Der kubanische Sozialrealismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts

In Kuba hat ein Begriff Konjunktur: Transition. Kuba durchläuft seit den neunziger Jahren ohne Zweifel Transitionsprozesse, die die Grundlagen der nachrevolutionären Gesellschaftsordnung erschütter

"Wir sind die Einzigen und es gibt keine Alternative."
(Fidel Castro, V. Kongress der PCC 1997)

Quedó bonito, pero se destiñe Ya no es lo mismo como cuando éramos niños,
Pioneros por el comunismo, misión cosmonautas ...
(Habana Abierta)

In Kuba hat ein Begriff Konjunktur: Transition. Kein sozialwissenschaftlicher Band über Kuba, sei er in spanischer oder englischer Sprache geschrieben, enthält nicht mindestens einen Titel zum Thema Transition. Das heißt aber nicht, dass unter dem Begriff durchgängig das Gleiche verhandelt würde. Während die Autoren des Exils in Miami bücherweise Abhandlungen über Transition to Market Economy, The way from plan to market oder Eastern Europe way verfassen und hoffnungsvoll die Chancen für ein demokratisch-kapitalistisches Kuba ausloten, wird der Begriff in Kuba selbst meist in Zusammenhang mit dem Adjektiv sozialistisch oder revolutionär gebraucht: Die Veränderungen, die die Gesellschaft durchläuft, werden in Hinblick auf das Ziel der Konstruktion des Sozialismus hin interpretiert, das 45 Jahre nach der kubanischen Revolution noch immer als Projekt gefasst wird.1

Kuba durchläuft seit den neunziger Jahren ohne Zweifel Transitionsprozesse, die die Grundlagen der nachrevolutionären Gesellschaftsordnung erschüttern. Diese Prozesse verlaufen jedoch keineswegs geradlinig, sondern oszillieren zwischen unumgänglichen Krisenreaktionsmaßnahmen und dem Primat der Aufrechterhaltung der Staatsmacht, was dazu führt, dass einige Reformen nach kurzer Einführung widerrufen werden. Daraus geht eine bemerkenswerte Ungleichzeitigkeit der Reformen auf den Ebenen Politik und Wirtschaft hervor: Während erzwungenermaßen die ökonomischen Reformen weitreichend sind, zeichnet sich die politische Struktur durch die Bewahrung sowohl der Strukturen als auch großer Teile der personellen Besetzung der Ämter aus. Die Bewahrung der politischen Macht und die Kontrolle über die Gesellschaft werden - neben der Aufrechterhaltung der nationalen Unabhängigkeit und als Mittel zu diesem Zweck - zum bestimmenden Ziel erklärt. Aus diesem Dualismus weitreichender ökonomischer Reformen vor allem im Devisensektor einerseits und dem Versuch, die politische Struktur ebenso wie die Binnenwirtschaft möglichst unverändert beizubehalten, erwächst vor dem Hintergrund der sozialen Differenzierung der Gesellschaft eine Dynamik, die Vorhersagen über den weiteren Verlauf des kubanischen Transformationsprozesses schwierig erscheinen lassen.

Alles muss anders werden ...

1990 erschien nichts unwahrscheinlicher als der Fortbestand des kubanischen Realsozialismus, der durch den Zusammenbruch des Ostblocks schlagartig seiner historischen Alliierten sowie ungefähr 85 % seines Außenhandels beraubt war. Die Insel in ihrer hochgradigen Importabhängigkeit - ein vom Kolonialismus ererbtes Strukturmerkmal, das durch die Integration in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, in dem Kuba als Zuckerlieferant im Austausch gegen Öl- und Industrieprodukte agierte und sich dadurch weder um die Entwicklung einer eigenen Industrie oder einer diversifizierten Exportstruktur noch über den Energieverbrauch Gedanken machen musste, verstärkt wurde - verlor 75 % ihrer Importkapazität.2

Um sowohl das kurzfristige Überleben als auch langfristig die erweiterte Reproduktion der Insel zu garantieren, verabschiedete die Regierung im Laufe des Jahrzehnts eine Reihe weitreichender Reformen, die fast alle zur Vorbereitung auf die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ausgerichtet waren. Die ersten Jahre waren geprägt von unmittelbaren Krisenreaktionsmaßnahmen wie der Dollarlegalisierung (1993), einer empfindlichen Rationierung des Konsums, der Wiedereröffnung der Bauernmärkte und der - beschränkten - Zulassung von privatwirtschaftlicher Tätigkeit (Arbeit auf eigene Rechnung, wie sie in Kuba euphemistisch genannt wird), allerdings auch der Öffnung für den internationalen Massentourismus. Ab 1994 richteten sich die Reformen stärker darauf aus, eine Grundlage für die Durchsetzungsfähigkeit Kubas unter den Bedingungen der Konkurrenz auf dem kapitalistischen Weltmarkt zu schaffen. Um Devisen zu beschaffen, legalisierte die Regierung 1995 ausländische Direktinvestitionen in Form von Joint ventures, die allerdings stark reglementiert bleiben und eine unkontrollierte Invasion durch ausländisches Kapital unwahrscheinlich machen. So werden sie von einem eigens dafür geschaffenen und dem Ministerrat unterstellten Gremium im Einzelfallentscheid zugelassen, setzen sich in der Regel aus 51% Anteil des kubanischen Staats und 49% ausländischer Beteiligung zusammen und haben begrenzte Vertragslaufzeiten. Die kubanischen Arbeiter werden über Brückenunternehmen beschäftigt, an die die ausländische Firma den Dollarlohn zahlt, von dem der Arbeiter einen kleinen Teil in Pesos ausgezahlt bekommt (ein durchschnittlicher Monatslohn in Kuba lag 2002 bei 260 Pesos, was bei einem seit zwei Jahren stabilen Wechselkurs von 1:26 ziemlich genau 10 Dollar entspricht) und zunehmend auch einen kleinen Dollarbetrag als Anreiz enthält: eine Tendenz, die vor allem in den exportwichtigen Bereichen zunimmt und mittlerweile 30% aller im Staatssektor Beschäftigten betrifft. Mit dieser Maßnahme sichert sich der Staat eine Deviseneinnahmequelle in Form des größten Teils des Lohns und verhindert zugleich eine abrupte soziale Differenzierung der Gesellschaft durch vergleichsweise hohe Einnahmen der Angestellten von Joint ventures. In Ausnahmefällen kann außerdem 100 % ausländischer Unternehmensbesitz legalisiert werden, was in der Praxis jedoch nur in einem einzigen Fall zur Anwendung gekommen ist.

