Rede von Peter Grottian

Europäischer Aktionstag: Auftaktkundgebung des DGB auf dem Alexanderplatz 3.4.2004 Berlin

Europäischer Aktionstag Auftaktkundgebung des DGB auf dem Alexanderplatz am 3.4.2004 in Berlin

Peter Grottian:

Am 1. November letzten Jahres demonstrierten hier in Berlin 100 000 Menschen. Heute sollen es weit mehr werden. Im November war es ein Aufbegehren der Gewerkschaftsbasis, widerständiger Bürgerinnen und Bürger, sozialer Gruppen, außerparlamentarischer Bewegungen, enttäuschter PDS- und SPD-Basis - Bsirske kam als Demonstrationsteilnehmer der Gewerkschaftsspitzen. Heute sind der DGB und die Mehrzahl der Einzelgewerkschaften die Träger des Protestes, scheinbar vereint mit der Gewerkschaftsbasis, der globalisierungskritischen Bewegung, der rebellierenden Parteibasen, den sozialen Projekten, den Bürgerinnen und Bürgern, den Rentnern.

Natürlich - unser Protest ist das augenblicklichste Sturmzeichen des Widerstands, es ist der massenhafte Ausdruck, daß wir eine Grundsäule des Grundgesetzes, die den Sozialstaat im Artikel 20 als unveränderliches Prinzip festschreibt, zu verteidigen bereit sind.

Aber: Ist unsere große Demonstration wirklich der Widerstand, der die Herrschenden das Nachdenken oder das Fürchten lehren könnte, der sie zwingen wird, ihre Fata-Morgana-Politik der völligen Fixierung auf die Wachstumsmorgenröte abzuändern? Nein, täuscht euch nicht, die Mächtigen und die Medien behandeln uns als Groß-Event - man wird raunend Verständnis äußern, das Anliegen scheinbar ernst nehmen - und die bisherige Politik fortsetzen! Und Ihr wißt, daß es so ist. Macht euch nichts vor, 200 000 Latsch-Demonstranten allein, ein paar Reden, hinterher ein Bier, es beeindruckt nicht nachhaltig die Wirtschaft, Rot-Grün oder Schröder - oder die plural gefaßten Einheitsparteien der Republik. Sie werden ihre Politik fortsetzen, wenn wir den grundgesetzlich verbrieften Widerstand gegen die Abschaffung von Politik, Sozialpolitik, menschengerechter Politik nicht anders aufhalten. Doch wie und wo können wir zulegen, zuspitzen, den Konflikt verschärfen?

1. Die programmierte Erfolglosigkeit der Agenda 2010 fordert unsere Alternativen heraus: Menschenrechtsgemäße Grundsicherung statt repressiver Sozialhilfe lautet die erste Antwort.

Erst die Grundsicherung schafft die Voraussetzung der Freiheit von Angst. Sie macht demokratisches Verhalten möglich. Kurz: Die Grundsicherung ist eine positive Antwort auf die strukturelle Krise der kapitalistisch verfaßten Arbeitsgesellschaft. Die menschenrechtliche Entsprechung wäre als zweite Antwort ein Programm von zwei Millionen neuen Arbeitsplätzen, die sich Erwerbslose selbst suchen können - ein Arbeitsmarkt von unten, relativ selbstbestimmt, entbürokratisiert, auf gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsfelder konzentriert, aber auch gesellschaftlich mit 30 Milliarden Euro finanziert. Die Agenda 2010 macht Menschen zu Schrott. Bei unseren Projekten hätten sie die Möglichkeit, aufrecht zu gehen und Sinnstiftendes zu arbeiten. Als dritte Antwort müßten die Gewerkschaften arbeitsplatzschaffende Strategien wieder auf die Tarifagenda setzen - Konzepte müssen die Gewerkschaften vorlegen, die nicht nur auf Lohnprozente fixiert sind, sondern als Gegenprojekt zur Agenda 2010 gelten können, die diesen Namen verdienen. Höhere Erbschafts-, Vermögens- und Finanztransfersteuern zu fordern ist ja grundsätzlich richtig, aber solange die Gewerkschaftsspitzen zur Arbeitszeitverkürzung, Teilung von Arbeit zwischen Frauen und Männern, Angeboten für die jüngere Generation, vernünftigen Formen von Teilzeit auf ihrem Tariffeld nichts mehr zu sagen haben, schwächen sie ihre Machtpositionen. Schließlich müssen wir die Kommunen stärken in ihrer Rolle in der sozialen und städtischen Infrastruktur. Diese vier Bausteine könnten sehr wohl eine programmatische Alternative sein - wir haben Alternativen!

