Europäischer Aktionstag: Abschlusskundgebung des DGB 3.4.2004 Berlin
Europäischer Aktionstag Abschlusskundgebung des DGB 3.4.2004 Berlin
Liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen
Viel und gerne wird heutzutage von "Gerechtigkeit" gesprochen, von einem "modernen Gerechtigkeitsbegriff", von "Leistungsgerechtigkeit". Doch wenn wir eins gelernt haben, dann das: Wenn die Herrschenden oben soviel von Gerechtigkeit faseln, dann sollten die unten misstrauisch sein.
Eine ganz spezielle Gerechtigkeit hat die SPD-Grundwertekommission erfunden, nämlich "gerechte Ungleichheiten". Gleichheit und Umverteilung sind, so Wolfgang Clement, erstens ineffizient und deswegen zweitens ungerecht. Jede und jeder ist ihres und seines Glückes Schmied, freie Fahrt den "Tüchtigen". Wir, die wir heute hier stehen, sind damit nicht gemeint.
Schon eher Philipp Missfelder, Vorsitzender der Jungen Union. Der hatte im Sommer letzten Jahres krakeelt: "Ich halte nichts davon, wenn 85-jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen." Die Sozialversicherungssysteme seien "nicht dafür zuständig, dass jeder Senior fit für einen Rentner-Adventure-Urlaub ist".
Missfelder hat das Maul vielleicht besonders weit aufgerissen, aber allein steht er nicht. Alle, Gerhard Schröder und Ulla Schmidt, die Grünen, CDU und FDP reden jetzt von "Generationengerechtigkeit". Das Wohl und Wehe der so genannten "Leistungsträger" wird zum neuen Gerechtigkeitsmaßstab. Leistungsunfähige, Leistungsgeminderte und erst recht Leistungsunwillige gelten in erster Linie als Kostenfaktoren, Ausgaben für die gleichberechtigte und gleichwertige soziale Sicherheit Aller nur noch als "Fehlinvestitionen".
Was wir heute mit der Zerschlagung der paritätischen Sozialversicherungssysteme erleben, ist eine neue "Verwertungsgerechtigkeit", eine Gerechtigkeit, die sich an dem orientiert, was für den Standort und die ungehinderte Kapitalakkumulation nützlich ist. Die neue Gerechtigkeit ist deshalb der Terror der "Aktivierung", von lebenslanger Flexibilität, Produktivität, Selbstverwertung und Eigenverantwortlichkeit.
Der Sozialstaat war noch nie eine besonders gemütliche Veranstaltung. Erwerbslose, SozialhilfeempfängerInnen, Flüchtlinge und MigrantInnen können seit Jahren davon ein Lied singen. Letztlich ging es immer nur darum, die Kosten der Ware Arbeitskraft zu regulieren. Dabei ist Solidarität schon immer an die Nützlichkeit des Staatsbürgers gebunden gewesen. Die so genannte soziale Frage ist immer die Frage danach, wie mit denen umgegangen werden soll, die unter den Prämissen und Normen der Kapitalverwertung "nicht zu gebrauchen" sind: Alte, Behinderte, Kranke, Erwerbslose, DrogenkonsumentInnen, BettlerInnen;
Mit 20 Jahren Verspätung wird heute die Kohlsche Wende umgesetzt. Was wir erleben, ist ein flächendeckender Angriff auf egalitäre Vorstellungen von sozialer Absicherung, die in früheren Kämpfen zumindest ansatzweise in den Sozialversicherungssystemen durchgesetzt werden konnten. Die Agenda 2010 ist eine brutale Verarmungsstrategie gegen abhängig Beschäftigte und Erwerbslose. Sie ist gleichzeitig eine gigantische Entlastung der Kapitalisten. Die müssen in Zukunft wesentliche Teile des Lohns nicht mehr bezahlen.
