Jetzt wissen wirÂ’s: Valéry Giscard dÂ’Estaing, ehemaliger Präsident der Republik Frankreich (zu Zeiten des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, mit dem er die Grundlagen für die Europäische Währun
... schuf) und derzeit Präsident des Verfassungskonvents der Europäischen Union ist arrogant, vom Interesse seines Landes bestimmt und nur an seiner eigenen Imagepflege (und seiner Aufwandsentschädigung) interessiert. Dieses (Vor-)Urteil reicht in den Augen der Kritiker und Betroffenen aus, seine - zugegebenermaßen persönlichen - Vorschläge zur Neuordnung des institutionellen Gefüges der Union im Zuge der Erweiterung um zehn osteuropäische Staaten zu disqualifizieren. Es ist allerdings zu vermuten, dass ganz andere Gründe das Europäische Parlament, die Kommission und einzelne nationale Regierungen veranlassen, sich querzulegen.
Dabei klingen Giscards Vorschläge durchaus vernünftig. Beispielsweise soll die Union einen Präsidenten bekommen, der für zweieinhalb Jahre gewählt wird. Damit würde dem ständigen halbjährlichen Herumziehen der Ratspräsidentschaft (wie weiland der Kaiser im Mittelalter) ein Ende gesetzt. Die Bedenken gegen diesen Vorschlag lauten, dass er den Einfluss der nationalen Mitgliedsstaaten erheblich beeinträchtigen würde. Richtig ist: Würde die Mitwirkung der nationalen Regierungen tatsächlich entscheidend geschmälert, käme die politische Union nicht zu Stande. Da der Rat das Organ der Union ist, in dem allerletzte Entscheidungen fallen und alle Mitgliedstaaten in ihm wie bisher vertreten bleiben, steht eine solche Beeinträchtigung jedoch kaum zu befürchten.
Auch weiterhin ist undenkbar, dass wichtige Entscheidungen getroffen werden, wenn eine größere Anzahl (auch der kleineren Mitglieder) sich dagegen ausspricht, auch dann, wenn die Abstimmungsregeln im Sinne qualifizierterer Voten verändert werden.
Ausgewogene Struktur
Als Ausgleich stellt Giscard dem Präsidenten einen Vizepräsidenten zur Seite, der ohne Zweifel aus den Reihen der kleineren Mitglieder zu wählen sein wird. Die Präsidentschaft soll zudem eine Art Kabinett erhalten, das Präsident und Vizepräsident zuarbeitet und die notwendige wie wünschenswerte Koordinierung mit den entsprechenden Ressorts der Europäischen Kommission gewährleistet. Dass die nationalen Regierungen für dieses Kabinett hohe Regierungsbeamte benennen werden, dürfte ebenfalls außer Zweifel stehen. Ein von allen nationalen Einzelinteressen isolierter Präsident ist also unvorstellbar, vielmehr spricht dieser Vorschlag Giscards für eine ausgewogene föderale Struktur des künftigen Rates.
Ergänzt wird diese Idee durch die Absicht, einen Europäischen Kongress zu konstituieren, in dem jährlich einmal die direkt gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments, das summa summarum eine Aufwertung erfährt, mit ebenfalls direkt gewählten Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammenkommen und möglicherweise eines Tages den Präsidenten und den Vizepräsidenten wählen. Repräsentativer und demokratischer (und zugleich föderaler) ist eine neue institutionelle Grundordnung der Union überhaupt nicht vorstellbar. Die Besorgnis, dass sich ein solcher Kongress als eine bessere Schwatzbude geriert und zudem das Europäische Parlament in seinen Schatten verweisen könnte, ist nicht nachvollziehbar. Es sei daran erinnert, dass das Parlament in seiner Frühzeit ähnlicher Kritik ausgesetzt war, dann aber eine Eigendynamik entwickelte, die inzwischen zu einer gewichtigen Position geführt hat, welche der Union einen ursprünglich kaum erwarteten demokratischen Charakter verleiht - an dem weder die Kommission noch die nationalen Regierungen vorbeihandeln können.
Zudem beabsichtigt Giscard dÂ’Es-taing, die Europäische Kommission zu reorganisieren. Sie soll von derzeit 20 Mitgliedern (jeder der 15 Mitgliedsstaaten hat Anspruch auf einen Sitz, die so genannten Großen - Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Spanien - auf je einen zweiten Sitz) auf einige wenige Ressorts verschlankt werden, wie es im Trend moderner Regierungsbildungen liegt. In der Tat ist nicht nachzuvollziehen, warum sieben Kommissare und eine Kommissarin für acht sich in vielfacher Hinsicht überschneidende Ressorts, nämlich Verkehr (Loyola de Palcio del Valle-Lersundi), Wettbewerb (Mario Monti), Landwirtschaft (Franz Fischler), Unternehmen (Erkki Liikanen), Binnenmarkt (Frits Bolkestein), Wirtschaft und Währung (Pedro Solbes Mira), Handel (Pascal Lamy) und Beschäftigung (Anna Diamantopoulou), zuständig sind und ihre Kompetenzen eifersüchtig abzugrenzen versuchen. Der bürokratische Charakter der Kommission und die schon sprichwörtliche Desorganisation in Brüssel erhöhten sich sogar noch, setzte sich ein anderer - nicht von Giscard stammender - Vorschlag durch: die Schaffung von 25 Ressorts, damit jedes Mitgliedsland der erweiterten Union einen Sitz erhalten kann, wobei allerdings die Doppelsitze der "Großen" entfallen würden. Rat und Parlament könnten in diesem Falle die einzelnen Kommissionsmitglieder leichter gegeneinander ausspielen, die Rolle der Kommission würde nicht gestärkt, sondern entscheidend geschwächt.
