An der Spitze der Wissensrevolution.

Nationale Identität, Freiheit und Konsum im Leben internationaler Call-Center-Arbeiter in Kolkata

Erst kürzlich gratulierte der indische Premier-Minister, Atal Behari Vajpayee, seinem Land, "an der Spitze der Wissens-Revolution und Informationstechnologie zu stehen".1 ...

... Dies sei seiner Meinung nach durch die "Entfesselung der Energie und des Unternehmergeists des indischen Volkes geschehen". Seine Aussage widerspiegelt den allgemeinen Optimismus der indischen Mittelklasse gegenüber den Auswirkungen, die die Globalisierung und der sie begleitende technologische Wandel auf ihre Gesellschaft haben werden. Ihre Hoffnungen reflektieren mehr nur als eine ökonomische Vision. Sie verweisen auf eine Veränderung der politischen Vorstellungen von Nation und persönlicher Freiheit, die aufkommt, seit die indische Wirtschaft 1990 für ausländische Investoren und Privatisierungen geöffnet wurde (Rajagopal 2001a; 2001b). Insbesondere bedeutet dies eine Abkehr der indischen Mittelschicht von den Träumen einer protektionistischen, staatlich gelenkten, ‚nehruvianischen‘ Entwicklung, hin zu einem neuen Wunsch nach Selbstverwirklichung durch uneingeschränkten Konsum und Unternehmertum. In diesem Artikel werde ich die Widersprüche dieses neuen, durch den Anschluß an globale Kapitalströme entstandenen Projekts der Freiheit, der nationalen Identität und der Liberalisierung aufzeigen, indem ich untersuche, wie es von Arbeitern an der Spitze der Wissensrevolution erfahren wird. Es geht um die jungen Männer und Frauen, die in den internationalen Call-Centern Kolkatas arbeiten. Internationale Call-Center sind ein wichtiges Feld, um die Verwerfungen dieses neuen Projekts zu untersuchen. Es handelt sich dabei um einen schnell wachsenden Sektor. Call-Center und andere "Back-Office"-Einrichtungen der Informationstechnologie beschäftigen derzeit 70.000 Menschen bei einem gleichzeitig prognostiziertem Wachstum auf 50 Millionen Arbeitsplätze im Jahre 2009.2 Noch bedeutsamer ist, daß diese Expansion den Zugang zu prestigeträchtigen professionellen Arbeitsplätzen, die mit den globalen Finanzströmen verbunden sind, über die oberen Mittelschichten hinaus für Absolventen aus der unteren Mittelschicht eröffnet. Für diese Arbeit ist eine Art "Selbstglobalisierung" der Angestellten konstitutiv. Wegen der Nachtschichten müssen sie ihr Leben umkrempeln. Auch sind sie gezwungen, sich quasi in ‚Amerikaner‘ zu verwandeln, indem sie sich neue Namen, einen neuen Akzent und neue Manieren aneignen. Außerdem besitzt dieser Sektor eine Aura der Angestelltenrespektabilität, obwohl für ihn im Interesse der multinationalen Kunden zugleich Ausnahmen vom bestehenden indischen Arbeitsrecht gelten. Beispielsweise bestimmte das West-Bengalische Landesparlament kürzlich, daß internationale Call-Center die einzigen Unternehmen seien, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und 365 Tage im Jahr betrieben werden dürften und denen es erlaubt ist, weibliche Arbeitskräfte in Nachtschichten einzusetzen. Es gibt keine Gewerkschaft, die die Rechte der Beschäftigten in Call-Centern schützt. Kurz gesagt, diese Branche stellt ein wichtiges empirisches Fenster zur Verfügung, durch welches man auf die Widersprüche der durch Liberalisierung und Globalisierung neu erfahrenen persönlichen Freiheit blicken kann. Der spezifische Kontext indischer Call-Center erlaubt darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit dem theoretischen Globalisierungsdiskurs (Harvey 1989; Castells 1996; Lash/Urry 1987). Wie das vorgestellte Material noch zeigen wird, verdichten sich in den internationalen Call-Centern viele Prozesse, die im Zusammenhang mit der neuen Netzwerk-Gesellschaft stehen, die sich seit den 1970er Jahren herausgebildet hat. Meine Darstellung der Call-Center ergänzt andere anthropologische Arbeiten, die sich gegen eine Überbetonung der Makro-Ebene richten. Ethnografische Forschung soll hier, nach dem von Kasmir (1999) formulierten Motto, "wie globaler Kapitalismus aussieht, wenn er ‚landet‘", betrieben werden (Freeman 2000; Mathur 1998; Mills 1999; Wilson 1999; Wolf 1992).3 Solche Studien erlauben uns, Annahmen soziologischer Modelle großer Reichweite in Frage zu stellen. Auf der Basis meiner Fallstudie argumentiere ich, daß solche Modelle zwei wichtige Aspekte der Globalisierung vernachlässigen. Zum einen, daß sich Vorstellungen nationaler Identität in den durch globale Kapitalströme geschaffenen Arbeitsstätten materialisieren. Dies bedeutet im Gegensatz zu soziologischen Ansätzen, daß solche Ströme niemals als uneingebunden oder einer fremdartigen Sphäre entstammend empfunden werden. Der zweite Aspekt ist, daß die Kontexte neoliberaler Privatunternehmen mit Vorstellungen von Freiheit aufgeladen werden, die wir für gewöhnlich dem Bereich des Politischen zuordnen würden. Diese beiden Einsichten legen nahe, daß wir den Platz des Politischen in der heutigen Welt überdenken müssen. In der folgenden Diskussion werde ich mich auf die Management-Praktiken und die materielle Kultur4 eines internationalen Call-Center-Unternehmens in Kolkata namens Call-Servers konzentrieren. Dann wende ich mich den Modi zu, mit denen die Arbeiter in diesem Unternehmen die Umrisse ihrer Globalisierungs- und Liberalisierungserfahrung umschreiben. Diese Darstellung wird einen Mikrokosmos des aktuellen nationalen indischen Projekts der ökonomischen Transformation eröffnen sowie eine theoretische Neubestimmung der sozialen Erfahrung, die mit derzeitigen Formen des globalen Kapitalismus einher geht.

