Das MEGA-Unternehmen.

Vom Wandel in den Produktionsverhältnissen der Edition

Interview mit Prof. Manfred Neuhaus und Dr. Gerald Hubmann, den Leitern der Berliner Arbeitsgruppe der Marx-Engels-Gesamtausgabe1

Seit wann gibt es die MEGA?
MN: Das Projekt einer historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe geht auf David Borisoviè Rjazanov (1870-1938) zurück. Der russische Gelehrte schuf in den 20er Jahren in Moskau das bedeutendste Archiv zur Geschichte der sozialistischen Bewegung. Er begann, zunächst auch von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Preußischen Archivverwaltung unterstützt, zusammen mit einem internationalen Wissenschaftlerteam die Herausgabe einer modernen 42bändigen Marx-Engels-Ausgabe, die in Frankfurt am Main und Berlin verlegt wurde. Im Rahmen dieser Ausgabe wurden erstmals MarxÂ’ "Ökonomisch-philosophische Manuskripte" aus dem Jahre 1844 und die "Deutsche Ideologie" veröffentlicht. Infolge der Machtergreifung Hitlers und des stalinistischen Terrors, dem neben Rjazanov auch mehrere russische und deutsche Editoren zum Opfer fielen, blieb diese "erste" MEGA allerdings ein Torso.
Rjazanovs Projekt wurde in der Zeit des "Tauwetters" nach Stalins Tod wieder aufgegriffen. Das Konzept für eine neue, "zweite" MEGA, die den literarischen Nachlaß von Marx und Engels vollständig und originalgetreu veröffentlicht, ausführlich kommentiert und die Textentwicklung mit modernen Methoden darstellt, konnte jedoch erst in den 60er Jahren fortgesetzt werden. Dafür mußte nämlich zuvor der Widerstand hoher Parteiinstanzen überwunden werden, denen eine historisch-kritische Gesamtausgabe suspekt war, weil sie letztlich auf eine Historisierung und Kritik des Denkens der Klassiker selbst hinauslief. Einbezogen in das Projekt war bereits damals das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam (IISG), das zu einer Unterstützung des Unternehmens bereit war, nachdem der Charakter der Edition als historisch-kritische Gesamtausgabe garantiert wurde. Die 1972 in einem Probeband zur Diskussion gestellten Editionsrichtlinien dieser "neuen" MEGA orientierten sich an innovativen Editionskonzepten und wurden von der internationalen Fachwelt positiv aufgenommen.
Die bis 1992 erschienenen Bände (vgl. Gesamtüberblick über den Bearbeitungsstand der Marx-Engels-Gesamtausgabe) wurden jeweils zu einem Drittel am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Moskau, am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, sowie an der Akademie der Wissenschaften und einigen Universitäten und Hochschulen der DDR (Berlin, Erfurt-Mühlhausen, Halle-Wittenberg, Jena und Leipzig) bearbeitet.
Wer sind jetzt die Herausgeber?
MN: Die MEGA wird seit 1990 von der "Internationalen Marx-Engels-Stiftung" (IMES), mit Sitz in Amsterdam, herausgegeben. Mitgliedsinstitutionen sind die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, das Internationale Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, das Karl-Marx-Haus Trier der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie das Russische Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte und das Russische Unabhängige Institut für Soziale und Nationalitätenprobleme, beide in Moskau. Derzeit werden Vorsitz (Herfried Münkler) und Sekretariat (Manfred Neuhaus) der IMES von Berlin aus wahrgenommen.
Was ist neu an der aktuellen MEGA-Ausgabe? Welche Ziele verfolgt die Edition in der heutigen Zeit?
GH: Neu ist, daß es sich nicht mehr um eine Edition unter politischen Prämissen handelt, die das Werk von Marx und Engels zu Legitimationszwecken funktionalisiert. Die Leitlinien lauten nunmehr: Akademisierung und Historisierung der Ausgabe. Damit ist gemeint: eine politisch zweckfreie, ausschließlich wissenschaftlichen Standards verpflichtete Edition, die Marx und Engels als Autoren des 19. Jahrhunderts im Problem- und Fragekontext ihrer Zeit verortet. Es geht dabei nicht nur um philologische Gesichtspunkte, sondern dies schließt die Evaluation der wissenschaftlichen Kommentierung durch internationale Fachgutachter ein.
