"Schrei nach Gerechtigkeit!"

Hattinger Memorandum gegen soziale Ausgrenzung

in (30.06.2003)

Verabschiedet auf dem Bundestreffen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen am 01. Juni 2003 in Hattingen an der Ruhr

Die Enteignung von Erwerbslosen stürzt Millionen in die Armut und treibt die Spaltung der Gesellschaft voran!

Die Agenda 2010 ist ein weiterer gravierender Schritt zur Demontage der sozialen Sicherungssysteme. Diese Politik der Privatisierung sozialer Risiken auf dem Rücken von Erwerbslosen bricht mit den letzten Prinzipien des Sozialstaatsgedankens und schafft keine Arbeitsplätze. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen fordert: Arbeitslosigkeit darf nicht zu Armut und Verelendung führen! Die Ziele der Sozialhilfe als unterstes Netz sozialer Sicherung müssen erhalten bleiben! Seit Jahren wird versucht, die Verantwortung für die Massenarbeitslosigkeit auf die Betroffenen und unser System der sozialen Sicherung abzuwälzen: Die Erwerbslosen und die ArbeitnehmerInnen seien nicht bereit, geringqualifizierte, niedrigentlohnte Jobs anzunehmen, sie seien nicht flexibel genug und bemühten sich nicht ernsthaft um einen Ar-beitsplatz. Zudem seien die Lohnersatzleistungen zu üppig und böten keinerlei Anreize, niedrig entlohnte Beschäftigung anzunehmen. Flankiert wird diese Argumentation durch die Klage, die Lohnnebenkosten seien zu hoch und der Sozialstaat zu teuer. Dies benachteilige den Wirtschaftsstandort im internationalen Wettbewerb und blockiere die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze. Diese gebetsmühlenartig wiederholte Botschaft ist nun endgültig in Gesellschaft und Politik angekommen - auch bei den Regierungsparteien, deren VertreterInnen trotz allem immer noch vorgeben, für "soziale Gerechtigkeit" einzutreten. Spätestens mit der Umsetzung der Hartz-Vorschläge in den "Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Ar-beitsmarkt" wurde dieser Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik offen vollzogen. Bereits hier sollen knapp drei Milliarden Euro bei der Arbeitslosenhilfe eingespart werden, 500 000 Ar-beitslosenhilfebezieherInnen und ihre Familien verlieren im Zuge der Umsetzung den Anspruch auf die Lohnersatzleistung ganz, 1,3 Millionen haben erhebliche Leistungseinschnitte zu verkraften. Die Betroffenen erleben einen sozialen Absturz ohne-gleichen. Die Agenda 2010 knüpft an diese Kahlschlagpolitik an und setzt sie fort. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, der Herabsetzung der Leistungshöhe auf Sozialhilfeniveau und sogar darunter sowie der kürzeren Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Erwerbslose werden einmal mehr diejenigen abgestraft, die bereits jetzt gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren. In Folge dieser Politik werden Millionen Menschen, die jetzt Arbeitslosenhilfe beziehen, mit ihren Familien in die Armut gedrängt. Dabei ist nicht nur die Therapie völlig falsch, auch die Diagnose