Die Zukunft der Nation? Das Management von Gefühlen, Konsum und globalen Identitäten bei Call-Servers

Die Firma Call-Servers hat ihren Sitz im erst kürzlich erbauten Infinity-Tower in Salt-Lake nordöstlich der Altstadt Kolkatas. Dieses Gebiet ist eine unwirkliche Mischung aus Reisfeldern und Gärtnereien, durchsetzt mit den glänzenden neuen Hauptquartieren von global operierenden Firmen. Das eindrucksvollste dieser neuen Gebäude ist der von der West-Bengalischen Regierung und Globsy Webel gemeinsam finanzierte Infinity-Tower. Die Büros von Call-Servers nehmen ein ganzes Stockwerk ein. Zwei indische Unternehmer, mit US-amerikanischen Firmen als technischen, finanziellen und Marketing-Partnern im Rücken, gründeten die Firma im Jahr 2000. Derzeit beschäftigt Call-Servers 200 Personen. Die meisten Angestellten verkaufen billige Telefon-Dienstleistungen, die von einer australischen Firma angeboten werden, an Kunden aus den USA. Sechzig Prozent der Angestellten sind unverheiratete Frauen, vierzig Prozent Männer. Alle sind zwischen 21 und 28 Jahren alt. Die meisten sind Absolventen von Provinz-Universitäten mit kaufmännischen oder Hotelmanagement-Abschlüssen, die in eher traditionellen Verkaufs- oder Kundenbetreuungs-Jobs gearbeitet hatten. Viele von ihnen stammen aus Städten außerhalb Kolkatas und sind bei Verwandten untergekommen. Der Sitz der Firma im Infinity-Tower ist äußerst bezeichnend. Dadurch wird dieser privilegierte und technisierte Raum einer status-niedrigeren Mittelklasse-Arbeiterschaft geöffnet. Wie wir sehen werden, ist dies ein Punkt, der im Management der Firma nicht unterschätzt wird. Tatsächlich ist er zentral für die Praktiken und die materielle Kultur der Arbeitsstätte. Dies kommt in folgendem Slogan zum Ausdruck, mit dem die Firma um neue Arbeitnehmer wirbt: "Graduates. Talk your way to a GLOBAL CAREER with Call-servers." Das Versprechen einer globalen Karriere drückt sich nicht nur in Werbeslogans aus. Es materialisiert sich auch im Kontrast von Heim- und Arbeitsumgebung der Call-Center-Arbeiter. Ein erster Hinweis darauf sind die von vielen Arbeitern wiederholten Geschichten ihrer Odysee zur Arbeit, die sie auf sich nähmen, um ihre privilegierte Position zu verbergen. Ab 21.30 Uhr holen Geländewagen inmitten der schwülen Nacht die Vertreter ab. Sie werden in Sechser-Gruppen aus ihren kleinen Drei-Raum-Familienwohnungen in den engen übervölkerten Vierteln Kolkatas fortgebracht. In den Geländewagen machen die Vertreter Witze in amerikanisch gefärbtem Englisch und Bengali, so als würden sie auf eine Party gehen. Ein Agent beschrieb diese Atmosphäre folgendermaßen: "Sobald ich mich in den Jeep gesetzt habe, verlasse ich meine Familie und treffe meine Freunde." Wenn alle eingesammelt sind, fährt der Geländewagen auf die Ost-Umgehungsstraße. Am Ende einer schlaglochreichen Kurve der Umgehungsstraße befindet sich der Infinity-Tower, ein glasverspiegeltes Bauwerk, das etwas einsam am Rand von Reisfeldern steht. Die Vertreter betreten eine klimatisierte Lobby, in der Flötenmusik zu hören ist. Der Lift trägt sie hinauf ins Call-Center; einen in kühlen hellen Farben gehaltenen offenen Raum mit Landkarten der USA an den Wänden, der mit kreisförmig angeordneten Schreibtischinseln und Monitoren angefüllt ist. Anders als in den nationalen Call-Centern Kolkatas zieht man beim Betreten des Büros weder, wie sonst üblich, die Schuhe aus, noch werden dort Feste wie Saraswati puja oder das Bengalische Neujahrsfest Poila Boishak gefeiert. Nationale Call-Center sind vollgestopft mit langen Linien bejahrter Formica-Schreibtische und werden durch lärmende Klimaanlagen gekühlt. Im Gegensatz dazu ist Call-Servers erstaunlich luxuriös. Wiederholt verglichen Vertreter ihren Arbeitplatz mit einem Einkaufszentrum oder einem Fünf-Sterne-Hotel. Sie verwiesen auf den Unterschied zwischen diesem Ort und den Plätzen Kolkatas, die sie für ihre Acht-Stunden-Schicht verlassen hatten. Ein Mann sagte, "Wir sind jetzt in Amerika und es gilt nun amerikanische Zeit." Ein anderer erzählte mir stolz, dies sei eine Sonderwirtschaftszone: "Rechtlich sind wir eigentlich nicht auf indischem Boden, wir sind nicht in Indien." Das Ambiente mit seinen konsumistischen und internationalen Anleihen sowie die Organisation, die sich eher auf Freundschaftsbindungen denn auf soziale Verpflichtungen stützt, sind Bestandteile einer wohlüberlegten Managementstrategie. Die Unternehmenskultur von Call-Servers erschafft Grenzen zwischen dem Hier/Indien und dem Dort/Amerika - das innerhalb des Call-Centers existiert. Sie verheißt den Arbeitern, die Grenzen zwischen diesen beiden imaginären Welten zu überschreiten. Das zentrale Problem für das Management besteht darin, ausgebildetes Personal für einen monotonen Job, der Nachtarbeit erfordert, zu finden und zu halten. Erreicht wird dies nicht durch finanzielle Vergütungen. Die Bezahlung ist für Hochschulabsolventen eher gering; etwa 6.000 Rupien im Monat, was der Bezahlung eines unqualifizierten Grundschullehrers entspricht. Statt dessen versucht das Management, die Arbeiter durch drei explizite Strategien zu halten. Call-Servers praktiziert, was der Ausbildungsleiter und Personalmanager als "Gefühlsmanagement" bezeichnet. Man spricht die Konsumwünsche junger Leute an und läßt die materielle Kultur des Arbeitsplatzes auf Konsumräume verweisen. Betont wird der Glamour internationaler Konversation und einer Ausbildung, die die Identitäten der Angestellten amerikanisiert. Für den Fall, daß all das nicht ausreicht, um die Arbeiter zum Bleiben zu ermutigen, werden Verträge mit der Firma unterzeichnet, die sie für mindestens 18 Monate an die