Erst kürzlich wählten niederländische FernsehzuschauerInnen mit großer Mehrheit den vor zwei Jahren ermordeten Rechtspopulisten Pim Fortuyn zum "größten Niederländer aller Zeiten". Ein eindrückliches Beispiel für "Leitkultur". Nur eben für die niederländische. Was aber ist deutsche Leitkultur? Eine Frage, die im Reality-Parlament von Sabine Christiansen zwar direkt oder indirekt regelmäßig aufgeworfen wird, aber bislang nicht, wie wir bedauernd feststellen müssen, befriedigend beantwortet werden konnte. "Integration", "Patriotismus", "Liebe zu Deutschland", "Parallelgesellschaft" und "Islamismusgefahr" sind dafür zwar wichtige Orientierungsbegriffe, aber doch noch nicht die Antwort selbst. Oder?
Am konkretesten scheint noch die Sache mit dem Spracherwerb. "Muslime, lernt deutsch!" fleht der bayerische Innenminister Beckstein. Und auch Bundeskanzler Schröder fordert unsere ausländischen "Mitbürger und Mitbürgerinnen" aktiv zur "Integration" auf. Dazu gehöre jedoch zuallererst die Bereitschaft und Fähigkeit zur Verständigung durch "Sprachkompetenz". Sprachkompetenz hat wohl, wer möglichst viel deutsch und möglichst wenig anderes spricht. Ausländischsprech ist Deutschsprech abträglich und deshalb zu vermeiden. Deutschsprech ist Grundlage für Deutschkultur statt Barbarei. Und Deutschkultur ist ... jedenfalls kein Ökonomismus, erklärt Schröder, offenkundig ein wenig gekränkt. Denn es ist so unfair, ihm Ökonomismus vorzuwerfen, wo er doch "mit all seinem Handeln dafür sorgen will, dass Deutschland nach vorne kommt". Patriot will er sein, der Kanzler, Nationalist, nicht Ökonomist. Ach Gerhard, sei nicht traurig, du kannst bestimmt auch beides sein. Das eine ist doch seit jeher so deutschgut wie das andere!
Nicht umsonst verlangt schließlich die CSU die Kürzung von Sozialleistungen für MigrantInnen, die die "christlich-abendländische Leitkultur" nicht vollständig akzeptieren. Deutschkultur gibt's nun einmal nicht gratis. Deutschkultur ist teuer. Aber nicht nur das. Auch sensibel und verletzlich. Trotzdem gibt es immer wieder welche, die einfach immer noch eins drauf setzen, Hohn und Spott ausgießen. Das hält die stärkste Sau nicht aus! Irgendwann ist mal Schluss! "Wer unsere Wertordnung - unsere freiheitliche demokratische Leitkultur - ablehnt oder sie gar verhöhnt und bekämpft, für den ist in unserem Land kein Platz", stellt deshalb die CDU auf ihrem Parteitag fest, stellvertretend für die gedemütigte Deutschkultur. Immer weniger Platz hier sollten besser auch die VertreterInnen von "Multikulti-Orgien" oder "multikultureller Kuschelpolitik" haben, wie der taz zu entnehmen ist; das nämlich sind, wiederum elder-Leitkultur-man Helmut Schmidt zufolge "intellektuelle Idealisten", "Schwätzer" und "Traumtänzer" - und verantwortungslose zudem. Denn die sind verantwortlich dafür, "dass Menschen kommen und bei der deutschen Sozialfürsorge um eine Wohnung nachsuchen, um einen Fernseher oder ein Telefon". Und damit nicht genug: Am Hamburger Steindamm, Schmidt hat's mit eigenen Augen gesehen, sind viele Aufschriften von Geschäften türkisch. Das ist Parallelgesellschaft pur. Mitten in Hamburg. Mitten in Deutschland. Da muss man doch was tun! "Wir werden lernen müssen, klarer die Errungenschaften unserer Kultur zu beschreiben und zu verteidigen" bringt es Autorin Renée Zucker für die taz-LeserInnen deutlich auf den Punkt. Eben! Nix Wohnung, Fernseher oder Telefon, capito? Und warum nicht? Weil wir Deutschmenschen eine Demokratie haben. Multikulturelle Gesellschaften, so der Altbundeskanzler, funktionieren nur dort friedlich, "wo es einen starken Obrigkeitsstaat gibt." Ja, da muss man sich schon entscheiden, nicht wahr: entweder Multikulti mit Obrigkeit und Frieden oder Multikulti mit Demokratie und Krieg.
Genau so wie Schmidt hat auch Grünen-Bundesvorstand Reinhard Bütikofer Angst vor einem "Kampf der Kulturen". Nur macht Bütikofer dafür nicht MigrantInnen mit Telefon und Fernseher, sondern die "Scharfmacher von rechts" verantwortlich. Denen hält er sorgenvoll das Substrat christlich-deutscher Leitkultur entgegen: Christenmenschen geht es darum, so Bütikofer, "sich auch gegenüber Musliminnen und Muslimen des Satzes ihres Messias zu erinnern: ,Was Ihr getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder, das habt Ihr mir getan.`" Wenn die MuslimInnen die geringsten Brüder sind, dann ist Bütikofer einer der höchsten. Aber ein toleranter höchster Bruder, das ganz sicher. Er fordert nämlich, dass sich Verfassungsschutz und Polizei "interkulturell öffnen", um den "islamistischen Extremismus mit allen Mitteln des Rechstsstaates bekämpfen zu können". Das ist aber bestimmt nur eine vorübergehend notwendige Maßnahme; solange, bis das mit dem Deutschsprech wirklich greift. Danach braucht es doch auch keine interkulturellen Bullen mehr.
Oder? Ist Integration in die Leitkultur nicht trotzdem ein bisschen mehr als einfach nur ohne Fernseher deutsch zu sprechen? Innenminister Schily ist sich da sicher: "Wenn sie hier auf Dauer leben wollen, müssen sie am Schluss sagen: Sie sind Deutsche." Und vielleicht hilft das ja auch für sonstige Begriffstutzige. Solche, die vielleicht sogar einen deutschen Pass haben, aber trotzdem nicht wissen, wohin sie sich integrieren sollen. Also, nur Mut, machen wir die Probe aufs Exempel, sprechen wir es aus. Das kann doch nicht so schwer sein! Einfach nachsprechen: "Ich bin deutsch. Deutsche. Deutscher." Was passiert? Nichts? Dann hilft nur eins: Aktive Desintegration. Lasst hundert Parallelgesellschaften blühen. Jetzt.
aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr.490/17.12.2004