Linke, ein "abgetakelter Liberaler" und der Antisemitismus
Für den vor hundert Jahren geboren Jean Améry müßte es eine weitere Enttäuschung sein, daß in der Linken er inzwischen vergessen ist. „Jener Linken, der ich mich, trotz so mancher Enttäuschungen und Revisionen, verbunden fühle“, wie Améry 1976 bekannte, auf den Salzburger Humanismus-Gesprächen in seinem Vortrag über den Verrat der Intellektuellen.
Es blieb einem, der in den fünfziger Jahren in der DDR als Marxist gewirkt hatte, vorbehalten, zum 100. Geburtstag anschaulich, eindringlich und erschütternd über Jean Améry zu berichten: In der Springer-Zeitung „Die Welt“ erinnert Fritz J. Raddatz, der 1958 die DDR verlassen hat, heute an ihn. In den Medien der deutschen Linken: Schweigen oder bestenfalls eine Wikipedia-Paraphrase.
Die Löschung seines Namens hatte schon früh begonnen. In Auschwitz war er Nummer 172364. Die Häftlingsnummer steht auch zusammen mit dem Namen auf seinem Grabstein im Wiener Zentralfriedhof (Foto: Wikipedia Creative Commons). In Wien wurde er 1912 als Hans Meyer (über die korrekte Schreibweise streiten die Biographen) geboren, dann lebte er als assimilierter Jude bis zum „Anschluß“ 1938 in der österreichischen Provinz. Sein Pseudonym besteht aus der Übersetzung des Vornamens und einem Anagramm des Nachnamens. Zu Biographie und literarischem Schaffen ist viel nachzulesen bei Raddatz oder in der ebenfalls instruktiven Würdigung von Ludger Lütkehaus in „Neue Zürcher Zeitung“ vom 27. Oktober 2012; wer es noch genauer wissen will, greift zur 400-seitigen Biographie von Irene Heidelberger-Leonhard, die 2004 erschienen ist. Sie ist auch Herausgeberin der seit 2007 erscheinenden Werkausgabe.
Hier sei nur wenigstens kurz an die letzte Etappe des politischen Engagements von Améry erinnert. An das, was er der deutschen Linken der siebziger Jahren noch vor seinem Tod 1978 ins Stammbuch schrieb.
Schon in dem 1955 in Zürich erschienenen Buch „Karrieren und Köpfe – Bildnisse berühmter Zeitgenossen“ bewies Améry sein unbestechliches Einzelgängertum. Zehn Jahre nach seiner Befreiung, nach dem Ende der Tortur in Haft und verschiedenen Konzentrationslagern, widmet er Ernst Jünger einen fairen Beitrag. Gustav Gründgens nimmt er gegen Vorwürfe wegen seiner Generalintendantenzeit während des Nationalsozialismus am Staatstheater in Schutz. Er erinnert, ebenso fair differenzierend, an Richard Coudenhove-Kalergi, den Paneuropäer. Der habe zwar 1922 in einem Artikel in der Wiener „Neuen Freien Presse“ sich hoffnungsvoll an Benito Mussolini gewandt: „Exzellenz, ich appelliere an Sie im Namen der europäischen Jugend: Retten Sie Europa!“, aber als in Deutschland der National-Sozialismus an die Macht kam, habe sich der Sohn einer japanischen Mutter sofort gegen die Rasseideologie gewandt und gleichzeitig auch das Buch „Stalin & Co.“ veröffentlicht, „eines der ersten im modernen Sinne anti-totalitaristischen und anti-kommunistischen Bücher“. Nach wie vor lesenswert ist auch Améry Beitrag über Ilja Ehrenburg in diesem Band: „Man kennt keinen anderen Schriftsteller, der über dem Training des Seiltanzens auf der Generallinie so sehr seine Vergangenheit verdrängt und sein unbezweifelbares besseres Wissen narkotisiert hat“.