Firma binden. Für das Management bringt die erfolgreiche Kontrolle der Belegschaft durch diese Praktiken Profite, hilft jedoch zugleich auch, eine neue Art des Inders oder Bengalis zu kreieren. Daher ist Call-Servers überaus stolz auf die Ausbildung und die Arbeit, die die Firma anbietet. Die Strategien des Gefühlsmanagements zielen darauf ab, eine freundschaftliche Gemeinschaft zwischen den Arbeitern zu schaffen, die sie an die Arbeitsstätte bindet. Die Fokussierung hierauf beginnt mit der Ausbildung der Trainees, welche Spielsituationen instrumentalisiert, um sie zusammenzuschweißen. Die Trainees werden dann einem ‚buddy‘ im Call-Center zugewiesen, der sie durch die Arbeits-Prozeduren führt. Beim Team-Leiter können sich die Mitglieder des Teams auch einmal ausweinen. Verglichen mit anderen Arbeitsumgebungen in Indien produziert dies eine Atmosphäre verblüffender Informalität, ja Infantilität. Dies geht mit einer seltsamen Leugnung jeglicher sozialer Bindungen und Identitäten außerhalb flexibler und freiwilliger Freundschaften einher. Die Idee einer ungezwungenen, frei gewählten Gemeinschaft wird verstärkt durch die Diskussion über Befehle als Optionen, durch Anweisungen, die nur befolgt werden müssen, wenn sie dem Vertreter nicht allzu große Umstände machen, und durch die Darstellung der Arbeiter als Gewinnbeteiligte, die alle gleich viel Verantwortung gegenüber dem Kunden tragen, wenn Ziele verfehlt werden. Dem Management zufolge ist diese Strategie erfolgreich, weil die Angestellten junge Menschen sind, insbesondere unverheiratete Frauen, die einer Generation von Indern angehören, welche bereits von der Erfahrung der Liberalisierung geformt wurde. Sie sehnen sich nach der Freiheit, die an diesem Ort unverbindlicher Freundschaft, jenseits beschränkender Familienbande, geboten wird. Sie begnügen sich nicht damit, sich finanziell auf ihre Familien zu verlassen, da sie aktivere Konsumenten als frühere Generationen werden wollen. Diese Konstruktion von Bindungen ist dazu gedacht, Angestellte aus den Verwandtschaftsgefügen herauszulösen und in die Geselligkeit der Arbeit einzubinden. Bei Call-Servers dienen Gefühle auch dazu, Angestellte vertikal an Manager zu binden. Ebenso beruht die Freundschaft zu Kollegen und Vorgesetzten auf einer Ikonographie der Jugend und der Freiheit von Verpflichtungen. Sie basiert daher weniger auf zivilgesellschaftlichen Ideen gegenseitiger Solidarität und Gemeinsinn, die mit Freundschaft z.B. in indischen Staatsbetrieben verbunden werden, sondern eher auf fragilen individuellen Bindungen.5 Konsumwünsche werden vom Management nicht nur als Quelle williger Angestellter betrachtet. Sie sind in die materielle Kultur und das Ambiente der Arbeitsstätte eingebaut. Der Ausbildungsleiter erwähnte, daß das Call-Center so gestaltet wurde, um wie die neuerdings im Stadtbild auftauchenden klimatisierten Einkaufszentren zu wirken. Die hellen, kreisförmig angeordneten, vielfarbigen Schreibtische, Plüschteppiche und allgemein übersprudelnde Neuheit zitieren sicherlich solche Orte. Einer der Gründer der Firma besteht darauf, daß hier zu arbeiten Spaß machen müsse. Dies werde zum Teil erreicht, indem man den Auszubildenden in den Pausenzeiten amerikanische Filme und Musik vorspielt. Dies verwandelt Arbeit in Entertainment und habe den wertvollen Nebeneffekt, Aussprache und Sprachgewohnheiten der Angestellten zu verbessern. Die Manager betonten generell, daß die Angestellten spielen dürften und ihre Freizeit genießen sollten. Sie werden dazu ermutigt, während ihrer kurzen Pause auf der Terrasse Fangen zu spielen oder E-Mails an Freunde zu verschicken. Im Call-Center werden Konsum und Unterhaltung in die Arbeitsstätte eingebettet. Während die Angestellten arbeiten, eignen sie sich so auch Konsumgewohnheiten und -präferenzen an. Zusätzlich zu diesen Anreizen betonen die Manager, daß die Arbeit im Call-Center und die dortige Ausbildung den Leuten den Zugang zu einem sie verändernden Weltbürgertum eröffne. Zum Beispiel vertritt der Firmengründer die Auffassung, daß sie junge ungeübte Leute durch Tausende von Gesprächen mit globalen Kunden einer Kultur aussetze, die sie völlig verändere. Die Ausbildung, die neue Trainees erhalten, sei so angelegt, daß sie zu Vertretern gemacht würden, die so etwas wie customer delight (Kundenglück) produzieren. Dies gelinge durch ihre Transformation in amerikanisierte Inder, für die die Kundenbetreuung zur zweiten Natur wird, "so daß", wie es einer der Trainees formulierte, "jeder innerhalb und außerhalb des Arbeitskontexts für dich zum Kunden wird". Ebenso muß eine begrenzte und imaginäre Form des ‚Amerikanischseins‘ verinnerlicht werden. Mittels ausgefeilter Sprechtechnik-Übungen werden bengalische Akzente neutralisiert. Die Trainees werden dazu angehalten, nicht ihre regionalen Sprachen, sondern immer American English zu sprechen. Auch dürfen sie im Büro ausschließlich ihre neuen amerikanischen Namen verwenden. Der Namenswechsel sorgt in der Regel für eine wirkungsmächtige imaginative Investition persönlicher Hoffnungen in die Arbeit. Einer der jungen Anglo-Inder gab sich den Namen Rex White. Ein indischer Christ nannte sich selbst Trevor Gates - nach seinem Idol Bill Gates. Ein Mann brachte seine ambivalente Haltung gegenüber der Namensänderung zum Ausdruck und erzählte, er hätte sich den Namen Eric Bond wegen des Zwangsvertrags gegeben, den er mit der Firma eingehen mußte. Trainees werden auch dazu ermuntert, sich durch das Lernen aus Videofilmen und Rollenspielen amerikanische Redewendungen und ein informelles, geschlechtsneutrales Benehmen anzueignen. Der Ausbildungsleiter des Call-Centers