Sicherlich ist in diesem Zusammenhang auch der Verlagswechsel von Dietz zum Akademie Verlag zu sehen. Ulrich Raulff brachte diesen in der F.A.Z. am 7. Oktober 1998 auf die schöne Formulierung: "Mit dem Weggang vom Dietz-Verlag wurde der letzte Giftzahn des Parteigängertums gezogen."
MN: Richtig, die eben skizzierten Grundsätze wären mit einer Edition in einem Verlag, der sich in Parteibesitz befindet, nicht zu vereinbaren gewesen. Sie mußten somit einen Verlagswechsel nach sich ziehen. Nunmehr erscheint das Werk unserer Autoren im Akademie Verlag an angemessener Stelle: Klassiker unter Klassikern.
Was verbirgt sich hinter dem Stichwort Redimensionierung der MEGA? Was heißt dies für die verschiedenen Abteilungen der MEGA?
MN: Nachdem 1989 klar war, daß die Edition in der bisherigen Form mit ihrem gewaltigen wissenschaftlichen und institutionellen Apparat, aber auch mit ihren bisherigen inhaltlichen Prämissen nicht mehr weitergeführt werden konnte, erfolgte 1992 die Redimensionierung auf einer eigens einberufenen Konferenz in Aix-en-Provence unter Einbeziehung international renommierter Editionsspezialisten. Neue, auf strengste weltanschauliche Neutralität verpflichtete Editionsrichtlinien wurden erarbeitet sowie die Redimensionierung der Ausgabe von den zuvor geplanten 163 auf 114 Doppelbände beschlossen.
GH: Die Schwierigkeit bestand darin, den Umfang der historisch-kritischen Ausgabe zu reduzieren, ohne ihr Vollständigkeitsprinzip preiszugeben, hätte dies doch eine neuerliche Zensur am Werk von Marx und Engels bedeutet. Dafür wurden drei Regeln vereinbart: Erstens, die Vermeidung von Doppelabdrucken; zweitens, insbesondere in der Briefabteilung, ein weitgehender Verzicht auf den Abdruck von Beilagen; und drittens, in der Exzerptabteilung wird auf den Abdruck derjenigen Lektürestellen aus Büchern verzichtet, die Marx mit Anstreichungen oder Randkommentaren versehen hat. Diese Stellen werden jetzt nur verzeichnet und beschrieben. Nur noch die Marxschen Marginalien selbst sollen gedruckt werden, was eine Reihe von Bänden einspart. Ein erster Teilband - IV/32 (1999) - ist nach diesen Prinzipien ediert worden. Auf die beschriebene Weise konnte die Redimensionierung ohne Substanzverlust vorgenommen werden.
Wieviel MEGA-Bände sind bislang insgesamt erschienen?
MN: Von den 114 geplanten Bänden (in 122 Teilbänden) sind 46 Bände (53 Teilbände) bereits erschienen (40 %); nach Abteilungen aufgeschlüsselt: Abteilung I (Werke. Artikel. Entwürfe) 17 von 32; II ("Das Kapital" und Vorarbeiten) 9 von 15; III (Briefwechsel) 10 von 35; IV (Exzerpte. Notizen. Marginalien) 10 von 32.
Wie viele Bände erscheinen momentan pro Jahr?
MN: Zwei - womit eine Produktionsfrequenz erreicht wird, die dem Jahresmittel jener Zeit, in der die MEGA das wissenschaftliche Prestigeobjekt zweier kommunistischer Regierungsparteien war, nicht nachsteht. Was früher zwei mit erfahrenen Korrektoren gut ausgestattete und ausschließlich mit dieser Aufgabe betraute Lektorate im Berliner Herausgeberinstitut und dem Dietz Verlag in Quartalsfristen besorgten, muß vom Akademienvorhaben in Wochen und Monaten gemeistert werden.
Welche Bände werden demnächst ediert?
MN: Band II/14 (Manuskripte und Bearbeitungsmanuskripte zum dritten Band des "Kapitals", 1867 bis 1894), II/15 (Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Hrsg. von Friedrich Engels. Hamburg 1894), II/4.3 (Ökonomische Manuskripte 1863-1867. Teil 3), III/9 (Briefwechsel. Januar 1858 bis August 1859), III/12 (Briefwechsel. Januar 1862 bis September 1864), IV/12 (Exzerpte. Notizen. Marginalien. September 1853 bis November 1854. Geschichte der Diplomatie Griechenlands, Frankreichs sowie Spaniens (Marx). Militaria (Engels)).
Ist die Ausgabe gesichert oder ist sie finanziell bedroht?