1997 wurden drei Freihandelszonen (FHZ) geschaffen, die seitdem mit sehr liberalen Regulierungen Arbeitsplätze schaffen, Technologie anziehen und zum Ausgleich der negativen Zahlungsbilanz beitragen sollen. Wie stark die Gesetzgebung darauf bedacht ist, die zugelassenen Betätigungen zu lenken und nicht die Kontrolle über sie zu verlieren, zeigt sich zum Beispiel an den Restriktionen, die den FHZ auferlegt wurden. Diese begannen von den Vorzugsbedingungen Gebrauch zu machen und einen großen Anteil ihrer Waren ins Inland zu verkaufen, was das Vorhaben, die kubanische Zahlungsbilanz durch die hohe Exportquote der in den FHZ tätigen Unternehmen auszugleichen, zunichte machte. Daraufhin erließ die Regierung eine Gesetzesergänzung, durch die die Unternehmen in den FHZ verpflichtet werden, mindestens 75 % ihrer Waren zu exportieren.

Die Bankreform, die der neugegründeten Zentralbank BCC eine Reihe von Geschäftsbanken zur Seite stellt, schaffte die Grundlage für die Abwicklung von Geldgeschäften zwischen Unternehmen und dem Handel mit dem Ausland. Es wurden Steuern und Abgaben eingeführt. Darüber hinaus wurden die Preise erhöht. Insgesamt verringerten diese Maßnahmen die Geldmenge in den Händen der Bevölkerung und wirkten stabilisierend auf die Währung.

Im Land wurde ein mittlerweile über 5000 Läden verfügendes Netz von "Geschäften zur Wiedergewinnung von Devisen" (TRD) geschaffen, die dem Staat den Zugriff auf die aus den Auslandsüberweisungen oder sonstigen Dollareinnahmen stammenden Devisen in den Händen der Bevölkerung erlauben soll: Der kaufkräftigen Nachfrage wird ein Angebot von Produkten gegenübergestellt, deren Preise der Staat politisch festlegt (sie liegen deutlich über den Marktpreisen). Das entspannt die Versorgungslage, da in diesen Läden Waren verkauft werden, die es zuvor nur auf dem Schwarzmarkt gab, und es erhöht die Staatseinnahmen beträchtlich. Es trägt allerdings gleichzeitig zu ständig wachsenden Unterschieden in den Konsummöglichkeiten bei, da nur etwa 50 % der Kubaner regelmäßig über Devisen verfügen.

Deutlich schlägt sich die erzwungene Weltmarktintegration im Bereich der Produktion nieder - sowohl in der Neustrukturierung des Planungssystems wie in der Unternehmensreform. Die Reform der Staatsunternehmen, die "Unternehmensperfektionierung", soll das "sozialistische Unternehmen" hervorbringen und basiert weitgehend auf der Dezentralisierung der Verwaltung bei Beibehaltung der Planung der Gesamtökonomie und der Ausrichtung der Unternehmen auf Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit. Dies schließt alle Arten von Motivation zu Leistung bei der Arbeit ein, die sich stark an den (dankenswerterweise vom Kapitalismus schon ausprobierten) Techniken der Corporate Identity und materieller Anreize orientieren. Auch wird das Prinzip der finanziellen Eigenständigkeit eingeführt, das die Möglichkeit von Konkursen und Schließungen vorsieht, wobei allerdings auf die Neubeschäftigung der arbeitslos Gewordenen gesondert geachtet werden muss.

Die reformierte Planung verwendet fiskalische und monetäre Steuerungsmethoden und sieht nicht mehr die Koordinierung der gesamten gesellschaftlichen Produktion vor. Es wird lediglich die Summe der zu erwirtschaftenden Devisen und der Produktionsmengen für den (produktiven und konsumtiven) Verbrauch festgelegt. Man überlässt es aber den Unternehmen, bei welchen in- bzw. ausländischen Firmen sie ihre Produktionsmittel beziehen, was "sozialistische Unternehmen" in direkte Konkurrenz mit den Anbietern des Weltmarkts setzt. Diese müssen, wollen sie überleben, ihre Produktivität am Maßstab der kapitalistischen Unternehmen messen, die dort agieren; folglich müssen sie ihre Produktionsmethoden den kapitalistischen anpassen. Wie für alle Anbieter auf dem Weltmarkt, die unter Bedingungen von Produktivkraftrückstand produzieren und sich trotzdem einen international vergleichbaren Gewinn aneignen wollen (was langfristig eine ökonomische Notwendigkeit ist), muss die benötigte größere Arbeitsmenge durch einen geringeren Preis der Produktionsmittel ausgeglichen werden. Das können in einigen Fällen günstige Rohstoffe sein, im Regelfall aber handelt es sich um die Begrenzung der Löhne und des unproduktiven Konsums. Niedriger individueller Konsum und die Zunahme von Arbeitszeit und Arbeitsintensität sind dann die Bedingungen für die bloße Teilnahme am Welthandel; für die Aufholung eines Produktivkraftrückstands drängen sie sich mit noch größerer Gewalt auf. Zusätzlich erschwert wird den Unternehmen der Wettbewerb durch die Beibehaltung umfangreicher bürokratischer Vorschriften, die die Staatskontrolle über den Unternehmenssektor erhalten sollen, den Unternehmen aber massive Konkurrenznachteile bescheren.

Das Vorhaben der kubanischen Regierung, den Devisensektor dem Nutzen für den Ausbau der sozialistischen Gesellschaft unterzuordnen, wird daher kaum gelingen. Weit eher richtet sich der Kurs Kubas durch die (aufgrund der weltweiten politischen Isolierung unumgängliche) Integration in den Weltmarkt auf die schrittweise Liberalisierung der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Beziehungen - eine Integration, deren Konsequenzen im besten Falle durch umfangreiche Sozialmaßnahmen gemildert werden können. Eine Chance dazu besteht vor allem darin, dass die Transformationsprozesse in Kuba nicht wie in weiten Teilen Osteuropas mit einem gleichzeitigen Zusammenbruch der ökonomischen Ordnung und der politischen Macht einhergehen, sondern der Staatsapparat vollständig intakt fortbesteht und weitgehend die Kontrolle über die Reformen innehat.