2. Gewerkschaftliche Widerstände mit anderen Protestbewegungen anders bündeln, damit sich der Widerstand dynamisiert.

Wer breiten Widerstand will, muß auch die Breite von Bündnissen wollen. Die heutige Veranstaltung ist primär eine Gewerkschaftsveranstaltung, die nach ihren Prinzipien abläuft. Wir kritisieren das als Vertreter außerparlamentarischer Bewegungen schärfstens und fragen uns, warum die Gewerkschaftsspitzen nach wie vor so ängstlich sind, genauer: die Hosen so voll haben. Die Strategie der Gewerkschaften, den breiten gesellschaftlichen Widerstand abzubrechen und den parlamentarischen Einflußschoß zu suchen, ist offenkundig gescheitert. Nichts liegt näher in bewußter Distanz zur Macht, seine Macht mit vielen Menschen neu zu organisieren und zu stärken. Das geschieht heute - aber nicht als integrierendes Bündnis unterschiedlicher widerstandsbereiter Gruppen, sondern zu den Konditionen der Gewerkschaften. Das ist engstirnig, nicht sehr selbstbewußt und riecht nach gesellschaftspolitischer Taktik: Wie das Ohr der Mächtigen nicht verlieren und gleichzeitig eine starke soziale Bewegung sein wollen?

Wir fordern deshalb die Gewerkschaften auf, die heute bescheiden beschrittene Strategie der vorsichtigen gesellschaftlichen Öffnung, auch im Sinne eigener Interessen drastisch auszuweiten: globalisierungskritische Bewegungen, lokale Sozialforen und Sozialbündnisse, Teile von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, aufmüpfige, individualisierte Bürgerinnen und Bürger, Jugendliche, Kinder, Ältere, Frauen, Migranten, das gehört zusammen, was hier als Betroffene zusammengehört. Massenprotest in Köln, Stuttgart und Berlin ist wichtig, aber der dezentralisierte kommunale Protest muß zur Dauerfeuerstelle unseres Protestes werden, um die Herrschenden zur Änderung ihrer Politik zu bewegen. Globalisierungskritische Bewegung, Massendemonstrationen und lokaler Widerstand müssen verbunden werden.

3. Aufstehen für drei Stunden Protest ist zu wenig - Armuts- und Sozialproteste in die Reichtumszentren tragen, Arbeitsplätze instandbesetzen, Teilschließung von Arbeitsämtern, radikale Verweigerung sozialer Zumutungen.

Wir müssen uns mehr zumuten als eine dreistündige Demonstration. Ja, wir sind nicht eingeübt in provozierende Sozial- und Armutsproteste wie in Italien oder Frankreich. Aber wir müssen jetzt mehr versuchen, so schwer es auch ist, die Hürde zu Protest- und Konfliktformen des zivilen Ungehorsams zu überspringen. Papierene Alternativkonzepte machen nur Sinn in Kombination radikalerer Protest- und Aktionsformen.

Wenn wir für gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze und eine menschengerechte Grundsicherung eintreten, dann müssen wir zum Mittel der Instandbesetzung von Arbeitsplätzen greifen und gleichzeitig die teilweise menschenzurichtenden Arbeits- und Sozialämter schließen.

Wenn wir die grassierende Verarmung der sozial schwachen Schichten anprangern, dann müssen wir zusammen mit Obdachlosen, Sozialhilfeempfängern, Erwerbslosen, Rentnern die Armut in die Reichtumszentren der Städte tragen, damit sie der Armut nicht mehr ausweichen können. Armut muß ihr offensives Gesicht zeigen, sie darf sich nicht mehr verstecken. Wenn die Herrschenden uns statt Arbeitszeitverkürzung Arbeitszeitverlängerung ohne neue Arbeitsplätze aufdrücken wollen, dann wird man als Gewerkschaft doch mal einen zweistündigen Warnstreik mit Alternativkonzepten wagen können. Wenn die sozialen Mobilitätsrechte der sozial Schwachen durch Streichen des Sozialtickets augenmaßlos verletzt werden, dann sollten wir mit den Betroffenen solange Schwarzfahren, bis diese sozialen Grundrechte wieder hergestellt sind. Kurz: Die Herrschenden werden sich nur bewegen, wenn unsere hier gezeigte Massensolidarität ganz andere Protest- und Konfliktformen hervorbringt. Nicht klammheimlich doch auf die Erweichung des neoliberal getränkten Herzens der Sozialdemokratie hoffen, lautet die Devise, sondern uns zu menschenrechtlicher Radikalität ermuntern. Diese Demonstration ist sanftpfötig, ziehen wir zunächst für uns selbst radikalere Konsequenzen. Dann werden wir gute Karten haben.