MN: Im Akademienprogramm des Bundes und der Länder ist eine Förderung des MEGA-Projekts bis 2015 vorgesehen. Damit ist, was das Finanzielle anbetrifft, zumindest der Fortbestand der Berliner Arbeitsgruppe und damit des IMES-Sekretariats für die nächsten Jahre gesichert.
GH: Insgesamt ist die Sache allerdings komplexer: Die MEGA ist ein internationales Großprojekt - übrigens mit dem so oft geforderten Deutsch als Wissenschaftssprache -, das es zu organisieren gilt. Das impliziert zum einen die Erschließung weiterer finanzieller Ressourcen, etwa für Bandbearbeiter oder Gutachterhonorare, aber auch für ganze Arbeitsgruppen, wie in Moskau, die finanziert werden müssen. Zum anderen ist ein weltweites Netzwerk von Mitarbeitern aus unterschiedlichen Kulturen und Fachgebieten, mit unterschiedlichen Vorkenntnissen, Mentalitäten und auch politischen Auffassungen auf ein gemeinsames editorisches Regelwerk hin zu koordinieren. Unter diesen Gesichtspunkten bleibt die MEGA ein fragiles und ständig neu auszutarierendes Großprojekt.
Fragil ist die Ausgabe, wie von Ihnen gerade angedeutet, wohl auch hinsichtlich der Koordination der Mitarbeiter. Unweigerlich stellt sich bei einem solchen Projekt die Frage, ob es Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit zwischen alten und neuen Mitarbeitern an der MEGA, zwischen Kollegen aus verschiedenen Wissenschaftskontexten gab bzw. gibt?
MN (seit 1977 bei der MEGA): Die Entideologisierung des Projekts hat die Arbeit für uns Alteditoren deutlich erleichtert. Im Realsozialismus befanden sich die Editoren ja insofern in einer paradoxen Situation, als sie in ihren Kommentaren und zuweilen auch in der Anordnung des Materials von der fixen Idee auszugehen hatten, Marx wäre eigentlich, wie auf einer Schiene rollend und einem unerklärten Fahrplan folgend, von Erkenntnis zu Erkenntnis geeilt, wobei ihm seine Parteinahme fürs Proletariat als untrüglicher Kompaß gedient habe. Dieses Denkkorsett gibt es glücklicherweise nicht mehr.
GH (seit August 1998 bei der MEGA): Was die Zusammenarbeit betrifft, kann man bei der Berliner Arbeitsgruppe eine positive Bilanz ziehen. Dies gilt sowohl für die Kooperation der ost- und westdeutschen Mitarbeiter als auch für die Einbindung erfahrener früherer Editorinnen und Editoren und ihrer Spezialkenntnisse in die gegenwärtige Bandproduktion. Als im Westen ausgebildeter Philologe und Philosoph habe ich von den älteren (ostdeutschen) Kollegen nicht nur im editorischen Handwerk dazugelernt, sondern auch in wissenschaftlicher Hinsicht haben sich durch die Konfrontation mit einem "östlichen Blick" auf die Dinge viele einstige zuvor unhinterfragte Gewißheiten relativiert. Umgekehrt habe ich aber auch den Eindruck, daß dieser selbstreflexive Prozeß auch auf der "anderen Seite" stattfindet. Völlig absurd ist deshalb die gelegentlich noch aus ideologischen Gründen - interessanterweise von links außen ebenso wie von rechts außen - tradierte Auffassung, die MEGA werde in ihrem Kern nach wie vor von Veteranen der alten Parteiinstitute getragen. Dies ist jedoch nur Störfeuer von außenstehenden Ignoranten, die sich auf die intellektuelle Substanz der Ausgabe gar nicht einlassen.
Gibt es Probleme, qualifizierten Nachwuchs für dieses "unzeitgemäße" Projekt zu rekrutieren?
MN: Wir haben in der Berliner Arbeitsgruppe sehr gute Erfahrungen mit in- und ausländischen studentischen Praktikanten gemacht. Sie erhalten eine Einführung in die historisch-kritische Edition und einen Einblick in alle Arbeitsphasen sowie die EDV-Bearbeitung und Herstellung der Ausgabe. Sie können sich mit Grundprinzipien der neugermanistischen Editionsphilologie und der Handhabung der MEGA-Editionsrichtlinien bei der Endredaktion sowie im Satz- und Korrekturprozeß vertraut machen. In Konsultationen mit Editoren werden Grundzüge der Geschichte der Editionswissenschaft, Ausgabentypologie, Geschichte, Struktur und Bearbeitungsstand der MEGA, Grundsätze der Textdarbietung und der Variantenverzeichnung sowie der Brief-, Exzerpt- und Marginalienedition vermittelt. Geleitet von einem ähnlichen methodischen Ansatz und logistisch vom Vorhaben unterstützt, hat Fred Schrader an der Universität Paris VIII ein MEGA-Doktorandenkolleg etabliert.