Eine rasche Bildung von Kleinunternehmen, die, wie anfangs befürchtet wurde, die staatliche Kontrolle unterlaufen könnten und im Transformationsprozess bestimmend werden, hat nicht stattgefunden. Vielmehr behält der Staat trotz der Herausbildung eines solchen Sektors bislang weitgehend die Kontrolle über die Entwicklung. Dies erreicht er zum einen durch die Verschärfung der Gesetzgebung der legalen "Arbeit auf eigene Rechnung" - also durch Erhöhung der Steuern und Verschärfung der Auflagen, was viele der Kleinunternehmer zwingt, ihre Lizenzen zurückzugeben und sich wieder den illegalen Nebeneinkünften zu widmen (zu "erfinden", wie man auf Kuba sagt). Zum anderen werden Maßnahmen gegen eben diese Illegalitäten, wie Diebstahl am Arbeitsplatz (der in Kuba so verbreitet ist, dass die Buchführung der Unternehmen "Schwund" und "Verlust" als eigene Posten aufführen) oder das illegale Angebot von Dienstleistungen und Waren aller Art und in beiden Währungen, das vom Haareschneiden über Tanzkurse bis zu Prostitution, von Bananen über Baustoffe bis zu synthetischen Drogen reicht, eingeführt. Diese Erweiterungen der Strafmaßnahmen wirken als Repression einer gesellschaftlich nicht gelösten Problemsituation: Mindestens 80 % der Kubaner können von ihrem Lohn nicht leben,3 sind also, wenn sie nicht über Überweisungen aus dem Ausland verfügen (die eine Höhe angenommen haben, die die Nettoeinnahmen aus Tourismus und Zuckerexport übersteigt und damit zur Haupteinnahmequelle der Insel geworden sind 4), auf illegale Tätigkeiten angewiesen. Gleichzeitig fördert diese Situation die Korruption, die für die durch Schmiergeld nachsichtigen Ordnungskräfte eine zusätzliche Einnahmequelle darstellt und den Fortgang der weiteren Aktivitäten ermöglicht. Langfristig kann der Staat die Kontrolle über die gesellschaftlichen Prozesse nicht behalten (bzw. gewinnen), solange seine Bürger für ihr bloßes Überleben ständig gezwungen sind, seine Gesetze zu brechen, also illegal zu handeln.

... damit alles beim Alten bleibt

Bei all den Veränderungen, die die Insel wirtschaftlich und gesellschaftlich durchlaufen hat, ist der politische Apparat bemerkenswert unangetastet geblieben. Die kommunistische Partei Kubas bestätigte auf ihrem V. Kongress im Februar 1997 die Unumstößlichkeit des Einparteiensystems, das als "wichtigste Errungenschaft" der Revolution beschrieben wurde. Somit wurde der Machterhalt zum zentralen Ziel der politischen Praxis erklärt, da von ihm alles andere zentral abhänge, also die Sozialsysteme ebenso wie die nationale Eigenständigkeit der Insel. Fidel Castro bleibt Chefkommandant, Erster Sekretär der PCC, Vorsitzender des Ministerrats und des Staatsrats, sein Bruder Raúl Castro, zweiter Vorsitzender und Chef der Streitkräfte, wird als sein Nachfolger aufgebaut. Weiterhin besetzen eine Reihe loyaler Revolutionäre der ersten Stunde die oberen Posten des Staatsapparats, wie Ricardo Alarcón, Präsident des kubanischen Parlaments (Asamblea Nacional del Poder Popular), José Ramón Balaguer, Mitglied des Politbüros und langjähriges Mitglied der Ideologieabteilung des Zentralkomitees der PCC, Vilma Espín, Raúl Castros Frau und Präsidentin des kubanischen Frauenverbandes FMC - um nur einige Beispiele zu nennen - sowie einige jüngere, aber nicht weniger linientreue Personen wie der Außenminister Felipe Pérez Roque.

Die Gesellschaft zusammenhalten: Einheit und Unabhängigkeit als Basis der Regierungspolitik zu Beginn des neuen Jahrtausends

Nachdem die Parteikongresse der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts von der Parole gekennzeichnet waren, die Unabhängigkeit der Insel, die sozialen Errungenschaften und den Erhalt der politischen Macht als oberstes Ziel der Politik aufrechtzuerhalten, bestimmen in der Herrschaftsausübung vor allem nationalistische Appelle die Politik. Die Demonstration zum ersten Mai 2004 fand als "Verabredung mit dem Vaterland" statt, der kubanische Frauenverband tagt unter dem Motto "Vereint für das Vaterland", und es vergeht kein Tag, an dem nicht die heroische Tradition der Kubaner beschworen wird, die sich im Geiste ihrer nationalistischen Gründungsväter des 19. Jahrhunderts "bis zum letzten Blutstropfen" nicht ergeben würden.5 In einer groß angelegten Plakataktion ist in den ersten Monaten des Jahres 2004 an vielen Stellen in Havanna zu lesen: Revolution heißt: Einheit und Unabhängigkeit. Damit definiert die kubanische Regierung in ihrem 46. Jahr als das Wesen ihrer Politik die Verteidigung der Befreiung von der neokolonialen Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und die innere Geschlossenheit andererseits, die Abweichungen von der Parteilinie nicht zulässt. Einheit wird vorausgesetzt - und nicht als (mögliches) Resultat gesellschaftlicher Verständigungsprozesse und Konflikte verstanden. Zwar gibt es in der Diskussion einige Gruppen, die die Verhinderung von politischen Debatten für eine Schwächung des Staates halten, da sie nicht zu Unrecht feststellen, dass die Unzufriedenen sich außerhalb oder entgegen den offiziellen Strukturen orientieren würden, wenn man sie nicht integriere (eine Position, die z. B. der gegenwärtige Kulturminister und ehemalige Vorsitzende des kubanischen Künstler- und Schriftstellerverbands UNEAC Abel Prieto vertritt).6 Der Umgang mit den Räumen für die politische Reformdebatte bleibt jedoch unberechenbar und sprunghaft.

So wurde z. B. das Zentrum für Amerikastudien (CEA), an dem einige der wichtigsten Vertreter der Reformdebatte tätig waren und das in seiner Quartalspublikation Cuadernos de nuestra América zentrale Beiträge der beginnenden Reformdebatte veröffentlichte, 1996 personell komplett umbesetzt. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass das Zentrum begonnen habe, eigene politische Vorschläge zu machen, anstatt der Partei, der es direkt unterstellt ist,7 zu folgen 8.

Zeitgleich wurde die vom ZK der kommunistischen Partei herausgegebene Zeitschrift Cuba Socialista wieder neu aufgelegt. Statt Beiträgen über Partizipationsformen, Menschenrechte als Mittel der Außenpolitik und ihre Bedeutung in Kuba, über Wirtschaftsreformen und Ideologiedebatten erscheinen in dieser Zeitschrift Artikel, die im Wesentlichen der Vermittlung der Parteientscheide an das gebildetere Publikum dienen. Ein Raum für die Debatte der Transformationsprozesse, die das CEA geboten hatte, wurde so durch eine Neubesetzung und eine Wiederpublikation ersetzt, welche die unbedingte Ausführung der Parteilinie als Prinzip haben.

