Die Theorie selbst wies von Anfang an Defizite, Schwächen, Irrtümer und Fehler auf, die in mancher Hinsicht den Weg zur späteren Verzerrung ebneten - die übrigens, nebenbei bemerkt, lange vor Lenin begann. Nur wenige Beispiele für den insgesamt überaus komplizierten Zusammenhang seien hier angeführt.

Da empört sich Marx im November 1877 über einen Kritiker, der durchaus seine "historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln (müsse), der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden".16 Hatte er aber nicht selbst, zum Beispiel 1859 im "Vorwort", seine Geschichtsauffassung in einer Art beschrieben, die diesen Fehlschluß - wenn es denn einer war - zumindest nahelegte? Eine Umwälzung in der gesamten Auffassung der Weltgeschichte" habe Marx geschaffen, rühmte Freund Engels als sein größtes Verdienst.17 Und räumt Engels selbst, in den Altersbriefen an Mehring und Borgius mit ihrer Kritik an mechanistischer Basis-Überbau-Relation, nicht ein, daß eben dieser Fehler aus den Schriften der beiden abgeleitet werden konnte?18 Verhängnisvolle Folgen ergaben sich aus einem eklatanten Fehler der Marxschen Theorie, der Fehlbeurteilung der Lage des Proletariats in der bürgerlichen Gesellschaft. "Der moderne Arbeiter", heißt es im Kommunistischen Manifest, "statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevölkerung und Reichtum".19 Es bedarf keiner näheren Erläuterung, wie schädlich diese grundsätzliche Verneinung von Aufstiegschancen proletarischer Schichten unter kapitalistischen Verhältnissen für Theorie und Praxis der marxistisch orientierten Abeiterbewegung war. Mir scheint es interessant zu sehen, wie tief diese Fehleinschätzung saß. Opfer dieses Dogmatismus wurde sein Erfinder selbst. Die Geschichte der kapitalistischen Produktion, schrieb Marx 1881, "ist nichts weiter als eine Geschichte von Antagonismen, Krisen, Konflikten und Katastrophen. Schließlich hat sie aller Welt ... ihren reinen Übergangscharakter offenbart. Die Völker, bei denen sie in Europa und in Amerika den größten Aufschwung genommen hat, streben nur danach, ihre Ketten zu sprengen, indem sie die kapitalistische Produktion durch die genossenschaftliche Produktion und das kapitalistische Eigentum durch ... das kommunistische Eigentum ersetzen wollen".20 Ebenso realitätsblind war Lenin, der 1919 aus jedem kleinen Streik in Großbritannien folgerte, die europäischen Arbeiter seien für das Rätesystem gewonnen, und 1920, auf dem Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale, den deutschen Delegierten erklärte, die Offensive der Roten Armee in und durch Polen werde, sowie sie die deutsche Grenze erreiche, die revolutionäre Erhebung der deutschen Arbeiter auslösen. Marx wie Lenin irrten, womit die Sache aber nicht klar genug charakterisiert ist. Es waren Fehlbeurteilungen, die logisch aus dem dogmatischen Glauben an die Wahrheit der eigenen Theorie stammten. Man hatte doch gelernt und gelehrt, daß die Proletarier im Kapitalismus unterdrückt werden und im Prinzip immer, sicher aber in Krisenzeiten - und das waren natürlich Krisenzeiten - nur auf einen Anstoß warteten, um sich zu erheben. Radek brachte die Sache auf der IX. Gesamtrussischen Konferenz der Russischen Kommunistischen Partei im September 1920 auf den Punkt, als er Lenins Ausführungen über die Revolutionsbereitschaft der Arbeiterklasse Polens, Ungarns und Deutschlands, die man mit dem Bajonett nur zu kitzeln brauche, um sie zur Revolution zu bringen, mit dem Argument widersprach, der Genosse Lenin sollte sich etwas mehr Zeit nehmen, die Zeitungen dieser Länder zu lesen, um zu begreifen, wie unbegründet seine Hoffnungen sind.

Man sollte, scheint mir, auf die Einordnung in das Kästchen "marxistischer Historiker" verzichten, nicht zuletzt auch, um der Gefahr der in Zeiten realsozialistischer Geschichtsschreibung ständig geübten hochmütigen Ignorierung, wenn nicht Diffamierung jeder nichtmarxistischen, bürgerlichen", Geschichtswissenschaft zu entgehen, die den eigenen Horizont so bedenklich einengte. Unnötig zu betonen, daß dieser Verzicht nicht bedeutet, die grundlegenden Wahrheiten der Marxschen Geschichtssicht aufzugeben.