GH: Mittelfristig ist auch bei uns in Berlin geplant, über akademische Qualifizierungsarbeiten mehr junge Leute an die Marx-Forschung heranzuführen.
Wie schätzen Sie die wissenschaftliche und öffentliche Resonanz auf die letzten Bände ein?
MN: In den Medien und der Fachwelt brauchen wir den Vergleich mit der Max-Weber-Gesamtausgabe nicht zu scheuen. Das MEGA-Projekt und die neu erschienenen Bände finden nicht nur in den großen deutschsprachigen Feuilletons Aufmerksamkeit. Darüber berichteten ausführlich Zeitungen und Zeitschriften in Belgien, Brasilien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Indien, Italien, Japan, Rußland und den Vereinigten Staaten.
GH: Besonders erwähnenswert scheint mir die differenzierte und detaillierte Berichterstattung über bislang nahezu alle Bände im einstmals konservativen Feuilleton. Dies kann als ein Zeichen dafür gedeutet werden, daß Marx nicht mehr vornehmlich als politischer Autor wahrgenommen wird, der spaltet, sondern als Klassiker. Über diese Akzeptanz von Marx als Klassiker sind wir natürlich froh. Damit ist eines unserer Ziele erreicht. Insgesamt fällt auf, daß die Rezeption derzeit noch mehr vom Feuilleton als von der Fachkritik getragen wird.
In welcher Größenordnung bewegt sich die Auflage der MEGA, und wer sind ihre Hauptabnehmer im In- und Ausland?
MN: Zwischen 1.000 und 1.500 Exemplaren. Damit werden die Auflagen aus staatssozialistischer Zeit zwar nicht mehr erreicht, aber für eine wissenschaftliche Ausgabe ist die Auflage dennoch vergleichsweise hoch. Die MEGA ist in allen wissenschaftlichen Bibliotheken weltweit präsent. Ein großer Teil der Auflage geht ins Ausland, ein Drittel allein nach Fernost, vor allem nach Japan - ein Beweis für das ungebrochen große internationale Interesse am Klassiker Marx.
Geht die Präsenz der MEGA in wissenschaftlichen Großbibliotheken einher mit einem Einsickern der MEGA als der akademischen Referenzausgabe?
GH: Bislang ist die MEW-Ausgabe für viele Wissenschaftler immer noch Standard; das kann bei einer so preisgünstigen, massenhaft verbreiteten und vergleichsweise vollständigen Ausgabe auch gar nicht anders sein. Von der MEGA liegen ja erst knapp die Hälfte der Bände vor.
Gleichzeitig scheint sich aber ein zunehmendes Interesse an Exzerpten und anderem Manuskriptmaterial abzuzeichnen, das eben nur in der MEGA zugänglich gemacht wird.
Zudem ist allgemein bekannt, daß die MEW-Ausgabe nicht immer eine sichere Textgrundlage und sachliche Kommentare liefert. Insgesamt haben wir den Eindruck, daß sich eine Trendwende hin zur MEGA als wissenschaftlicher Referenzausgabe abzuzeichnen beginnt.
Texte und Kontexte
Wir hatten das Thema zwar schon einmal kurz angeschnitten, möchten aber nachhaken: In welchen Punkten unterscheidet sich die neue MEGA in ihrem strikt historisch-kritischen Charakter von früheren Ausgaben, bei denen vor allem die Einleitungen enorm ideologisch gefärbt waren?
MN: Bei der MEGA vor 1989 gilt es zu differenzieren: Auf der einen Seite war auch diese Ausgabe ihren philologischen Standards nach historisch-kritisch, auch wenn sie aus politischen Gründen offiziell nicht so genannt werden durfte. Diese editorischen Standards galt es nach 1989 zu bewahren, und sie wurden bewahrt. Auf der anderen Seite hatte die Edition eine politisch-ideologische Funktion zu erfüllen. Das hatte die von Ihnen genannten ideologisch gefärbten Einleitungen zur Folge, in denen Lesarten der Texte vorgegeben wurden, aber nicht nur. Hinzu kam u.a., daß im edierten Text die chronologische Textanordnung gelegentlich durchbrochen wurde, wenn politisch wirkmächtige Texte akzentuiert werden sollten, und eine klare Parteinahme der Editoren in der Kommentierung sowie bei der Einschätzung von Ereignissen und Personen. In den Sachregistern sollte die kanonische Begrifflichkeit des Marxismus-Leninismus dominieren und die Texte erschließen, nicht primär die Begrifflichkeit der Autoren selbst.