erzählte mir stolz, daß durch die hier bewerkstelligte Transformation eine neue Generation von Unternehmern und Weltbürgern erschaffen werde. Bei Call-Servers nehmen Globalisierung und Weltläufigkeit einen sehr spezifischen Charakter an. Das schließt die Neutralisierung bengalischer und indischer Identitäten ein. Die Arbeiter wechseln zwischen einem ‚statischen‘ Zuhause und einem ‚fluiden‘ Arbeitsplatz, der weit davon entfernt ist, neutral oder international zu sein, sondern eindeutig als amerikanisch oder fremd bezeichnet werden muß.6 Wie es der Firmengründer ausdrückt, muß man "auf der Grundlage der Gewohnheiten und Kultur eines fremden Landes arbeiten, das man nicht kennt". In der Tat sind Call-Center-Arbeiter niemals entwurzelt, sondern eng eingebettet in ein ‚amerikanisches‘ Arbeitsumfeld. Dieses Bild Amerikas ist natürlich eine idealisierte Vorstellung, die von Trainern der technologischen und finanziellen Partnerfirmen in den Staaten vermittelt wird. Diese Trainer besuchen Call-Servers in regelmäßigen Abständen, um die Qualität der ‚Ich-bin-Amerikaner-Performance‘ der Vertreter zu überwachen. Sowohl amerikanische als auch indische Ausbilder stellen Amerika als einen imaginären Ort der Freiheit, Brüderlichkeit und des Unternehmertums dar. Die Praktiken des Call-Centers suggerieren, daß Amerikanisierung die einzige Form sei, die die Globalisierung annehmen könne.7 Es ist daher möglicherweise überraschend, daß indischer Nationalismus bei Call-Servers eine wichtige Rolle spielt. Und doch, Arbeiter und Management bestanden gleichermaßen darauf, einen einzigartigen und wichtigen Beitrag für ihr Land zu leisten. Zum Beispiel verwies der Gründer der Firma in Reden an neue Angestellte darauf, sie würden zu außerordentlich leistungsstarken Unternehmern ausgebildet werden. Er fügte hinzu, daß sie, wenn sie die Firma einmal verlassen, durch ihre individuellen Bemühungen dazu beitragen werden, aus der indischen Nation einen prosperierenden wirtschaftlichen Riesen zu machen. Diese Aussage ist Teil der kollektiven Vision der neuen nationalen Konsum-Zukunft. Ihr zufolge ist die Liberalisierung, basierend auf der Befriedigung des Konsumenten, eine Revolution, die soziale und ökonomische Vorteile für die gesamte Bevölkerung bringen wird. Die Ausbildungsleiterin sagte, sie wäre stolz auf ihre Arbeit, da sie dazu beitrage, eine neue indische Generation zu erschaffen, die gleichberechtigt auf den Weltmärkten konkurrieren könne. Diese Sicht spiegelt sich in den Bemerkungen von Vertretern, die wiederholt sagten, sie wären zu Call-Servers gekommen, um weltweit mit Leuten in Kontakt zu kommen und um mit ihrer Intelligenz zum Aufbau der indischen Wirtschaft beizutragen. Sie waren insbesondere stolz darauf, der Wirtschaft Humankapital zur Verfügung zu stellen und nicht bloß ihre physische Arbeitskraft. In dieser Sichtweise der Nation wird Kultur auf eine eindimensionale Eigenschaft reduziert, die globales Kapital anziehen soll. Alle Angehörigen des Managements wiesen darauf hin, daß Indien neben seinem hohen Bildungsniveau und gutem Englisch Menschen biete, die aufgrund ihrer Kultur ungewöhnlich gut für die Kundenbetreuung geeignet wären. Auf der anderen Seite erscheint Geschichte als etwas, das komplett ausgelöscht werden müsse. In Diskussionen mit dem Management wurden alle Aspekte der indischen Vergangenheit - von den ,zemindari-Mentalitäten‘8 bis zum öffentlichen Dienst - als Hindernisse auf dem Weg zu nationaler Prosperität betrachtet. Insgesamt beruhen die Arbeitspraktiken und der Managementstil von Call-Servers auf der Idee, daß die Arbeit dort Selbstverwirklichung beinhalte. Damit ist die Freiheit, ‚du selbst zu sein‘, gemeint, die durch Freundschaft, Konsum und der Abkehr vom bengalischen Selbst erlangt werde. Diese Freiheit beinhaltet einen Prozeß fortschreitender Loslösung von anderen Formen sozialer Bindung und Identität. Die Abnabelung geschieht auf der abstrakten Ebene der Kultur- und Geschichtsneutralisierung und auf dem sehr persönlichen Feld der Abgrenzung von den eigenen sozialen Netzwerken. Schon die Art der Arbeit - Nachtschichten und die Nichtberücksichtigung nationaler Feiertage - trägt zu dieser Abspaltung bei. Die verbleibenden Bindungen sind die individualisierten, emotionalen Freundschaftsbande und die Geschäftsbeziehungen zu Kunden und Arbeitgebern. Diese Selbstverwirklichung geschieht in einem Raum, der für jeden Beteiligten klar als amerikanisch gekennzeichnet ist. Letztlich müssen die Angestellten der unteren Mittelklasse sich für eine globale Karriere von Kopf bis Fuß in Nicht-Bengalen verwandeln, während sie gleichzeitig in Kolkata leben und arbeiten. Und dennoch ist es Vorgesetzten und Angestellten klar, daß der individuelle Freiheitsgewinn durch die Arbeit im Call-Center einen Teil des Projekts der Liberalisierung darstellt, der ihre Nation stark machen wird. In dieser Vorstellung wird das Call-Center zum Vorbild der Nation: ein Raum voller wirtschaftlichem Potential und Humankapital, das von Freundschafts-, Konsum- und Geschäftsbeziehungen zusammengehalten wird. Diese Nation ist durch ökonomische und technologische Netzwerke mit einer umfassenderen Wettbewerbswelt verknüpft. Ihr gelten diejenigen Aspekte der Kultur als wertvoll, die einen Nutzen besitzen. Ihre Zukunft liegt in fortschreitender Geschichtsverdrängung und dem Erlangen einer globalen/amerikanischen Identität. Diese Arbeitsplatz-Utopie bleibt dennoch nicht gänzlich unhinterfragt. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, verweisen die Berichte der Arbeiter auf die Komplexität des Zwiespalts zwischen "dem Leben in Indien, aber der Arbeit in Amerika".