Aber nicht nur an diesem Beispiel kommt zum Ausdruck, dass eine Pluralisierung der Gesellschaft von staatlicher Seite nicht erwünscht ist: Die zentralen Fernseh- und Radiokanäle, die Parteizeitung Granma und die oft in weiten Teilen inhaltsgleiche Zeitung des kommunistischen Jugendverbands Juventud Rebelde und das Gewerkschaftsblatt Trabajadores bleiben Sprachrohre von Partei und Regierung. Die in ihnen vorgesehenen "Diskussionsforen" wie der täglich zur Vorabendsendezeit von mindestens vier Fernseh- und Radiokanälen live übertragene "informative runde Tisch" gleichen einer Ansprache, in der die Parteisicht auf die Weltsituation von verschiedenen Akteuren, die einander niemals widersprechen, dargestellt wird. Auch die handverlesenen Ausländer, die vereinzelt zu einem Beitrag eingeladen werden und mitunter, auf ihre Eindrücke von Kuba angesprochen, neben dem Lob der sozialen Situation etwa den Mangel an Freiheiten monieren, stören da nicht besonders. Ihre Bemerkungen werden einfach dezent übergangen.

Andererseits gab es in den 90ern einige Neuerscheinungen, die der Reflexion über den gesellschaftlichen Wandel Raum geben.9 Darunter ragt die seit 1995 erscheinende, umfangreiche Dreimonatszeitschrift Temas heraus, die von Rafael Hernandez (einem ehemaligen Mitglied des Zentrums für Amerikastudien) herausgegeben wird und die sich in ausführlichen wissenschaftlichen Artikeln inländischer wie auch ausländischer linker Autoren kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Themen widmet. Schwerpunktmäßig befasst sie sich mit Fragen wie den Tendenzen der ökonomischen Reformen in Kuba, den aktuellen Entwicklungen der kubanischen Musikszene, der Bedeutung des ersten Unabhängigkeitskriegs von 1868 oder dem Imperialismus im 21. Jahrhundert. Die Zeitschrift richtet sich vor allem an ein akademisches, sozialwissenschaftlich interessiertes Publikum, wird in Pesos verkauft und bleibt aber über einen beschränkten Kreis hinaus weitgehend unbekannt.

Es gibt auch einige Studienzentren, in denen ein kleiner Kreis Intellektueller Debatten über soziale Entwicklungen, ökonomische Reformen und die Rezeption eines "kritischen Marxismus" von Autoren wie Gramsci, Foucault, Adorno, Horkheimer und einzelner Theoretiker der französischen Postmoderne führt. In diesen Auseinandersetzungen geht es um Reformen zur Rettung und Verbesserung des gegenwärtigen Gesellschaftssystems, erweiterte Partizipationsformen und die Bewertung der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Dabei bewegen sich die Gespräche, zumindest soweit sie öffentlich stattfinden, streng in den Grenzen der Reform innerhalb des Systems.

Demonstration von Stärke nach innen und außen

Auf innenpolitisch brenzlige Situationen reagiert die Regierung durchgängig mit Demonstrationen ihrer Stärke.

Im Mai 2002 legte das von einigen im Inland fast unbekannten Oppositionellen (die in Kuba, da eine Opposition zum bestehenden System nicht vorgesehen ist, Dissidenten genannt werden) getragene Projekt Varela der kubanischen Nationalversammlung 11 020 Unterschriften vor und sammelte bis Anfang 2004 insgesamt zwanzigtausend Unterschriften für ein in der kubanischen Verfassung vorgesehenes Referendum über die politische Ordnung. Als Antwort darauf - aber ohne das Projekt zu nennen und auf seine Forderungen einzugehen - organisierte die PCC eine Abstimmung, bei der sie aufrief, den "sozialistischen Charakter" des Staates als unveränderlich in der Verfassung fest zu schreiben. Vom 15. bis 17. Juni 2002 waren die Bürger dazu aufgerufen, in den von den "Komitees zur Verteidigung der Revolution" (CDR - die Massenorganisation auf der Ebene der Stadtviertel) kontrollierten Wahlbüros ihre Stimme abzugeben: "öffentlich und freiwillig", wie es in dem einleitenden Zusatz, den das Gesetz zur Verfassungsänderung beinhaltet, heißt. Unter den Augen ihrer Nachbarn entschieden sich fast 8,2 Millionen Wähler (bei einer Gesamtbevölkerung Kubas von ungefähr 11 Millionen) dafür, den Zusatz zu bestätigen: bestimmt öffentlich, und eher mittelbar freiwillig.

Überhaupt sind Massenkundgebungen ein häufig verwendetes Mittel der Bestätigung der Einheit in Zeiten des Wandels. Nach den monatelang währenden Massenmobilisierungen für die Rückkehr des Flüchtlingsjungen Elián, dessen Mutter bei dem Versuch, mit einem Floß nach Miami überzusetzen, ertrunken war, erklärte die Regierung den "Kampf der Ideen" - eine groß angelegte Kampagne zur Schaffung von Identifizierung mit dem sozialistischen Kuba. Zentrales Element dieser Politik sind Massenveranstaltungen: "offene Tribünen der Revolution", in denen in genauestens geplanten Choreografien in allen Provinzen Vorträge über die Errungenschaften und Herausforderungen des kubanischen Sozialismus im 21. Jahrhundert gehalten und Kulturbeiträge dargeboten werden. Bevorzugtes Thema dabei ist derzeit die Kampagne zur "Befreiung der fünf Helden der Revolution aus den Eingeweiden des Monstrums", wobei es sich, aus der heroisierenden Vernebelung geschält, um fünf kubanische Informanten handelt, die sich zu Spionagezwecken (nach offiziellen Angaben: zur Terrorismusprävention) in den aggressiven Kreisen der Exilanten in Miami aufgehalten haben, entdeckt worden waren und in einem juristisch wohl anfechtbaren Prozess zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.10 Gegen das Urteil wurde Revision eingelegt. Seitdem vergeht kein Tag, an dem nicht der Heroismus der Fünf, das Leid ihrer Ehefrauen und die Unmenschlichkeit des imperialistischen Nachbarn in den Parteizeitungen, sämtlichen Radiosendern und Fernsehkanälen, als Vorfilm im Kino, auf Plakatwänden und in zahlreichen Reden beschworen wird.