Wenn die Ausgabe historisch-kritisch ist, dann stellt sich die Frage: Welche gesellschaftliche Relevanz hat sie noch?
GH: Genau in ihrem historisch-kritischen Charakter liegt die Relevanz der Ausgabe, die einen unverstellten Zugang zum Werk ermöglichen soll und wird. Dies ist überhaupt das Desiderat bei den bisher stets politisch funktionalisierten Autoren Marx und Engels.
Verschwinden bei einer historisch-kritischen Ausgabe die Werke von Marx und Engels nicht in der Akribie und im philologischen Detail?
GH: Zunächst noch einmal: Es ist nicht unsere Aufgabe und unser Selbstverständnis, einen Kanon zu generieren. Dazu wurde das Werk von Marx und Engels lange genug mißbraucht und an vielen Stellen eine Finalität der Texte suggeriert, die es eben nicht gibt. Darüber hinaus lassen sich an Ihre Bemerkung zur Auflösung der Werke einige allgemeinere Überlegungen anschließen: Im Gegensatz zu den großen Editionsprojekten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, deren Intention oftmals gerade in der Konstituierung eines "Klassikers", also eines bestimmten Werkes oder Kanons bestand, kann man als Ergebnis der Arbeit neuerer Editionsprojekte oftmals einen "Dekonstruktivismus" konstatieren. Also: Während bei Nietzsches "Wille zur Macht", Burckhardts "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", Webers "Wirtschaft und Gesellschaft" oder Kafkas "Process"-Roman die Herausgeber - aus welchen Motiven auch immer - gerade bemüht waren, ein "Werk" erst zu konstituieren, werden in den aktuellen historisch-kritischen Ausgaben aller eben genannten Autoren genau diese Werke dekonstruiert. Die "Werke" erweisen sich als Nachlaß-Kompilationen von Herausgebern, sind tatsächlich aber Fragmente, Unvollendetes. In diesem Sinne ist Ihre Beobachtung auch in bezug auf die MEGA richtig; sie beschreibt aber zugleich ein allgemeines Wesensmerkmal neuerer historisch-kritischer Editionen, die ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen können, kanonische Werke zu generieren.
Behält trotz der strengen Historisierung und - wie Sie es nannten - Dekonstruktion der Werke von Marx und Engels ihr Denken noch etwas an Aktualität?
MN: Unabgegolten ist die Vision des jungen Marx, daß "an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen [...] eine Assoziation (tritt), worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". Die Erfahrungen des "Jahrhunderts der Extreme" (Eric Hobsbawm) knüpfen an diese Vision freilich die Frage: Wie kann ein politisches System humane Werte verwirklichen, ohne sie bei der Durchsetzung fundamental zu verletzen?
Der Name von Marx, aber auch von Engels, steht zudem für die Anfänge der europäischen Arbeiterbewegung, der wir die Einführung des Achtstundentages und das Ende der Kinderarbeit verdanken und die mit der Sozialdemokratie eine Partei schuf, die nicht wenige Länder unseres Kontinents regiert.
Um noch auf andere Indizien der Aktualität hinzuweisen: Nicht wenige Teilnehmer des vorjährigen Weltwirtschaftsforums in Davos mögen überrascht gewesen sein, als der Schweizer Bundespräsident Moritz Leuenberger das 31. Stelldichein der Weltelite mit einer Metapher von Marx eröffnet und wörtlich hinzugefügt hat: "Ihn darf man heute - 1989 sei Dank - sicher auch hier ungestraft zitieren, zumal er ja der Vater der I. Internationale war, ein früher Vertreter der Globalisierung also und somit auch ein Urahne des Forums." Und erst vor kurzem übertitelte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ein von Frank Schirrmacher moderiertes Gespräch zwischen Hans D. Barbier und Hans Magnus Enzensberger mit der Frage: "Brauchen wir einen Marx für das einundzwanzigste Jahrhundert?"