unterliegt einem fatalen Irrtum: Der große Mangel an Arbeitsplätzen in der BRD ist überwiegend systemimmanent und wird auch bei einer konjunkturellen Erhöhung der Wirtschaftsleis-tung durch die eingeschlagene "Reformpolitik" nicht kurzfristig zu beheben sein. Die Lohnstück-kosten in Deutschland sind trotz angeblich zu hoher Lohnnebenkosten im internationalen Vergleich auf niedrigstem Niveau. Die Unternehmenssteuern sind hierzulande so niedrig wie nirgendwo in "Euroland". Allein durch die Unternehmenssteuerreform 2001 gingen dem Bund 24 Milliarden Euro an Körperschaftssteuer verloren. Hinzu kommen Verluste bei den Kom-munen in Höhe von zehn Milliarden Euro. Während hier die Ursachen für die Finanzkrise der öffentlichen Hand zu suchen sind, führten diese Steuer-geschenke in Milliardenhöhe keinesfalls zu Investitionen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, im Gegenteil: Sie sicherten trotz anhaltender Wirt-schaftsflaute die Profite der Kapitaleigner und vergrößerten die Kluft zwischen Arm und Reich in diesem Land. Die aktuelle Therapie, die den Ansatz verfolgt, die Leistungen für Erwerbslose auf breiter Front zu senken, sie mit mehr Druck aus dem Leistungsbezug zu drängen, durch erhöhte Zumutbarkeit und ökonomischen Druck den Weg in Niedriglohn und prekäre Beschäftigung zu bereiten sowie die Leiharbeit salonfähig zu machen und damit lange erkämpfte Rechte von ArbeitnehmerInnen abzubauen, zielt auf das ab, was die Unternehmensver-bände schon lange fordern: Das gesamte Lohnniveau soll dauerhaft gedrückt und die Kosten für soziale Sicherung sollen drastisch heruntergefahren werden, damit Produktionskosten weiter sinken und Profitraten gesichert sind. Demge-genüber kann aus den Erfahrungen in den neuen Bundesländern der Schluss gezogen werden, dass in Niedriglohnregionen nicht automatisch Arbeits-plätze und blühende Landschaften entstehen. Im Umkehrschluss müssten VertreterInnen der neoli-beralen Lehre die These vertreten, dass sich die Menschen im Osten Deutschlands nicht ernsthaft um Arbeitsplätze bemühen. Diese Argumentation führt in die Absurdität. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen verfolgt den gegenwärtigen sozialpolitischen Kurs und die zugehörige Debatte mit großer Sorge. Aus unserer Sicht werden die gesellschaftspolitischen Folgen dieser Politik zu sehr von der Fokussierung auf scheinbar ökonomische Sachzwänge verdrängt. Das birgt die Gefahr, dass bessere Lösungen dauerhaft ausgeblendet werden und die falsche Medizin blindlings immer höher dosiert wird, wenn sich der gewünschte Erfolg nicht einstellt - mit fatalen Folgen. Wir erleben heute, dass im Zuge der aktuellen "Reformpolitik" unreflektiert gesell-schaftliche Leitbilder verworfen werden, die das Wesen unseres Sozialstaats geprägt und erhalten haben: Der Anspruch, allen Menschen eine Existenz in Würde zu ermöglichen, und das Solidarprinzip, das je nach Leistungsfähigkeit des einzelnen einen sozialen Ausgleich gewährleistet.