Jedoch beschränkt sich der "Kampf der Ideen" nicht allein auf Kundgebungen: Neben zahlreichen Kulturveranstaltungen, Konzerten, der Eröffnung von Internetclubs und Videosälen für die Jugend, begünstigt die Kampagne vor allem Sozialprogramme wie die Renovierung von Schulen und Krankenhäusern durch Freiwilligengruppen, die Ausbildung von Sozialarbeitern, die Familien in sozialen Brennpunkten oder schwierigen Situationen beistehen sollen, in Schnell- und Abendkursen und die Ausweitung der universitären Bildung, deren Ansprüche zu diesem Zweck deutlich heruntergeschraubt werden, auf Gemeindeebene. Es handelt sich also um ein Programm, mittels dessen versucht wird, den aus der Krise hervorgegangenen sozialen und ideologischen Differenzierungsprozessen mit reintegrativen und identitätsstiftenden Maßnahmen entgegenzutreten. Ob dies allerdings gelingen kann, ist fraglich angesichts der fortschreitenden Differenzierungstendenz und der Tatsache, dass die künftige ökonomische Reproduktion des Landes auf den Austausch mit dem Ausland angewiesen ist. Der Massentourismus führt zur ständigen Präsenz kapitalistischer Konsummuster und lässt eine Gesellschaft, deren Homogenität durch die Abgeschlossenheit nach außen gesichert wird, nicht mehr zu.

Zwar hat der Staat weiterhin das Informationsmonopol inne, was den Zugang zu den ausländischen Medien erheblich behindert - es sei denn, es handelt sich um Berichte über die weltweiten Solidaritätsgruppen. Ausländische Zeitungen sind außer in wenigen Exemplaren zu sehr hohen Preisen in den Touristenhotels in Kuba nicht zu bekommen. Jedoch erlauben der - wenn auch streng reglementierte - Zugang zum Internet und der dadurch entstehende ständige Informationszufluss dem Staat nicht mehr, allein über die auf der Insel geltende Wirklichkeit zu entscheiden.

Diversifizierung der Gesellschaft

Die kubanische Gesellschaft ist in den Jahren der Krise nicht dieselbe geblieben: Die Allgegenwart des Staats als ökonomischem Akteur hat abgenommen, andere Akteure sind an seine Stelle getreten und haben andere Lebensentwürfe mit sich gebracht. Die Abstände zwischen den sozialen Gruppen sind größer geworden. Waren die 30 Jahre vor 1989 von der Nivellierung von Klassen- und Schichtunterschieden geprägt, brachten die Krise und die nachfolgende Umgestaltung der Gesellschaft eine erneute Schichtenbildung mit sich, die vor allem bedingt war durch den beginnenden Massentourismus und die nun entstehenden Arbeitsverhältnisse im Exportsektor, den Zugang zu Devisen durch die Überweisungen von den Exilanten und die Entstehung neuer Eigentumsformen wie den Kooperativen im Agrarsektor, den joint ventures und den urbanen Kleinunternehmern. Einerseits differenzierten sich die bestehenden Schichten aus, es entstanden aber auch neue Akteure. Dies hat Auswirkungen auf der Ebene der Einkommen: Lag bis Ende der 80er Jahre der (theoretische) Höchstunterschied zwischen den Einkommen im staatlichen Sektor (der 95 % der Beschäftigung ausmachte) bei einem Verhältnis von 1 : 5, schätzen einige kubanische Soziologen, dass sich dieser Abstand versechsfacht hat.11

Die klassische Triade aus Arbeitern, Bauern und Intellektuellen/ Bürokraten, mit der die kubanische Soziologie die realsozialistische Gesellschaftszusammensetzung beschreibt, verliert an Bedeutung. Hinzu kommt der Verlust der Integrationsfähigkeit des Staates durch das duale Währungssystem: Der Pesolohn reicht in einer Situation, in der bestimmte Produkte des täglichen Gebrauchs nur gegen Dollar zu erwerben sind, zur Deckung der Grundbedürfnisse nicht aus. Zwar sank die Arbeitslosigkeit nach offiziellen Angaben im Jahr 2003 auf ungefähr drei Prozent, nachdem sie 1997 zwischen sechs und sieben Prozent gelegen hatte. Die Straßen sind aber zu jeder Tageszeit voll von Menschen, die ihre legale Erwerbstätigkeit, die oft genug neben ihrer sozialen Seite vor allem die Möglichkeit bietet, Ressourcen abzuzweigen und diese "auf eigene Rechnung" zu verkaufen, auf informellen Wegen ergänzen. Ein großer Teil der Reproduktion der Gesellschaft findet jenseits der offiziellen (staatlichen, wie auch legalen privaten und gemischten) Ökonomie statt.

Auch kulturell nimmt die Vielfalt zu. Vor allem die mittlerweile fast zwei Millionen Touristen, die das Land jährlich besuchen, sowie der Zugang zum Internet bringen Produkte der weltweiten Kulturindustrie ins Land. Längst kann man auf jeder Party Madonna, Björk und Tatu hören, Markenkleidung beginnt im Straßenbild eine zunehmende Rolle zu spielen und die Schichten mit Zugang zum Dollarsektor heben sich auch optisch deutlich ab von denjenigen, die sich mit nationaler Währung einkleiden müssen.

Dies hat Folgen für die Massenkultur auf der Insel. Die traditionelle "neue Trova", der Gesang eines Barden zur Gitarre, die die nachrevolutionäre Gesellschaft selbstreflexiv, kritisch, affirmativ oder lyrisch begleitet hat, kämpft ein Rückzugsgefecht. In ihrer traditionellen Form hat sie ebenso stark an Raum wie an politischem Inhalt und politischer Bedeutung verloren. Viele der Texte der jüngeren trovadores zeichnen sich durch melancholische Selbstreflexion oder das Lob der Geliebten aus, sie haben sich auf private Themen zurückgezogen und führen ein Nischendasein. Außer in den Konzerten älterer trovadores wie Frank Delgado und Pedro Luis Ferrer, die unverändert kritische Texte singen oder bei den alten Aufnahmen des National-trovador Silvio Rodriguez findet man wenige explizit politische Texte oder gar Protestgesang. Zur Entpolitisierung trägt der Markt seinen Teil bei. Verpoppung ist eine wirksame Strategie, auf die gesellschaftliche Nachfrage zu antworten und zugleich die politische Brisanz von Kulturprodukten zu entschärfen: ein Mechanismus, der im Fall der von Polito Ibañez und Buena Fé zu Kommerzialisierung und Neutralisierung des kritischen Potenzials geführt hat. Beides sind aus der Trova stammende Künstler bzw. Gruppierungen, die mit stark politischen Alben begonnen haben, in denen sie die vom Staat ignorierte Marginalität aufgriffen, die täglichen Kargheiten beschrieben und die Forderung nach einem "Eckchen zum Leben" (Habana Abierta) dagegen stellten.