Erzählungen vom Widerspruch: Eingebettete Orte, bedeutungslose Zeit, harte Arbeit und abgebrochene Kommunikation

Die Arbeiter bei Call-Servers teilen den Enthusiasmus der Manager für ihre Arbeitsumwelt als Ort der Selbstverwirklichung. Ihr glamouröser Hightech-Arbeitsplatz ermöglicht ihnen, Distanz zwischen sich und anderen Bengalis der unteren Mittelklasse zu erzeugen. Insbesondere betrachten sie sich als verschieden von ihren Eltern, die für indische Firmen oder im öffentlichen Dienst gearbeitet hatten. Die meisten von mir Interviewten meinten, diese Arbeit hätte bereits zu wichtigen Persönlichkeitsveränderungen geführt, die ihnen im Leben zum Erfolg verhelfen würden. Dennoch sind diese Erzählungen vom befreienden kulturellen Kapital und dem neuen aus der Arbeit gewonnenen Selbstverständnis nicht die einzigen Geschichten, die die Arbeiter des Call-Centers erzählen. Wie berichten sie über die widersprüchlichen Aspekte der Versprechungen ihrer Manager von einer globalen Karriere? Zum einen tun sie dies unter Bezugnahme auf die unvermeidlichen Gefahren ihrer nächtlichen Fahrt zur Arbeit. Diese wird im allgemeinen als eine reibungslose Durchfahrt beschrieben, die sie Schritt für Schritt aus Kolkata herauslöst. Aber das Trügerische dieses Vorgangs kehrt in den Erzählungen von den Gefahren wieder, denen die Arbeiter in ihren paras (Vierteln) ausgesetzt sind, wenn sie diese Fahrt auf sich nehmen. Ein Mann erklärte mir, daß paralok (Nachbarn) manchmal die Geländewagen anhielten und fragen, welche goondaism (strafbaren Handlungen) sie im Schilde führten, wenn sie so spät ausgingen. Eine Frau Mitte zwanzig sagte, die Nachbarn würden hinter ihrem Rücken schlecht über sie reden: eine junge unverheiratete Frau, die elegant gekleidet in einem Auto verschwindet und die ganze Nacht fortbleibt. Sie fügte hinzu, daß sie jeder innerhalb des para für unmoralisch halte. Ein anderer Mann erzählte mir, er hätte sich sehr gefürchtet, als er während eines CPI(M) bandh9, das anläßlich der letztjährigen Unruhen in Gujarat ausgerufen wurde, heraus mußte. Seine Frau und Familie weigerten sich, ihn gehen zu lassen, aus Angst, er könne aufgehalten und zusammengeschlagen werden. Es gab eine heftige Auseinandersetzung, aber er mußte zur Arbeit. Während das Management verspricht, daß sich die Menschen als freie Individuen, kraft ihres Willens, aus dem politischen und lokalen Kontext Kolkatas lösen könnten und zu einer Gemeinschaft globaler Arbeiter würden, verweisen diese Erzählungen auf die Unmöglichkeit eines solchen Traumes. Die Arbeiter gehören niemals vollständig der statischen Wohn- oder der fluiden Arbeitssphäre an, sondern leben ihr Leben in einem verstörenden Nexus dieser beiden Zonen. Die Zugehörigkeit zu internationalen Arbeitsrhythmen und zu einer freien Freundschaftsgemeinschaft wird den Arbeitern als etwas Aufregendes präsentiert. In der Mehrzahl der Gespräche wird dies aufgegriffen, indem sie enthusiastisch Dinge sagen wie: "Wir halten uns hier auf, tatsächlich aber befinden wir uns in Amerika"; oder: "Wir schwitzen hier nicht in der Sonne. Wir kommen und gehen nachts. Wir sind hier in einer komfortablen Position, setz dich nicht der indischen Sonne aus". Aber die gleichen Menschen sprachen davon, wie ihr Leben durch sinnentleerte Zeit und nicht übertragbare Fähigkeiten in Besitz genommen wird, die sie ihren Familien und Gemeinschaften entrücken. Sie beschwerten sich darüber, daß ihre Feiertage nur amerikanische seien - Erntedank und Weihnachten -, die für sie keinen Wert hätten. Was ferner auf die Schwierigkeiten verweist, während der eigenen religiösen Festlichkeiten den Kontakt zu ihren Großfamilien aufrecht zu erhalten. Ebenso löst sie die Nachtarbeit aus den vertrauten Beziehungen zu ihren Partnern und Kindern heraus. Ein Arbeiter sagte: "Jeden Tag muß ich mich zwischen Schlaf, meinen Freunden und der Arbeit auf der einen Seite und meiner Frau und meinem Kind auf der anderen Seite entscheiden. Dies ist kein Job wie jeder andere, aber man muß so tun, als wäre er das. Wir verlieren jegliches Zeitgefühl. Wenn wir heute meinen, sagen wir gestern. Gestern war für uns vorgestern. Es hat keine Bedeutung." Ein anderer erzählte davon, wie er unversehens zu unpassenden Gelegenheiten von seiner Ausbildung eingeholt werde: "Jedes Mal, wenn ich jetzt in der Kirche lese, beginnt mein amerikanischer Akzent zurückzukommen und die Kontrolle zu übernehmen. Meine Freunde werden sauer und sagen, du warst doch noch nie in Amerika." In diesen Berichten wird klar, daß die Verbindungen zu globalen Kreisläufen bei der Arbeit um den Preis der Unterbrechung anderer lokaler sozialer Netzwerke und Zeitabläufe hergestellt werden. Die Menschen bei Call-Servers erleben die "zeitlose Zeit", die die Technik benutzt, um den begrenzenden Kontexten der "Uhrzeit" und der "bio-sozialen"-Zeit zu entfliehen, als schmerzhaft, desorientierend und gegenstandslos.10 Insbesondere nehmen sie die technologische