GH: All dies scheint nicht darauf hinzudeuten, daß es sich hier um einen antiquierten Denker handelt, dessen Fragestellungen sich erledigt hätten.
Haben sich aus der Editionsarbeit Gesichtspunkte ergeben, die für Revisionen des Marx-Bildes sprechen?
GH: Ich denke, es gilt, Marx nicht nur primär als Revolutionär und als Autor des "Kapital" zu sehen, sondern ihn ebensosehr als bildungsbürgerlich geprägten - und das bedeutet: die Standards, Diskurse und Fortschritte der Fachdisziplinen aufmerksam verfolgenden - Wissenschaftler, aber auch als Journalisten und Politiker zu begreifen. Insgesamt hat das bisherige, zu einseitige Marx-Bild dazu geführt, daß wichtige Gebiete seines Schaffens kaum rezipiert wurden. So etwa seine journalistischen Korrespondenzen zum britischen Parlamentarismus, nunmehr nachzulesen in Band I/14 (2001) - für mich vorzüglich vor allem deshalb, weil sie dieses System an seinen eigenen normativen Maßstäben messen. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Wolfgang Schieder hat als einer von wenigen auf die ungemein integrierende Rolle hingewiesen, die Marx bei der Gründung der Ersten Internationale gespielt hat. Und tatsächlich bestätigt der eben publizierte MEGA-Briefband III/13 (2002), der auch die vollständigen Korrespondenzen seiner Briefpartner enthält, diesen Befund.
Wo müßte Marx im Wissenschaftskontext des 19. Jahrhunderts verortet werden?
MN: Das Epochenjahr 1989 hat Marx seinen Platz dort angewiesen, wo er seit langem hingehörte: in den Kreis der großen klassischen Denker des 19. Jahrhunderts. Unabhängig von der geschichtsprägenden Kraft, der Geschichtsmächtigkeit von Person, Werk und politischer Wirkung, hat Karl Marx einen legitimen Ort in der Wissenschaftsgeschichte mehrerer Disziplinen. Das gilt primär für die Wirtschaftswissenschaften bzw. die "Politische Ökonomie", aber auch für Soziologie, Philosophie und Teilbereiche der Geschichtswissenschaft, insbesondere die Geschichtstheorie und die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Die für MarxÂ’ Theorie charakteristische fachübergreifende Betrachtung von Herrschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Geschichte hat hier neue Perspektiven eröffnet.
Und noch etwas läßt sich an Marx - genauer: am bisher unveröffentlichten Teil seines literarischen Nachlasses - beispielhaft demonstrieren: der ungestüme Progreß wissenschaftlicher Entwicklung im 19. Jahrhundert mit seinen Charakteristika - der einzeldisziplinären Verzweigung und dem ständigen Mehr an Information, der Macht und Ohnmacht des Einzelnen hinsichtlich einer wissenden Teilhabe an diesem Prozeß. Es ist beeindruckend zu sehen, mit welcher Neugierde und Exzerpierwut sich Marx bis in die letzten Tage seines Lebens mit allen möglichen Wissensgebieten beschäftigt hat - bis hin zur Schweinezucht und Schafhaltung. Und doch scheitert Marx als einer der letzten Enzyklopädisten an einer Analyse und Synthese des ausufernden positiven Weltwissens. Zugleich zeigt der von bürgerlichen Bildungsidealen geprägte wissenschaftliche Arbeitsstil von Marx und Engels, daß es für sie keine sozial und politisch definierten Erkenntnishürden gab, wie für uns in der DDR.
Wie schätzen Sie die enzyklopädischen Studien in bezug auf sein eigenes Werk ein? Welchen Stellenwert haben bspw. die naturwissenschaftlichen, mathematischen und technischen Studien? Konnten Besonderheiten und Differenzen in der Arbeits- und Denkweise von Marx und Engels aufgedeckt werden?