An den Rändern der gesellschaftlich vorgesehenen Räume entstehen neue, in der kubanischen Gesellschaft bislang (weitgehend) unbekannte, Bewegungen, wie die Rocker und die Rapper, in geringerem Maße auch eine Szene, die elektronische Musik produziert und konsumiert. Diese bringen jeweils eine eigene Kultur mit sich, die sich im Kampf zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und der Suche nach Konflikt und Eigenständigkeit bewegt, immer wieder Zensur und Repression ausgesetzt ist, aber zunehmend an Raum und Akzeptanz gewinnt.12

Bewegung an den Rändern der Stagnation

Sofern man in Kuba von einer gesamtgesellschaftlichen Stimmung sprechen kann, was aufgrund der Gleichzeitigkeit sich grundsätzlich ausschließender Wirklichkeitswahrnehmungen schwierig ist, überwiegt in der Gesellschaft der Eindruck der Stagnation, der Müdigkeit vom täglichen "Kampf", wie der Alltag von vielen Kubanern genannt wird - ein Eindruck, der mit der Angst vor dem ungewissen Verlauf der Transformation und der Überzeugung von der individuellen Machtlosigkeit diesen Prozessen gegenüber bei einem großen Teil der Gesellschaft zu Passivität und Rückzug ins Private führt. Man tut, was die Staatsorganisationen erwarten, aber nichts darüber hinaus. Und da diese auch mittlerweile weniger Ideen- als hauptsächlich Verhaltenspolizei sind - es geht nicht mehr wie in den 60er und 70er Jahren darum, ob der einzelne wirklich die Staatsideologie teilt, solange er ihr nicht zuwiderhandelt -, funktioniert diese Haltung. Es gibt aber neben der breiten politisch passiven Schicht der Bevölkerung auf der einen Seite und jenen, die sich ungebrochen der Aufrechterhaltung der Staatsinstitutionen widmen und ihre Losungen glauben, auf der anderen, zwei Gruppen, die sich von diesem Schema abheben: die einen, die sich in die aktive Phase des "nationalen Traums" begeben und ihr Denken und Handeln auf die Vorbereitung ihrer Ausreise konzentrieren, und dann die anderen: einige schmale Reformbewegungen im Bereich der Kultur wie in der akademischen Welt, die innerhalb oder außerhalb der offiziellen Institutionen an einer Veränderung des gegenwärtigen Zustands mitwirken wollen.

Symptomatisch für die momentane Situation ist die Entdeckung der Kultur für Aktivitäten sowohl der schüchternen Protestbewegungen, die als Rocker, Rapper und Religiöse Praktiken entwickeln und sich der normierenden Allgegenwart des Staates zu entziehen versuchen, als auch der offiziellen Institutionen. Vor der unleugbaren Gewalt der ökonomischen Veränderungen konzentrieren sich Staats- wie Reformkräfte auf die Kulturarbeit und den Kampf um Konzepte und Begriffe. Bei den Ökonomen geht es dabei um die Neukonzipierung eines Sozialismus, der Elemente des kapitalistischen Markts enthält. Es wird gesagt, die Gleichsetzung des Konzepts Markt mit Kapitalismus sei ein irriges Erbe des Kalten Krieges, zu dem die Vereinten Nationen mit ihrer Unterscheidung zwischen zentral geplanten und marktwirtschaftlichen Systemen entscheidend beigetragen hätten. Markt in seiner eigentlichen Bedeutung sei nichts weiter als "die Gesamtheit der institutionalisierten Mittel und Methoden, die zur Verteilung und dem Einsatz bestimmter Ressourcen dienen", heißt es z. B. in einem Text des kubanischen Ökonomen Julio Diaz Vazquez. Er fügt jedoch dieser Definition, in der jeder Unterschied zwischen Plan und Markt verschwindet, noch einige Unterscheidungsmerkmale hinzu. Der Markt soll nicht, wie es faktisch in Kuba geschehen ist, als ein "notwendiges Übel" und eine aufgezwungene, den sozialistischen Produktionsverhältnissen äußerliche Erscheinung beurteilt werden, sondern als Teil der sozialistischen Ökonomie. Es sei ein Fehler gewesen, den Sozialismus als "die erste warenlose Gesellschaft" zu betrachten. Er sei "im besten Falle die letzte der Warengesellschaften", schreiben drei kubanische Wirtschaftswissenschaftler 13 und zielen damit in die gleiche realistische Richtung wie die Reformprozesse des Devisensektors: Seit Kuba auf ein erfolgreiches Konkurrieren mit dem Weltmarkt angewiesen ist, kann man an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät "sozialistisches Marketing" lernen. An den Fakultäten wird den Studenten nun erklärt, dass Effizienz eine wesentlich sozialistische Tugend sei. Die Erfordernisse des kapitalistischen Weltmarkts werden so zu integralen Bestandteilen des Sozialismus umgebogen, was die fortschreitende Ausrichtung der kubanischen Wirtschaft auf internationale Wettbewerbsfähigkeit jedoch nicht kaschieren kann. Zugleich betonen die Reformökonomen entgegen der liberalen Theorie die Wichtigkeit der institutionellen Einbettung des Marktes und seiner politischen Kontrolle. Denn in Kuba soll ein "Markt im Sozialismus" bestehen: kleine Inseln kapitalistischer Praxis, die die Überlebensfähigkeit des Projekts garantieren - möglichst ohne weitere Veränderungen zu erfordern.

"Ökonomismus" ist unter kubanischen Intellektuellen zu einem vielverwendeten Schimpfwort geworden: Bis zu Autoren, die die einfache These aufstellen, dass die Senkung des Lebensstandards entscheidend zur Unzufriedenheit der Bevölkerung beitragen würde, verteidigen sie sich vorsorglich gegen den Vorwurf, sie würden den Zustand der Gesellschaft aus der Ökonomie ableiten. Darin ist sicherlich einerseits die Reaktion auf den jahrzehntelang vorherrschenden mechanistischen Sowjetmarxismus mit seinem schematischen Basis-Überbau-Modell zu sehen, andererseits aber der Rückzug auf den Bereich der Kultur angesichts der Aussichtslosigkeit der ökonomischen Situation, die eine Rekapitalisierung verlangt und zugleich die weitgehende Unmöglichkeit, diese Prozesse klar zu benennen. 14

Eine Reise ins Ungewisse

Wo also befindet sich das kubanische Gesellschaftssystem, das inzwischen eher ein "sozialer Realismus" als ein Realsozialismus ist - eine Transitionsgesellschaft, die keinem definierten Gesellschaftsmodell entspricht und die in ihrer gegenwärtigen Form aus den pragmatischen Anpassungen an die Zwänge hervorgeht, die der kapitalistische Weltmarkt für die Produktion diktiert, und wo minimale soziale Garantien und vor allem die politische Macht aufrechterhalten werden -, eine Situation, die in Kuba Anlass zu vielfältigen Wortspielen bietet? Wie kann man erklären, dass das kubanische System, wenn auch mit weitreichenden Veränderungen, 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Realsozialismus weiterbesteht? Kann man Kuba tatsächlich nur als Überbleibsel dieses Blocks begreifen und daraus folgern, dass die Insel wohl die gleiche Entwicklung ereilen wird? Oder gar Hoffnung daraus schöpfen, dass "Kuba zeigt, dass eine andere Welt möglich ist"?