Zeitlichkeit des Call-Centers niemals als ‚Zeitlosigkeit‘ wahr, sondern erleben sie eindeutig als amerikanische Zeit. So entsteht gerade im Kern der rein "technischen Zeit" wieder ein Ortsempfinden. Dieses Erleben stimmt nicht mit den Versprechungen der Manager über die Magie der Raum- und Zeitlosigkeit des Anschlusses an globale Kreisläufe überein. Es ist die Erfahrung des Arbeitsprozesses selbst, von der die dissonantesten Erzählungen der Angestellten berichten. Im Gegensatz zum Versprechen der Selbstverwirklichung bindet die Arbeit die Menschen an den Rhythmus einer Maschine, die automatisch Nummern in einem vorgegebenen Rhythmus wählt. Es dauert 20 Sekunden, bis eine Nummer gewählt ist, und die Vertreter werden dazu angehalten, nicht länger als zehn Minuten mit einem Kunden zu sprechen. Im Büro ist es den Leuten selten möglich zu plaudern. Die Luft ist angefüllt mit dem Piepen, das eine aufgebaute Verbindung ankündigt. Die Schichten gehen von 23.30 Uhr bis 7.30 Uhr, mit zwei zwanzigminütigen Pausen und einer zehnminütigen Pause. Anrufe werden automatisch aufgenommen und von Teamleitern überwacht. Die Vertreter müssen immer höflich sein, was auch immer der Kunde am anderen Ende von sich gibt. Sie dürfen nicht zugeben, daß sie aus Indien anrufen, sogar wenn die Person am anderen Ende danach fragt. Die Vertreter beschreiben sich selbst als durch die Arbeit lediglich auf eine Stimme reduziert, die am Ende der Schicht genauso frisch, enthusiastisch und höflich klingen muß wie am Anfang. Jeder andere Aspekt ihres Körpers muß an den Rhythmus des Einwahlcomputers und an kontrollierte, überzeugende und transparente Kommunikation angepaßt werden. Während die Maschine für sie wählt, fühlen sie buchstäblich, wie ihr Körper zu einem Teil der Maschine und deren Zeit-Disziplin unterworfen wird. Die Technik mag sie zu zeitlosen Sequenzen der Simultanität verbinden, aber dies wird als physische Arbeit erlebt. Ganz im Gegensatz zu den Behauptungen, die in anderen Zusammenhängen über internationale Call-Center als Orte der High-Tech-Arbeit geäußert werden, betonen die Vertreter die Mühsal ihrer Arbeit. Häufig äußerten sie, die wichtigste Eigenschaft eines internationalen Call-Center-Angestellten sei physische Ausdauer, um die Nachtschichten durchstehen zu können. Das technologisch reduzierte Selbst des Arbeiters steht grundlegend im Widerspruch zu den Erwartungen an Call-Servers als einen mit den globalen Zirkeln fugenlos verbundenen Ort luxuriöser Konsum-Freiheit. Diese Äußerungen verraten Enttäuschung über die halluzinatorische Umgebung des Call-Centers und drücken den Schock über die Art und Weise der Interaktion mit den Kunden aus. Die Arbeiter, die sich amerikanisierten, um glückliche Kunden zu produzieren, und die erwarten, gleichberechtigt zu kommunizieren, erleben statt dessen eine häufig abgebrochene, monotone und ungleichberechtigte Kommunikation. Sie sprechen tief enttäuscht und gekränkt darüber, daß die meisten Kunden auflegen, Anrufe abblocken, Ausflüchte suchen, lügen oder sie beschimpfen. Teamleiter berichten, eine ihrer Hauptaufgaben sei, durch solche Interaktionen aufgebrachte Arbeiter zu beruhigen. Die Erwartung einer gleichberechtigten Beziehung in globalen Verbindungen ist die zentrale Selbsttäuschung im Kern dieser Branche und im Kern des indischen Globalisierungs-Projekts. Die Call-Center-Arbeiter haben für diesen Traum ihr Selbst angepaßt und ihr Leben umgestellt. In ihren Erzählungen über abgebrochene Kommunikationen setzen sie sich mit der verwirrenden Tatsache auseinander, daß Globalisierung mit ungleichen ökonomischen Beziehungen und dem Geschäftemachen mit fernen, zögerlichen Kunden zu tun hat. Insgesamt betonen dieses Erzählungen die Wiederkehr von Elementen, von denen angenommen wurde, sie seien vom globalisierten Hightech-Arbeitsplatz internationaler Call-Center und der liberalisierten industriellen Zukunft Indiens verbannt. Erstens tauchen die Verpflichtungen des Ortes wieder auf. Im Call-Center ist es den Arbeitern unmöglich, sich von den Orten, an denen sie leben, zu distanzieren und unabhängige freie Akteure zu sein. Sie bleiben Gemeinschaftsnetzwerken und lokaler Politik Rechenschaft schuldig. Persönliche Verwandtschafts- und Gemeindebeziehungen verschwinden nicht. Individuelle Selbstverwirklichung am Arbeitsplatz führt zu gewaltigen Kosten im Hinblick auf persönliche Beziehungen. Zweitens melden sich "bio-soziale" Rhythmen in der Hightech-Arbeitsumgebung zurück, die die technische Zeit ignorieren. Die Körper der Arbeiter ermüden während der Schicht. So tritt im Kontext einer hochtechnisierten Wissensökonomie wieder physische Arbeit auf. Arbeiter werden an den Rhythmus einer Maschine gekettet. Drittens kehrt die Ungleichheit im Raum gleichmacherischer globaler Ströme wieder. Kommunikation mit amerikanischen Kunden, zu denen ja auch die Arbeiter durch ihre Ausbildung geworden sein sollten, ist einseitig und wird oft abgebrochen. Internationale Call-Center wie Call-Servers sind ein Mikrokosmos der Liberalisierungs- und Globalisierungszukunft in Indien, aber sie beinhalten auch all die Fallstricke dieser Vision. Arbeiter an diesen Orten äußern daher leise kritische Kommentare bezüglich der Illusionen des gegenwärtigen nationalen ökonomischen Projekts in Indien. Vielleicht werden Firmen wie Call-Servers, so wie sie es beabsichtigen, die nächste indische Generation produzieren. Dennoch könnte diese Generation, trotz ihrer Ausbildung, nicht länger die nationalistischen und ökonomischen Träume ihrer Arbeitgeber teilen. Es ist noch zu früh zu sagen, welches das politische Ergebnis dieser Desillusionierung sein wird.