Erwerbslosigkeit wird zur Armutsfalle

Die Erwerbsbiographien in Deutschland unterliegen einem starken Wandel. Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis wird zunehmend durch unstetige und prekäre Beschäftigungsverhältnisse ersetzt, und das Risiko der Erwerbslosigkeit nimmt in nahezu allen Berufsgruppen zu. Aufgrund einer altersdiskriminierenden Personalpolitik in vielen Betrieben sind ältere ArbeitnehmerInnen besonders von Arbeitslosigkeit bedroht. Darum ist eine armutsfeste Absicherung des Lebensrisikos Erwerbslosigkeit eine unverzichtbare Voraussetzung für ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Warum sollten Menschen, die jahrelang Beiträge entrichtet haben, nach zwölf bzw. 18 Monaten Arbeitslosengeldbezug, durch den Verbrauch ihres mühsam Ersparten erst in die Armut absinken, bevor sie überhaupt wieder Anspruch auf weitere Leistungen haben? Mit dem damit verbundenen sozialen Absturz verlieren die Betroffenen erst recht den Anschluss am Arbeitsmarkt. Alle Ansätze hier noch mit aktivierender Beschäftigungsförderung einzugreifen, operieren mit der existentiellen Not als Druckmittel. Unbeständige Erwerbsbiographien mit schwankenden Beitragszahlungen zur Sozialversicherung erhöhen das Risiko, in die Altersarmut abzugleiten und nur unzureichend gegen Krankheit und Pflege-bedürftigkeit abgesichert zu sein. Werden Sozialversicherungsbeiträge im Fall der Erwerbslosigkeit nicht in ausreichendem Maße durch den Träger der Lohnersatzleistung abgedeckt, drohen Ausfälle, die gerade im Alter keinen existenzsichernden und menschenwürdigen Versicherungsschutz des Solidarsystems mehr bieten. Damit werden grundlegende Prinzipien der Solidargemeinschaft in Frage gestellt. Werden zudem die Betroffenen gezwungen, ihr zur Alterssicherung erworbenes Vermögen weitgehend aufzubrauchen, bevor sie einen Anspruch auf eine soziale Sicherung geltend machen können, sind soziale Härten vorprogrammiert, der Grundsatz der eigenverantwortlichen Absicherung der Lebensverhältnisse wird unterlaufen. Arbeitslosigkeit und das rapide Absinken des Lebensstandards führen meist zum Verlust der Wohnung. Das bedeutet für Betroffene und ihre Familien, dass sie aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen werden - eine Spirale nach unten kommt in Gang. Eine Lohnersatzleistung muss deshalb so konzipiert sein, dass Erwerbslose vor einem Abstieg in die Armut geschützt werden. Gerade für Unterkunftskosten müssen individuelle und bedarfsdeckende Hilfen gewährt werden, selbstgenutztes Wohneigentum muss durch großzügige Anrechnungsfreibeträge erhalten werden. Eine flächendeckende Pauschalierung der Unterkunftskosten auf niedrigem Niveau hätte dagegen katastrophale Folgen. Die gegenwärtige Massenarbeitslosigkeit hätte soziale Entwurzelung Hunderttausender und die Gettoisierung ganzer Stadtteile zur Folge. In dieser Entwicklung steckt ein gefährlicher gesellschaftlicher Sprengsatz. Die Demontage der sozialen Sicherungssysteme aus kurzfristigen Kostenerwägungen produziert unmittelbar hohe soziale Kosten, die die Gesellschaft mittel- und langfristig nicht nur mit Geld, sondern vor allem mit dem Verlust des sozialen Friedens wird bezahlen müssen. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung konstatierte für die von Erwerbs-losigkeit betroffenen Menschen 1998 eine überproportional schwierige Einkommenslage. Dennoch garantierten im selben Jahr, mit einer vergleichbar hohen Arbeitslosenquote wie 2003, die Lohnersatzleistungen der Bundesanstalt für Arbeit immerhin einer deutlichen Mehrheit der betroffenen Haushalte ein Einkommen oberhalb der Armutsschwelle (73 Prozent bzw. 55 Prozent, je nach der zugrundeliegenden Armutsdefinition). Die neue Leistung Arbeitslosengeld II für alle erwerbsfähigen LeistungsbezieherInnen, die im Anschluss an das "normale" Arbeitslosengeld gezahlt werden soll, ist nicht einmal im Ansatz als existenzsichernde Absicherung des Risikos Erwerbslosigkeit konzipiert - im Gegenteil: Der ökonomische Druck soll ja gerade dafür sorgen, dass die Betroffenen jeden Job zu jedem Lohn annehmen. Werden "Hartz" und "Agenda" Realität, so ist bereits jetzt abzusehen, dass Millionen Menschen innerhalb kürzester Zeit in Armut und Verelendung getrieben werden, egal, ob sie erwerbslos sind oder sich mit einem Billigjob versuchen über Wasser zu halten. Ist dies das Resultat einer "Reform", die für sich in Anspruch nimmt, "sozial ausgewogen" zu sein? Das Ergebnis widerspricht diametral den sozialpoliti-schen Zielen, die die Bundesregierung mit ihrem ersten Armuts- und Reichtumsbericht verfolgte und die sich auch in den Koalitionsaussagen vom Herbst 2002 wiederfinden. Die Bundesregierung hat sich sogar im Rahmen europäischer Vereinbarungen vertraglich verpflichtet, die Armut aktiv zu bekämpfen. Ihr derzeitiges Handeln ist ein sozialpolitischer Offenbarungseid.