Bei den häufig angestrengten Vergleichen der kubanischen Transformationsprozesse mit dem Ende des osteuropäischen Realsozialismus wird zumeist vergessen, dass die kubanische Revolution weit mehr, als sich durch ihre realsozialistischen Züge auszuzeichnen, die Kuba im Laufe seiner Kooperation mit dem Ostblock übernahm, die Züge einer nationalen Befreiung mit stark equitativen Elementen trug. Nicht ein festes politisches Programm stand im Mittelpunkt der Revolution, sondern die Befreiung von dem Diktator Fulgencio Batista und den Agraroligarchien, die Kubas Reichtümer in Kooperation mit internationalen Großunternehmen wie der United Fruit Company ins Ausland schafften und selbst gut dabei lebten, und die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der unteren Schichten.15 Die kubanische Bevölkerung hat diese Revolution unterstützt; das Bewusstsein der Verknüpfung des historischen "Werks" Fidel Castros mit der nationalen Unabhängigkeit ist nicht nur weiterhin stark, sondern wird seit der Krise und der plötzlichen weltpolitischen Isolation Kubas von der Regierung bewusst gefördert.16

Kuba war eben nicht nur ein bloßer Satellit des osteuropäischen Sozialismus, sondern ein Produkt von Prozessen, die eng mit der Überwindung des neokolonialen Status der fünfziger Jahre und der Konsolidierung als "Nation" zusammenhingen. Nach dem Ende der sowjetischen Subventionierung bleibt als Kern der kubanischen Politik ein starker Staat, in dessen Zentrum die Partei und die Person Castros stehen, der mit harten Repressionsmaßnahmen die Integrität seiner Macht und Dominanz behauptet, eine, trotz der fortbestehenden Behinderungen durch die staatliche Bürokratie, zunehmend kapitalistisch agierende Gruppe von Staatsunternehmen, die die Deviseneinnahmen und somit die Reproduktion des kubanischen Systems gewährleisten, und eine politisch weitgehend passive Bevölkerung, die sich staatskonform verhält, sich ökonomisch zunehmend ausdifferenziert und ihre lebensnotwendigen Sondereinkünfte durch Diebstahl und illegale Geschäfte sichert. Das Ganze entwickelt sich im Zusammenhang mit einer aggressiven Sanktionspolitik der Vereinigten Staaten, die sowohl die ökonomische Situation verschlechtert als auch die für die Flüchtlinge oft lebensgefährliche, illegale Migration anstachelt und als Vehikel des kubanischen Nationalismus wie zur Rechtfertigung aller Arten von Repressionsmaßnahmen dient. Zwischen diesen Polen bewegt sich, auch wenn es manchmal anders scheint, die lange grüne Echse Kuba in unberechenbarem Tempo in Richtung einer noch ungewissen Zukunft.

Lotte Arndt - Jg. 1979, studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin; 2003/2004 Studium der Philosophie, Geschichte und Ökonomie an der Universität von Havanna.

1 Dies ist auch der Grund, warum nicht vom 45. Jahr nach der Revolution, sondern der Revolution gesprochen wird: Die eigene Gesellschaft wird als ein sich stetig revolutionierender Prozess beschrieben, der zwar im Jahr 1959 begonnen wurde, seither aber seinen revolutionären Charakter nicht verloren habe. Dass sich seit vielen Jahren ein fester Staatsapparat und eine umfangreiche Bürokratie herausgebildet haben, die sich vor allem durch Konservatismus auszeichnen, ändert an dieser verklärenden Auffassung nichts.

2 Die Importe sanken von 81 Millionen US-Dollar 1989 auf 19 Millionen 1994.

3 Schätzung von Mayra Espina, CIPS 2004.

4 Im Jahr 2003 handelte es sich um 900 Millionen Dollar. Alle Maßnahmen der US-Regierung, die Überweisungen zu erschweren, stellen für Kuba somit empfindliche Einnahmeverluste dar. Zuletzt kündigte Washington im Mai 2004 Verschärfungen der Überweisungsregelungen an. Die kubanische Regierung nutzte die Situation für einen Schlag gegen den Diebstahl durch Mitarbeiter in den Devisengeschäften und erhöhte alle Preise um mindestens 10 %. Das durch die US-Politik verschärfte Haushaltsdefizit wird so auf dem Rücken der Bevölkerung kompensiert.

5 Eine Anmerkung zum Gebrauch des Wortes "nationalistisch": Die nationale Souveränität ist seit den Unabhängigkeitskriegen Ende des 19. Jahrhunderts ein bestimmendes Thema auf der Insel. Die Revolution hat mit diesem Paradigma nicht gebrochen, sondern umgekehrt hat die Regierung die nationale Unabhängigkeit (vor allem von den USA) zum Kern ihres politischen Programms gemacht. Dabei kommen Antiimperialismus und die Instrumentalisierung der nordamerikanischen Bedrohung zu Herrschaftszwecken zusammen. Das Ziel, sich als Staat von heteronomer Herrschaft zu befreien, impliziert den Ausschluss von Nicht-Kubanern, der auch in den Jahrzehnten der engen Kooperation mit der Sowjetunion nur wenig gemildert wurde. Statt dessen wurde den osteuropäischen Fachkräften und der Moskauer Regierung gegenüber eine eher instrumentelle Haltung eingenommen. Daneben verfolgt der Staat weiter eine internationalistische Linie bei der Förderung anderer lateinamerikanischer Länder. Jährlich werden weiterhin Hunderte von Studienstipendien an Studenten aus Lateinamerika vergeben, die auf diesem Weg in Kuba die Hochschule besuchen und zumeist als Mediziner, Ökonomen oder Juristen in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Im Gegensatz zum europäischen Nationalismus, der oft außenpolitisch aggressiv und expansiv auftritt, handelt es sich beim kubanischen, wie beim Nationalismus vieler ehemals kolonialisierter Länder, um eine Form, die ihre Hauptfunktion in der Abgrenzung anderen Staaten gegenüber nach außen und der Konstituierung eines homogenen Staatsvolks nach innen hat. Der Begriff wird in der kubanischen Politikwissenschaft oft ohne negative Konnotation zur Bezeichnung politischer Bewegungen gebraucht, die politisch und ökonomisch die Abhängigkeit vom Ausland, zumeist von den ehemaligen Kolonialmächten und den Vereinigten Staaten brechen wollen. Seine ausschließende und homogenisierende Wirkung behält auch dieser Nationalismus.