Doch der "aktivierende Sozialstaat" ist nicht nur neoliberal, sondern auch extrem autoritär: erst die Pflicht und dann noch mal die Pflicht; keine staatlichen Leistungen ohne Gegenleistungen; Rechte und Ansprüche muss man sich vorher erst einmal verdienen. Wer nur irgendwie seine Haut zu Markte tragen kann, muss dies tun; nach Arbeitsbedingun¬gen, Löhnen und Sinnhaftigkeit der Arbeit wird nicht mehr gefragt. Ein Arbeitsplatz ist Lohn genug für die tägliche Knüppelei. Diese Botschaft richtet sich an alle, nicht nur an Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen: Die Wirklichkeit hat die Trennung von Normalarbeitsverhältnis und prekärer Beschäftigung längst aufgehoben. Prekäres, unsicheres, gehetztes und flexibles Arbeiten, mit und ohne Tarif ist heute der Normalzustand.
Täglich wird uns eingebläut: Jeder und Jede sei verpflichtet, sich selbst zu helfen: durch Lohnarbeit und Selbstverwertung jeder Art. Alle - Erwerbslose wie Beschäftigte - müssen sich heute wie "Arbeitskraftunternehmer" verhalten, zunehmend laufen wir alle mit dem Unternehmer im eigenen Kopf herum. Die "Ich-AG" ist das Leitbild der Gegenwart.
Die Verhältnisse, die Armut und Ausgrenzung erzeugen, sollen nicht geändert werden, sondern die Menschen, ihre Interessen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen sollen an diese Verhältnisse angepasst werden. Und das per Zwang: Das ist die brutale Wahrheit und die tägliche Gewalt hinter den Arbeits- und Sozialämtern und den Floskeln von "Aktivierung" oder "Fordern und fördern".
Wir springen also viel zu kurz, wenn wir nur den Sozialkahlschlag und nicht gleichzeitig auch den sozialpolitischen Obrigkeitsstaat angreifen. Neben der Verteilungsfrage müssen soziale Protestbewegungen die grundsätzlichen Strukturen kritisieren, die ein Einfallstor sind für Pflichtgedanken, Ausgrenzungen und bürokratische Bevormundungen. Und es geht auch darum, gesellschaftliche Verhältnisse radikal in Frage zu stellen, in denen Menschen nur noch als Produktionsfaktoren funktionieren sollen.
Wenn heute "soziale Gerechtigkeit" umdefiniert wird, so wird es notwendig sein, neu zu bestimmen, was wir darunter verstehen, welches Menschenbild das unsere ist, wie unserer Meinung nach eine Gesellschaft aussehen soll, in der ein schönes Leben für alle möglich ist, ein Leben ohne Existenzsorgen.
Deshalb beharren wir auf einem sozialen Anspruchsdenken:
 Wir beharren auf dem Anspruch auf individuelle und kollektive Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums,
 Wir beharren auf dem Anspruch an ein gutes Leben für Alle als soziales Grundrecht für jeden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe oder Verfügbarkeit am Arbeitsmarkt.
 Und wir beharren auf dem Gleichheitsanspruch : "Alles für Alle"!
Dem Diktat der Nützlichkeit und Verwertbarkeit setzen wir ein unteilbares Existenzrecht entgegen, ohne irgendwelche Vorbedingungen:
das Recht auf Existenz sichernde Einkommen,
das Recht auf individuelle Autonomie, Selbstbestimmung und persönliche Integrität.
Und wir verteidigen das Recht, unflexibel, unmodern und immobil zu sein und dennoch gut zu leben!
Franz Müntefering hat mal gemeint, es sei normal und zumutbar, für einen Job von Mecklenburg-Vorpommern nach München zu ziehen und dabei vertraute soziale Bezüge aufzugeben. Wer das will, soll das tun. Aber die sozialen Ansprüche an Einkommen, Jobs und Lebensqualität von denen, die aus welchen Gründen auch immer nicht so flexibel sein wollen, sind deswegen um kein Gramm weniger berechtigt.
Soziale Grundrechte sind nicht nur die Teilhaberechte von Armen und so genannten Randgruppen. Die sozialen Ansprüche betreffen ganz zentral auch die Frage, wie in diesem Land gearbeitet wird, wer unter welchen Bedingungen eigentlich was produzieren soll, wer darüber entscheidet. Ansprüche und Rechte machen also weder vor den Fabriktoren halt, noch vor den Büros oder den Küchen und Wickelkommoden der privaten Haushalte. Es geht halt nicht nur um ein Stück vom Kuchen, sondern um die Aneignung und Umgestaltung der ganzen verdammten Bäckerei.