GH: In der Tat muß man bei einer Gesamteinschätzung des Marxschen Denkens die enzyklopädische Ausrichtung seiner Studien stärker hervorheben als bisher. Es geht hier insbesondere um das, was in der vierten Abteilung der MEGA publiziert wird. Über die letzten Jahre seines Wirkens erfährt man ja, da er seit 1875 nichts mehr publiziert hat, überhaupt nur noch etwas aus den Manuskripten und Exzerpten. Bezieht man diese Studien ein, so läßt sich jetzt schon folgendes sagen: Bereits der junge Marx arbeitet auf breiter empirischer Basis, von der Literaturtheorie bis zur Diplomatiegeschichte, während der spätere Marx sich ausgiebig mit unterschiedlichen Naturwissenschaften beschäftigt (Chemie, Geologie, Mathematik). Diese Studien dürfen aber wohl nicht nur - wie bisher zumeist - im Zusammenhang mit seinen ökonomischen Arbeiten gesehen werden, sondern man kann vielmehr, angesichts von Themen, Umfang und Dauer seiner Beschäftigung, ein genuines Eigeninteresse von Marx an diesen Gegenständen voraussetzen. Beim späteren Marx scheint sich - ich möchte hier vorsichtig formulieren - eine Abkehr von dialektischen Denkmodellen und eine Hinwendung zum empirisch-analytischen Paradigma abzuzeichnen. Dies ist bei Engels so nicht zu konstatieren. Er hielt vielmehr zeitlebens an einer dialektischen Interpretation auch der Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften fest.
Wie beurteilen Sie den "Klassikerstatus" von Engels, der als Unternehmer ja nur im Nebenberuf politischer Schriftsteller war? Wie hoch ist die Qualität seiner Studien, insbesondere der militärwissenschaftlichen, einzuschätzen?
MN: Mit seinen militärwissenschaftlichen Studien darf Engels sicher als Klassiker gelten, wie gerade auch die neuere Fachliteratur beweist. Darüber hinaus bleibt an seinen brillanten Journalismus zu erinnern und an seine Rolle als Impulsgeber mit seiner empirischen Studie zur Lage der arbeitenden Klasse in England.
Sind neue Texte von Marx und Engels gefunden worden? Wenn ja, wie groß ist der Umfang und der Wert der Funde?
MN: Ich will es an einem Beispielband illustrieren: Der MEGA-Band I/14 (2001) dokumentiert eine von der tradierten Forschung und Rezeption eher stiefmütterlich behandelte Komponente des Schaffens von Marx und Engels - ihre Korrespondententätigkeit für die "New-York Daily Tribune" und die Breslauer "Neue Oder-Zeitung" im Jahre 1855; insgesamt 200 Artikel und Entwürfe, darunter 33 Texte, die erstmals in einer Ausgabe ihrer Werke veröffentlicht werden. Neben MarxÂ’ Entwurf "The commercial crisis in Britain" und zwei Konzepten für Beitragsfolgen über den Panslawismus aus der Feder von Engels, handelt es sich dabei um anonym veröffentlichte Artikel in der "New-York Daily Tribune".
Marx und Engels waren ein reichliches Jahrzehnt, von 1851 bis zum Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges, Leitartikler einer der größten und einflußreichsten Zeitungen der Welt. Etwa die Hälfte der 500 Manuskripte des Journalistenduos Marx und Engels hat Charles Dana als ungezeichnete Leitartikel veröffentlicht und das Gerücht lanciert, General Winfield Scott habe die aufsehenerregenden Militärkolumnen darunter verfaßt. Daß ihr tatsächlicher Autor als Manager eines mittelständischen Textilunternehmens im fernen Manchester tätig war und Friedrich Engels hieß, dürfte nur wenigen Zeitgenossen bekannt gewesen sein.
Damit wären wir beim editionsphilologischen Kernproblem dieses Bandes, den Autorschaftsbestimmungen und Echtheitsprüfungen. Neben dem Erkennen literarischer Fälschungen und der Identifizierung von Autoren anonym oder unter Pseudonym erschienener Veröffentlichungen - denken wir an die verschlungenen Pfade der Shakespeare-, Nietzsche- oder Kafka-Philologie - gehört die Bestimmung der Zuverlässigkeit der jeweiligen Textgestalt zu den Hauptaufgaben des Editors. Wie ein Detektiv sucht er "Spuren" und gelangt zu "Indizien", mit deren Hilfe die Autorschaft hinreichend begründet oder ausgeschlossen werden kann.
Im Falle der Mitarbeit von Marx und Engels an der "New-York Daily Tribune" handelt es sich meist um dreierlei Spurenarten: Erstens sucht man nach überlieferten Parallelstellen aus Briefwechseln, Notizbüchern sowie früheren und späteren Texten von Marx und Engels. Zweitens ermittelt man die damit kongruenten Textpassagen in ungezeichneten Leitartikeln der "New-York Daily Tribune". Drittens muß man für Nachweise den transatlantischen Postschiffverkehr rekonstruieren. Der Editor ist also zunächst gehalten, alle formalen Autorschaftsindizien in einer widerspruchsfreien Beweiskette zu synchronisieren, bevor in einem zweiten Schritt anhand von textkongruenten Parallelstellen die eigentliche Echtheitsprüfung vorgenommen wird.