6 Ein Gedanke, der 1991 schon zur Einführung der Straffreiheit von Religionsausübung und Öffnung der Parteiämter für Gläubige führte, was seitdem zu einem sprunghaften Anstieg aller Arten von Glaubensgemeinschaften (inklusive der Zeugen Jehovas) geführt hat.

7 Das Zentrum verfügte über eine Doppelstruktur. Es unterstand einerseits dem ZK der PCC und sollte diesem zuarbeiten und besaß andererseits wie fast alle kubanischen Forschungszentren, die international agieren sollen, den Status einer NGO, was den Kontakt mit dem Ausland erleichterte.

8 Außerdem wurde dem Zentrum vorgeworfen, Finanzmittel aus dem Ausland anzunehmen, über Gebühr Auslandsreisen zu tätigen, sich zu ausführlich mit den kubanischen Transformationsprozessen zu befassen und die Studien über das restliche (Süd-) Amerika zu vernachlässigen.

9 Generell ist die kubanische Presselandschaft vielfältig, auch wenn viele Publikationen sich nur an einen sehr kleinen Leserkreis richten oder den gesellschaftlichen Wandel der 90er Jahre kaum begleiten bzw. sich eng an die Parteilinie halten. Hier können nur exemplarisch einige Zeitschriften vorgestellt werden.

10 Ebenso wie die kubanische Regierung den Fall für ihre politischen Zwecke instrumentalisiert, ist auch die US-amerikanische Kubapolitik nicht interessenlos: Die hohen Haftstrafen und der politisch geführte Prozess sind Ausdruck der aggressiven Kubapolitik der Vereinigten Staaten, bei der das Erbe des Kalten Krieges und die Interessen eines Teiles der einflussreichen Exilkubaner eine größere Rolle spielen als die unbedeutende ökonomische oder politische Bedrohung, die die Insel für den Hegemon darstellt.

11 Da es sich um einen Bereich handelt, der in den Randzonen der Legalität liegt, ist es schwierig, zuverlässige Zahlen zu bekommen. Die Schätzungen der verschiedenen Untersuchungen schwanken dementsprechend stark: Stellen einige Autoren den Schichten der Bevölkerung mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 200 Pesos eine Schicht gegenüber, die bis zu 2000 Pesos verdient, gehen andere Autoren von einer wesentlich breiteren Einkommensspanne aus.

12 Die Frage nach gesellschaftlicher Anerkennung ist in der kubanischen Gesellschaft insofern wichtig, als jenseits der offiziell vorgesehenen Räume für kulturelle Produktion quasi keine Möglichkeiten bestehen, Projekte zu entwickeln und zumindest einer kleinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine Subkultur ist damit praktisch inexistent.

13 Carranza/Gutierrez/ Monreal: Cuba - La reestructuración de la economía - una propuesta para el debate, Havanna 1995, S. 14.

14 Im Gegensatz zu der Verfassung von 1992, die Kuba zwar im ersten Artikel als sozialistischen Staat charakterisiert, weiter aber nicht viel Emphase darauf verwendet, enthält die durch das Referendum geänderte Fassung einen Passus, der mit einem expliziten Hinweis auf den "heroischen Widerstand" Kubas gegen die Vereinigten Staaten unterstreicht, dass die Insel somit ihre Fähigkeit erwiesen habe, eine "vollständig neue und gerechte" Gesellschaftsordnung aufzubauen, weshalb der Sozialismus und das politische System "unwiderruflich" seien und Kuba niemals zum Kapitalismus zurückkehren werde.

15 Der "sozialistische Charakter der Revolution" wurde von Fidel Castro erst 1961 erklärt: nach dem Beginn des Embargos, nach dem sich abzeichnenden Scheitern der Industrialisierungspolitik und nach dem Angebot der Sowjetunion, Kuba ökonomisch und politisch weitgehend zu unterstützen. Man erzählt, dass die Fidel-Anhänger damals mit dem Satz "Si Fidel es communista, que me pongan en la lista" davon überzeugt wurden, der Partei beizutreten: Wenn das Castro-Programm Kommunismus hieß, dann war die Bevölkerung bereit, dieses zu unterstützen.

16 So wurde in der Verfassungsreform von 1992 die Rolle des Nationalhelden José Martí hervorgehoben, die Parole "Vaterland oder Tod" ersetzt fast durchgängig die Parole "Sozialismus oder Tod", und die Bedrohung der nationalen Unabhängigkeit durch den US-amerikanischen Nachbarn wird in keiner politischen Stellungnahme zu erwähnen vergessen.

in: UTOPIEkreativ, H. 171 (Januar 2005), S. 21-33

 

außerdem im Heft:

VorSatz; Essay MORUS MARKARD: "Elite": Ein anti-egalitaristischer Kampfbegriff; Gesellschaft - Analysen & Alternativen HANS-GERT GRÄBE: Virtuelle Macht und reale Gegenmächte. Zur Globalisierung der Ökonomie; LOTTE ARNDT: Der kubanische Sozialrealismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts; JOCHEN WEICHOLD: Die Grünen - Aufbruch in die Anpassung; J. K. 100 MARIO KESSLER: Jürgen Kuczynski - ein linientreuer Dissident?; GÜNTER KRÖBER: Jürgen Kuczynski und der Nobelpreis; Dokumentierte Geschichte ROSA LUXEMBURG: Die Russische Revolution 1905 Rede, nach einem Spitzelbericht; GÖTZ DIECKMANN: Ermordet vor 60 Jahren: Albert Kuntz; ALBERT KUNTZ: Briefe aus Nazihaft; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Jan Rehmann: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion, Argument-Sonderband 298 (WOLFGANG FRITZ HAUG); Martin Jänicke, Philip Kunig, Michael Stritzel: Lern- und Arbeitsbuch Umweltpolitik. Politik, Recht und Management des Umweltschutzes in Staat und Unternehmen (ARNDT HOPFMANN); Albrecht Müller: Die Reform-Lüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren, (FRIEDHELM WOLSKI-PRENGER); Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 10, hrsg. von Volker Gerhardt und Renate Reschke (ULRICH BUSCH); Marvin Chlada: Der Wille zur Utopie (ANDREAS HEYER); Ergötzliche Briefe des Dessauer Malers Carl Marx an Wolfgang Hütt. Eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Hütt (KAI AGTHE); Jahresinhaltsverzeichnis 2004; Summaries