„Die Zeit" veröffentlichte am 25. Juli 1969 Amérys Artikel „Der ehrbare Antisemitismus – Die Barrikade vereint mit dem Spießer-Stammtisch gegen den Staat der Juden". Nach dem Sechs-Tage-Krieg verwies er auf das 1968 in Frankreich erschienenen Buch „La Gauche contre Israel?“ von Jacques Givet und kritisierte einen auch bei westdeutschen Linken im „Anti-Israelismus" bzw. „Anti-Zionismus" keimenden „ehrbaren" Antisemitismus. In der DKP herrschte bis zur Gorbatschow-Ära die Maxime der „bedingslosen Solidarität mit der Sowjetunion", womit man sich von Strömungen der neuen Linken (etwa um das Sozialistische Büro und dessen Zeitschrift „links") absetzen wollte, die eine „kritische Solidarität" propagierten und sich die Freiheit nahmen, die Systeme des „realen Sozialismus" (DKP-Diktion) zu kritisieren. In einem Radiointerview verstieg sich dieser Tage ein prominenter „Antideutscher" in eben jenem neostalinistischen Stil dazu, diesen 1969-er Text und dessen Autor als Kronzeugen für eine „bedingslose Solidarität mit Israel" zu vereinnahmen, obwohl Améry dort unmißverständlich schrieb: „Alles zu justifizieren, was die diversen Regierungen Israels unternehmen fällt mir nicht ein."
Am 10. August 1974 veröffentlichte die „Frankfurter Rundschau“ Amérys Appell „Für eine Volksfront dieser Zeit – Prinzipien einer aktuellen Linken“. Er forderte, im Hinblick auf den Erfolge von François Mitterrand als Präsidentschaftskandidat in Frankreich, den Abschied vom „Revolutionsfetischismus“ und daß „die Frage des Marxismus überhaupt zur Diskussion gestellt“ werde („das Marx-Tabu wird wohl fallen müssen“). Er plädierte für eine Wiederbeschäftigung mit all den nichtmarxistischen Positionen innerhalb der Linken, dabei namentlich den belgischen Sozialisten der Zwischenkriegszeit Hendrik de Man nennend, in dem nicht wenige Linke einen Präfaschisten witterten. „Die Tatsache, daß zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands eine nicht nur deutsch-jüdische, sondern schlechthin deutsche Intelligenzia mehrheitlich an der Linken siedelt“, speiste seine Hoffnung, daß auch in Deutschland französische Verhältnisse, ein reformistischer Sozialismus, der „auf demokratischem Wege“ wandelt, an die Macht kommen könnte. Amérys Appell löste seinerzeit zwar Diskussionen aus, verhallte letztlich aber. Die RAF stabilisierte mit ihren in jenem Appell kritisierten „blutigen Träumereien“ den harten Kurs der regierenden SPD; SED & DKP machten vereint dem aufblühenden „Eurokommunismus“ den Garaus.
Mit dem eingangs erwähnten Vortrag 1976 in Salzburg griff Améry in die innerlinke Debatte über das Denken, das über den Rhein nach Deutschland einsickerte, ein. Eine merkwürdige Allianz von Jürgen Habermas bis zu kommunistischen Parteiideologen geißelte seinerzeit den französischen „Irrationalismus“, ein neues Kapitel in der seit Karl Marx' und Moses Heß' Zeiten währenden Auseinandersetzung über das Projekt einer deutsch-französischen Arbeitsteilung. Nun kritisierte Améry unter Bezug auf Julien Bendas Klassiker „La Trahison des Clercs“ einen neuen Verrat der Intellektuellen, wobei er neben Herbert Marcuse vor allem Michel Foucault sowie Gilles Deleuze und Felix Guattari mit ihrem seinerzeit in der Linken Furore machenden „Anti-Ödipus“ als Wegbereiter eines neuen Irrationalismus kritisierte. Was hätte Améry zu Jean-François Lyotard gesagt, der in «Le Différend» 1983 sein Philosophieren mit Auschwitz begann, und zwar mit dem «négationnisme» von Robert Faurisson?
Gefährlich sei, so Améry in seiner Intellektuellenschelte, weniger das Abgleiten in einen Konservatismus als vielmehr die grassierende, modische Progressivität: „Der Einschüchterung durch das Traditionelle hat man sich längst entzogen; die Einschüchterung durch alles Neue, wie abwegig es auch sei, ist in diesen Tagen entschieden bedrohlicher.“ Améry wollte es in dieser Zeitgeist-Landschaft in Kauf nehmen, „als kulturell-reaktionär zu erscheinen“.
Dann kam es am 8. Januar 1978 in der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach, bei der Tagung „Hitler – eine Erweckungsbewegung?“, zu einem Schlußgespräch, über das man, des heutigen Talkshow-Geplappers und linker Diskussionsverweigerungen eingedenk, endlos staunen könnte.