Fazit: Neubestimmung des Stellenwerts der Politik im heutigen globalen Kapitalismus

Diese ethnographische Analyse der Firma Call-Servers hat wichtige Implikationen für unser Verständnis der Modi sozialer Erfahrungen, die aus den derzeitigen Formen des globalen Kapitalismus entstehen. Sie verweist insbesondere auf die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Stellenwerts des Politischen. Entgegen der Behauptung des neoliberalen Diskurses haben wir uns nicht von einer Situation, in der der Nationalstaat das Management der Bevölkerung und der Wirtschaft übernahm, hin zu einer Situation bewegt, in der Privatunternehmen freie Hand hätten. Statt dessen hat sich der Schauplatz der Politik zum Teil aus dem öffentlichen Sektor in den privaten Sektor verschoben (Foucault 1991; Hibou 2003). Es ist die Übertragung politischer Projekte der Freiheit und der nationalen Identität in den Bereich des Unternehmertums, die wir bei Call-Servers am Werk sehen. Dieser Prozeß blieb bisher in soziologischen Modellen der Globalisierung größtenteils unerforscht, da solche Modelle annehmen, globale Informations- und Kapitalströme würden ihre neutralen, abstrakten Qualitäten bewahren, wenn sie an anderen Orten eingebettet werden. Diese Ströme aber bleiben nicht abstrakt. Wenn sie dort ankommen, sind sie bereits von bestimmten nationalen Vorstellungen geprägt und haben Anschluß an politische Projekte ökonomischer und sozialer Transformation gefunden. Wir können diesen Prozeß in indischen internationalen Call-Centern auf drei bemerkenswerte Arten am Werk sehen, die drei neue Forschungsansätze hinsichtlich des globalen Kapitalismus nahelegen. Das Beispiel der internationalen Call-Center enthüllt erstens, daß der Ort abstrakter globaler Ströme weder von den Wohnorten abgesondert ist, noch daß diese beiden Sphären von unterschiedlichen Gruppen besetzt sind. Soziologische Makro-Modelle suggerieren oft, daß aus den globalen Informations- und Kapitalströmen nur eine politische Zukunft hervorgehen wird. Im großen und ganzen gilt die These, daß diese Zukunft die Möglichkeit politischer Solidarität verringert, da die soziale Erfahrung der Eliten und der breiteren Bevölkerungsschichten auseinanderklafft. Diese Modelle nehmen an, daß allein Eliten zunehmend kosmopolitisch werden, unter individualisierten, flexiblen Arbeitsregimen arbeiten und sich an globalen Kreisläufen ausrichten. Im Gegensatz dazu würde die Mehrheit der Menschen zunehmend in Partikularismen isoliert, festgesetzt und segmentiert sein und sich über die Identifikation mit Orten definieren. In Indien kann dieses Modell aus der Perspektive dessen, was man als das neue Proletariat der Wissensökonomie bezeichnen könnte, in Frage gestellt werden. Der Arbeitsplatz des internationalen Call-Centers schweißt elitäre politische Träume und Erfahrungen an einem schwierigen Arbeitsort der unteren Mittelklasse zusammen. Die widersprüchlichen Auswirkungen des Arbeitens in einem solchen Kontext führen zu leisen Narrativen der Kritik seitens der Angestellten. Alles in allem verweist dies darauf, daß wir viele andere Kontexte bisher vernachlässigt haben, in denen sich die Sphäre der internationalen Kreisläufe und die statische Sphäre des Lokalen im Alltagsleben der Menschen auf Weisen vermischen, die unerwartete Folgen für die Voraussage politischer Zukünfte haben. Die Prognosen einer Desorganisation und Unterdrückung politischer Solidaritäten in der Netzwerk-Gesellschaft sind daher hochgradig übertrieben. Statt dessen werden diese Solidaritäten neue Formen annehmen, die sich aus den neuen Erfahrungen speisen, welche die Menschen bei der Arbeit an global eingebundenen Arbeitsplätzen machen, wodurch nationale und politische Identitäten in den Kontext privater globaler Unternehmen eingebettet werden. Zweitens erscheint es im Gegensatz zu vielen aktuellen Modellen der Netzwerk-Gesellschaft im Hinblick auf das Beispiel Call-Servers offensichtlich, daß die "Sphäre der globalen Ströme" niemals als entwurzelter Ort empfunden wird, der ausschließlich unter dem Regime "zeitloser Zeit" stattfindet. Statt dessen erzeugen materielle Kultur wie auch Managementpraktiken des internationalen Call-Centers klare Grenzen zwischen einem imaginären Hier/Indien und Dort/Amerika. Die Erfahrung der