Dem sicherlich berechtigten Interesse der nationalen Regierungen, in der Kommission ein gewichtiges Wort mitzureden, könnte durch die Besetzung der Generaldirektionen entgegengekommen werden, die - nach allem, was aus Brüssel zu hören ist - ohnehin das Sagen haben. Der Widerstand aus der Kommission gegen Giscards Vorschläge lässt sich also bestenfalls mit einem starken Interesse an Besitzstandswahrung erklären.
Europäischer Außenminister
Zu guter Letzt sei auf Giscards Vorschlag hingewiesen, endlich die Doppelfunktion eines Hohen Vertreters des Rates für die gemeinsame Außenpolitik (Javier Solana Madariaga) und eines Kommissionsmitglieds für Außenbeziehungen (Chris Patten) zu beenden, die nicht nur innerhalb der Union, sondern vor allem auch auf diplomatischer Ebene zu erheblicher Verwirrung führt. Ganz abgesehen davon, dass der Kommissar die erheblichen Mittel der Kommission im Rücken hat, während der Hohe Vertreter bei den Mitgliedsregierungen vorstellig werden muss, um seine Flugreisen zu organisieren. Giscard schlägt stattdessen die Position eines "Außenministers der Union" vor, der zugleich Mitglied der Kommission wie auch Organ des Rates sein soll. Die Wortwahl "Außenminister" lässt aufhorchen, weil die nationalen Regierungen es bisher peinlichst vermieden haben, Begriffe wie "Europäische Regierung" (für die Kommission), "Europäischer Ministerpräsident" (für den Präsidenten der Kommission) und "Europäische Minister" (für die Kommissionsmitglieder) einzuführen, so wie sich vor allem die französische Regierung jahrelang dagegen gewehrt hat, die ursprüngliche "Gemeinsame Versammlung" aus direkten Wahlen hervorgehen zu lassen und in "Europäisches Parlament" (1962) umzubenennen. Hier ist Giscard ohne Zweifel über den Schatten seiner französischen Herkunft gesprungen. Sicherlich nicht ohne Hintergedanken. Sein Vorschlag ist offensichtlich auf Joschka Fischer zugeschnitten, womit er gleichzeitig den Weg für einen französischen Präsidenten freizumachen hofft. Das macht diesen Vorschlag keineswegs unvernünftig, ob aber Giscards Rechnung aufgeht, ist zu bezweifeln. Gerade weil sie nach deutsch-französischer Verabredung aussieht, dürfte sie die Bedenken anderer Regierungen noch verstärken. Vor allem die britische Regierung, die sich schon dem Beitritt zur erfolgreichen Euro-Zone verweigerte, wird - nicht zuletzt auf Druck der amerikanischen Administration - dafür sorgen, dass die Blütenträume engagierter Europäer nicht zu schnell reifen.
Bleibt die Frage, warum Giscard diese Vorschläge als persönliche Überlegungen bekannt gab, ohne sie zuvor in die Beratungen des Konvents einzubringen. Sich wahrscheinlich dessen bewusst, dass sie dort nicht konsensfähig gewesen wären und weiterhin nicht konsensfähig sind, konnte er nur mit dieser Art der Veröffentlichung erreichen, dass sie auch zur Kenntnis genommen werden. Was immer schließlich das Ergebnis der Beratungen des Konvents sein wird, es muss sich an Giscards Vorschlägen messen lassen. Und das ist gut so! Der Vergleich wird freilich nicht sehr vorteilhaft ausfallen. Wie immer werden die nationalen Regierungen die Chance, Europa zu einer starken und demokratisch kontrollierten Union zu gestalten, versäumen und stattdessen den mühsamen und langwierigen Weg der kleinen Reformen und Reförmchen einschlagen, die wegen der anstehenden Erweiterung unverzichtbar sind, wenn die Union überhaupt handlungsfähig bleiben soll. Die tatsächliche politische Einigung Europas liegt nach wie vor in weiter Ferne.
* Der Autor bezieht sich auf jene Vorschläge zur institutionellen Reform der EU, die Valéry Giscard dÂ’Estaing überraschend am 23. April dem Konventspräsidium vorlegte. Diese lösten dort wie in der Öffentlichkeit heftige Diskussionen aus. Tags darauf beschloss das Gremium eine abgeschwächte Version. Vgl. die Dokumentation in diesem Heft. - D. Red.