Heutzutage ist es üblich gegen die sogenannte „Wortergreifungsstrategie“ von Rechten diese schon auf per Einladungsplakaten und -karte von der Teilnahme auszuschließen. Eine Konferenz Anfang Dezember 2012 an der Universität Jena über „Rechtsextremismus – Forschungsergebnisse und Gegenstrategien“ ziert die „Ausschlussklausel“: „Die Veranstalter behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und Personen, die rechtsextremen Parteien oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit [sic! – GP] durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser auszuschließen.“
Seinerzeit diskutierte Améry mit „Personen“, die gewiß „in der Vergangenheit“ nach heutigen (In-)Toleranzkriterien des Alternativen Verfassungsschutzes einschlägig „in Erscheinung getreten sind“, und zwar mit Kunrat von Hammerstein vom weder antinationalen noch lupenrein demokratischen „20. Juli“, mit Eugen Kogon, der wie Améry auch im Konzentrationslager Buchenwald war, mit Hitlers Reichsminister Albert Speer, mit Werner Stephan, der aus dem Reichspropagandaministerium kommend 1955 zum Bundesgeschäftsführer der FDP und später zum Gründer der Friedrich-Naumann-Stiftung avancierte, sowie mit dem Panzerkommandeur und Ritterkreuzträger Thilo Graf Werthern. Damals war noch nicht der ominöse „Zeitzeuge“ geboren, die Teilnehmer wurden vom Akademiedirektor und Diskussionsleiter Rolf Schroers als „Tatzeugen“ und „Kronzeugen“ vorgestellt. Das Ungeheuerliche dieser Diskussionsrunde wurde offensichtlich als Ex-Lagerinsasse Améry vom Ex-Rüstungsminister Speer wissen wollte: „Wie war denn das, als ich 44 im Lager Dora Nord einsaß und eines Tages es hieß, es sei der Rüstungsminister da zur Inspektion“...
Améry begründete seine Teilnahme an dieser Diskussion: „Es war schon eine Inkonsequenz, daß ich hierhergekommen bin; aber manchmal ist es falsch, allzu konsequent zu sein.“ Und das letzte Wort in dieser Diskussion hatte Améry: „Diskutieren wir in diesem Sinne auch auf die Gefahr hin, Sympathisant genannt zu werden.“
„Der Spiegel“, Nummer 44 vom 30. Oktober 1978, veröffentlichte ein Gespräch, das 1976 Christian Schultz-Gerstein mit ihm geführt hatte. In diesem Gespräch gestand Améry, „seit der Rückkehr aus dem KZ“ sei er „von allen Seiten immer mehr enttäuscht“. Damit meine er nicht nur die Rückkehr von Nazis in wichtige Positionen der Bundesrepublik, sondern vor allem „bin ich sehr stark enttäuscht worden vom Verhalten der Linken. Ich habe mich ein Leben lang als einen Mann der Linken gefühlt. Ich bin in einer von Kommunisten geleiteten Widerstandsgruppe gewesen ... Ich habe mich ... Schwierigkeiten ausgesetzt immer im Bewußtsein, ein Linker zu sein. Heute weiß ich nicht mehr recht, was das heißen soll. Die Linke, auf die ich große Hoffnungen gesetzt habe, auch noch zur Zeit der Studentenbewegung, auch noch im Mai ’68 in Paris, hat sich durch ihr schwaches Denken, durch ihr unsinniges Verhalten mir so entfremdet, daß ich heute den Weg zu ihr so schwer finde wie sie den Weg zu mir. Ich bin für die Leute heute einen abgetakelter Liberaler. Ich will das natürlich gern sein, bon, ja. Bei den Frankfurter Römerberg-Gesprächen zum Beispiel hab ich das gespürt. Als ich sagte, ich sei ein Mann der Linken, da ging durch einen Teil des Auditoriums ein höhnisches Gelächter.“
Am 17. Oktober 1978 nahm Améry, der 1976 das Buch „Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod“ veröffentlicht hatte, im Hotel „Österreichischer Hof“ in Salzburg eine Überdosis Schlafmittel, am Tag der Eröffnung der Buchmesse in Frankfurt, wo man vergebens auf ihn wartete. Wie Améry schied auch der Spiegel-Redakteur Schultz-Gerstein, dessen Kolumne „Wer hat Angst vor Neonazis?“ gerade in der gegenwärtigen Hysterie nach Auftauchen der NSU-Desperados wieder gelesen werden sollte, durch Freitod aus dem Leben.