Arbeiter verweist daher immer auf einen bestimmten Ort auf dem Globus. Auch die "zeitlose Zeit" des Arbeitsplatzes ist durch den Imperativ des Einwahlcomputers mit einer alten Form der Zeit-Disziplin durchtränkt. In ihrem Zentrum steht ein Ortsempfinden, das der scheinbaren Überwindung aller Ortsbezüge widerspricht: die technologische Zeit bleibt für die Arbeiter immer amerikanische Zeit. Als Arbeiter in einem global eingebundenen Unternehmen erlernen Menschen spezifische selektive und nationalistische Vorstellungen von ‚amerikanischer‘ Arbeitskultur. Dementsprechend werden im internationalen Call-Center spezielle Versionen Amerikas und Indiens inszeniert und in Beziehung zueinander gelebt. Dies deutet darauf hin, daß es möglicherweise viele andere globalisierte Arbeitsplätze auf der Welt gibt, die keine "Nicht-Orte" sind, sondern Orte der Produktion spezifischer Ideen von ‚Örtlichkeit‘ und Identität, welche die Wünsche der Arbeiter mit bestimmten imaginierten Orten verbinden.11 Es ist daher wichtig, daß wir bei der Analyse der Kontexte, in denen multinationale Unternehmen vor Ort "landen", darauf achten, wie sich ihre Ausstattung und Inszenierung von lokalen Unternehmen unterscheidet. Ansonsten werden wir einen wichtigen Schauplatz der Wandlung der Idee der Nation in der globalen Ökumene übersehen. Dies führt uns zum dritten wichtigen Pfad, auf dem abstrakte globale Ströme in spezifische politische Vorhaben eingebettet werden. Die Arbeit in indischen internationalen Call-Centern ist mit aktuellen nationalistischen Visionen verwoben. Call-Servers fördert die Imagination Indiens als Ort des Konsums, des Unternehmertums und der Selbstverwirklichung. All dies deutet darauf hin, daß wir den nationalen Projekten, die in anderen globalisierten Arbeitsstätten eingebettet sind, mehr Beachtung schenken müssen. So wie staatliche Projekte heute neue Formen annehmen, müssen wir auch unsere Vorstellungen über die Kontexte, in denen die Nation definiert wird, über den öffentlichen Sektor oder die öffentliche Sphäre hinaus erweitern. Internationale Call-Center in Indien zeigen auf dramatische Weise, daß globales Kapital, so wie es in mannigfaltigen Kontexten einbettet ist, bei der Konstruktion von Nationen, Konsumenten-Bürgern und einer unvorhersagbaren politischen Zukunft eine Rolle spielt. Unsere Modelle und Ethnographien des globalen Kapitalismus waren überraschend langsam in der Wahrnehmung dieser wichtigen Verschiebung staatlicher Projekte und Ideen in den Bereich privater Unternehmen. Es ist nötig, unsere Vorstellungen über die Verortung des Politischen und die Kontexte, in denen Freiheit imaginiert wird, radikal zu überdenken, um den Anschluß an die aktuellen globalen Realitäten zu finden. Aus dem Englischen von Markus Schrenker Anmerkungen 1 Atal Behari Vajpayee zitiert aus The Hindu (9/23/00). 2 Tabellen der National Association of Software and Services Companies in (31/12/01) ‘G.E. emerges big shot of IT-enabled servicesÂ’, The Economic Times, New Delhi. 3 Vgl. Kasmir (1999: 382). 4 Mit "materieller Kultur" ist die gesamte gegenständliche Inszenierung des Arbeitsplatzes von der Architektur über die Raumausstattung etc. gemeint. [Anm. der Redaktion] 5 Diese Freundschaft unterscheidet sich von der von Parry (1999) in staatlichen Stahlwerken beschriebenen. Hier erleben Arbeiter eine alltägliche öffentliche Sphäre, die es ihnen ermöglicht, horizontale Freizeit- und Freundschaftsbindungen einzugehen, die die Kastenzugehörigkeit transzendieren. 6 Diese Begrifflichkeiten stammen von Castells (1996). Allerdings betrachtet er sie als sich extrem unterscheidende Orte, die von verschiedenen elitären bzw. untergeordneten Gruppen besetzt sind. 7 Diese Praktiken haben vieles gemeinsam mit den von Junghans (2001) beschriebenen Praktiken von NGOs in Ungarn, die darauf abzielen, ehemaligen Sozialisten beizubringen, wie man amerikanischer Unternehmer wird. Diese Vorhaben kreieren einen Mythos der Gutartigkeit und Fairneß der marktwirtschaftlichen Systeme Westeuropas und Amerikas. 8 Zemindaris waren die Großgrundbesitzer im indischen Norden. [Anm. der Redaktion] 9 Politische Protestform, einem Generalstreik ähnlich, bei der auch Läden und öffentliche Dienste geschlossen bleiben. [Anm. der Redaktion] 10 Der Ausdruck "zeitlose Zeit" stammt von Castells. Er legt nahe, daß dieses Gefühl für Zeit in Dualität zu dem neuen "Ort der internationalen Ströme" existiert und daß es zunehmend disziplinäre und bio-soziale Zeit ersetzt. 11 Für eine ältere und koloniale Version dieses Prozesses am Beispiel der indischen Eisenbahn-Kolonie, welche eine andere kulturelle und ethnische Dynamik hatte, vgl. Bear (1994). Literatur Bear, Laura (1994): Miscegenations of modernity: Constructing European respectability and race in the Indian Railway Colony, 1857-1931. WomenÂ’s History Review 3 (4): 531-548. Castells, Manuel (1996): The Rise of Network Society. 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