Sozialstaatliche Sicherung braucht akzeptierte Mindestanforderungen

Nach der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe droht die Abschaffung der Sozialhilfe in ihrer heutigen Form. Sind erst einmal alle Erwerbsfähigen ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld I in der neuen Leistung Arbeitslosengeld II untergebracht, verbleibt eine relativ kleine Gruppe von LeistungsbezieherInnen in der Sozialhilfe. Sie sind faktisch von der Definition her dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, erfüllen aber gleichzeitig nicht die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung. Es ist zu befürchten, dass dieses Problem im Rahmen der 2004 anstehenden Sozialhilfereform eher nebensächlich behandelt und beiläufig durch eine halbherzige Regelung vom Tisch gewischt wird. Geht es bei dieser Reform doch um viel Grundlegenderes. Der nähere Blick auf die aktuelle Debatte und die Machtverhältnisse in Bundestag und Länderkammer lässt erahnen, in welche Richtung die Sozialhilfereform insbesondere in bezug auf die Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) gehen wird. Harald Schartau, der Vorsitzende des mächtigen SPD-Landesverbands NRW, plädiert offen für die Abschaffung der Sozialhilfe. Die CDU/CSU mit ihrer Mehrheit im Bundesrat fordert die Herabsetzung der Sozialhilfe für Erwerbsfähige um 30 Prozent. Beide Vorschläge haben das gleiche Ziel im Auge: Die Zerschlagung des untersten Netzes sozialer Sicherung, das als nachrangige Leistung die Sicherung des Existenzminimums und ein menschenwürdiges Leben in unserer Gesellschaft garantieren soll. Mit ihren Prinzipien der Bedarfsdeckung, der Individualität und der Unmittelbarkeit der zu erfolgenden Hilfeleistung definiert die Sozialhilfe heute Mindestanforderungen mit Verfassungsrang, die an unseren Sozialstaat gestellt werden müssen. Eine "Reform" in Richtung "Agenda 2010" wäre der Schritt zurück ins 19. Jahrhundert, sie muss mit allen Mitteln verhindert werden! Gerade weil das geplante System der vorgelagerten Leistungen, bestehend aus Arbeitslosengeld I und II sowie Grundsicherung, sich auf keinen dieser Grundsätze beruft, darf die Sozialhilfe in ihrer heutigen Form nicht wegfallen. Das träfe eine Vielzahl von Hilfebedürftigen, die heute Anspruch auf HLU, ergänzende Leistungen oder Mehrbedarf haben, mit besonderer Härte. Zu dieser großen Personen-gruppe zählen: BezieherInnen von Grundsicherung und von Lohnersatzleistungen, NiedriglohnjoberInnen, Alleinerziehende, Kinder, RentnerInnen, Kranke und Menschen mit besonderem Betreuungsbedarf, Obdachlose und Menschen, die durch Sperrzeiten aus dem Arbeitslosengeldbezug herausgefallen sind. Wer die Lage der Betroffenen kennt und auch die Unzulänglichkeit der vorgelagerten Systeme, Lebensrisiken und -umständen adäquat zu begegnen, der weiß, dass die Sozialhilfe heute unverzichtbar geworden ist. Anstatt die Sozialhilfe abzuschaffen müssen deshalb dringend die längst überfälligen Anpassungen an die Entwicklung der letzten zehn Jahre vorgenommen werden. Die Sozialhilfe soll das soziokulturelle Existenzminimum sichern und somit soziale Ausgrenzung verhindern. Damit sie dieser Aufgabe endlich wieder gerecht wird - müssen die Regelsätze - auch als Referenzgröße für vorrangige Leistungen - um 20 Prozent ange-hoben werden, - ist die Pauschalierung der Kosten für Elektrogeräte, Möbel, teure Gebrauchsgüter sowie die Unterkunft einzustellen (statt dessen bedarfsgerechte Gewährung einmaliger Leistungen), - muss dem Grundsatz "Geld- vor Sachleistung" Priorität eingeräumt werden und - hat die Bewilligungspraxis insgesamt menschenwürdig zu erfolgen. An den von der Sozialhilfe gesetzten sozialen Mindeststandards sind die vorrangigen Leistungen zu messen. Sie müssen armutsfest, deutlich über dem soziokulturellen Existenzminimum angesiedelt sein und einen angemessenen Bestandsschutz für die Betroffenen gewährleisten. Dann käme der Sozialhilfe als unterstes Netz im System der sozialen Sicherung und als Beistand in besonderen Lebenslagen insgesamt auch wieder die Aufgabe zu, für die sie konzipiert wurde. Das Sozialstaatsprinzip darf nicht vermeintlichen ökonomischen Sachzwängen geopfert werden, sonst droht Massenverarmung, und die Gesellschaft gerät aus den Fugen. Daher fühlen wir uns folgenden gesetzlichen Vorgaben weiterhin verpflichtet: Grundgesetz Art. 20 Abs. 4 und Bundes-sozialhilfegesetz § 1.