Warum und zu welchem Ende befaßt man sich mit Geschichte? Die fast unbeschwerte Sicherheit, mit der unsereiner vor einem halben Jahrhundert meinte, man brauche nur gründlich die Vergangenheit zu besichtigen, um die Gegenwart besser zu verstehen und die Zukunft besser zu gestalten, ist einem ziemlich abhanden gekommen. Die Vergangenheit erwies sich als weit komplizierter und schwerer zu entwirren, als gedacht - was nota bene eine ständige Erfahrung von Historikern jeglicher couleur ist -, die Gegenwart versteht man weniger denn je, und mit der Gestaltung der Zukunft hapert es beträchtlich. Außer Kraft gesetzt, bei aller Enttäuschung, finde ich die Formel gleichwohl nicht. Menschen befassen sich unermüdlich, immer wieder und immer von neuem mit Geschichte, und die Erwartung, damit etwas Nützliches zu tun für Gegenwart und Zukunft, ist als Motiv von vielen - nicht von allen, ich weiß - doch mit Händen zu greifen. Skeptisch soll man zu Werke gehen, gewissenhaft, vorsichtig und selbstkritisch, wie Evans mahnte. Wege und Methoden wechseln, Werkzeuge werden stumpf und müssen geschärft oder durch andere ersetzt werden. Bleiben aber wird, so hoffe ich, bei all dieser Beschäftigung mit den Menschen und ihrer Geschichte, die Leitidee, daß es menschlich zugehen solle unter ihnen, vernünftig und friedlich, solidarisch und gerecht, daß die Starken gezügelt und den Schwachen geholfen werden müsse. Das klingt ziemlich großartig. Haben wir nicht gehört, daß aus der Geschichte nichts gelernt werden kann? So treffend diese Bemerkung aber ist, so falsch ist sie doch eigentlich. Natürlich kann man aus der Geschichte lernen. Lassen Sie uns zurückkehren zum Anfang unserer Überlegungen, zur simplen Beobachtung des Alltags. Kennt nicht jeder von uns zumindest einen Menschen oder weiß wenigstens von ihm, der aus der Geschichte gelernt hat ? Die Schar dieser Lernbereiten und -fähigen zu vergrößern, sind Historiker auf der Welt. Zu diesem Ende studiert man Geschichte.

Anmerkungen

1 Zit. nach: Fritz Stern (Hg.), Geschichte und Geschichtsschreibung. Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 1966, S. 175f.

2 Hans-Ulrich Wehler, Die Gegenwart als Geschichte, München 1995.

3 Michael Jeismann, Auf Wiedersehen gestern, Stuttgart/München 2001, S. 11.

4 Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: Schillers Werke in fünf Bänden, Bd. 3, Berlin/Weimar 1974, S. 290.

5 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliche Studien. Historische Fragmente, hg. von Johannes Wenzel, Leipzig 1985, S. 21.

6 Goethes Werke, 2. Abt.: Naturwissenschaftliche Studien, 3. Bd.: Zur Farbenlehre, Historischer Teil 1, Weimar 1893, S. 239.

7 Fritz Stern, a.a.O., S. 48f.

8 Gerhard Ritter, Eine neue Kriegsschuldthese? In: Historische Zeitschrift 194 (1962), S. 668.

9 Peter Knoch (Hg.), Kriegsalltag, Stuttgart 1989, S. 5.

10 In: H. Eggert, U. Profitlich, K.R. Scherpe (Hg.), Geschichte als Literatur, Stuttgart 1990, S. 207.

11 Ebenda, S. 212.

12 Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt a.M./New York 1998, S. 243.

13 MEW 3, S. 37f.

14 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Historiker, Bd. IV, Göttingen 1972, S. 85.

15 MEW 4, S. 482.

16 MEW 19, S. 111.

17 Ebenda, S. 102.

18 Vgl. MEW 39, S. 96ff., 205ff.

19 MEW 4, S. 473.

20 MEW 19, S. 397f.

Prof. em. Dr. Fritz Klein, Historiker, Berlin