Der Forschungsertrag des Bandes I/14 ist ungewöhnlich groß und fügt dem von mehreren Editorengenerationen erforschten ÂŒuvre von Marx und Engels zwanzig "neue" Texte hinzu.
Das Themenspektrum des neuen Bandes umfaßt die großen Fragen der europäischen Politik und Diplomatie, Konjunkturbeobachtung, Parlamentsberichterstattung sowie Kriegskunst und Militärgeschichte. Mit einer an den Werken Helmuth von Moltkes und Adolf von Zastrows geschulten Analytik kommentiert Engels die Gefechte, Schlachten und Belagerungsoperationen des Krimkrieges. Der Krimkrieg dürfte der erste Krieg der Moderne gewesen sein, in dem das Industriepotential und die bessere Infrastruktur über den Ausgang entschieden. Der Leser blickt - und dies dürfte den besonderen Reiz des Bandes ausmachen - in die Schreibwerkstatt eines Journalistenduos, das gleichzeitig für ein Millionenpublikum in den USA und für eine der Zensur unterworfene preußische Regionalzeitung Korrespondenzen verfaßt hat, ohne für die Leserschaft aus der Anonymität herauszutreten.
GH: Um dieses Beispiel aus der ersten Abteilung für die anderen Abteilungen zu ergänzen: Die zweite Abteilung publiziert umfangreiches unveröffentlichtes Manuskriptmaterial; die dritte Abteilung enthält in den Briefen an Marx und Engels eine Fülle von Erstpublikationen; und die vierte Abteilung schließlich präsentiert als reine Manuskriptabteilung ohnehin fast ausschließlich Unveröffentlichtes.
MN: Ein Korrespondenzpartner von Marx war übrigens kein geringerer als ein Vorfahre des Bundesinnenministers Otto Schily; er berichtete Marx regelmäßig aus Paris über die dortige Arbeiterassoziation. In der IV. Abteilung liegt inzwischen ein Band vor (IV/32, 1999), der den ermittelten Bestand der Bibliotheken von Marx und Engels dokumentiert und ein Marginalienverzeichnis enthält.
Wie steht es um die Edition der "Deutschen Ideologie"? Hat sich der Blick auf das oft als systematisch bedeutsam begriffene erste Kapitel geändert?
GH: Hier werden neuere Forschungsergebnisse wohl bald für einige Überraschungen sorgen. Diese Ergebnisse werden wir 2003 im Eröffnungsband des "Marx-Engels-Jahrbuches" publizieren, der ein Sonderband zur "Deutschen Ideologie" sein wird. So viel läßt sich aber jetzt schon sagen: Die bisher tradierte Meinung, nach der sich in diesem Text die materialistische Geschichtsauffassung wie Phoenix aus der Asche erhebt, muß wohl revidiert werden; sie ist sehr viel mehr als bisher angenommen Resultat und Fortschreibung zeitgenössischer Diskurse.
MN: Bei dem Text handelt es sich weniger um einen konzeptionell ausgereiften Theorieentwurf einer neuen Geschichtsauffassung als um eine Aufsatzsammlung, in der sich die Autoren ihren Frust über die mangelnde Resonanz auf ihr Buch "Die heilige Familie" von der Seele schreiben.
Nacharbeit und "Kapital"
Wie und mit welchem Ergebnis hat Engels die Kapitalbände II und III redigiert?
MN: Nach Auskunft unseres Kollegen Carl-Erich Vollgraf, der diese Abteilung federführend bearbeitet, muß man sich die Situation folgendermaßen vorstellen: Engels sah sich in einer schwierigen Lage. Er wurde mit Entwürfen konfrontiert, von denen Marx 1866 gesagt hatte, daß sie so nicht herauszugeben seien, nicht einmal für "Dich" (Engels). Dann jedoch hatte Marx Engels via Tochter Eleanor übermitteln lassen, er solle nach seinem Tode aus den "Kapital"-Materialien "etwas" machen. Die Publikationsreife der Aufzeichnungen hatte sich in den 17 Jahren dazwischen allerdings nicht grundlegend verbessert. Engels lieferte von den Materialien, die er für Buch 2 und 3 des "Kapitals" benutzte, eine sorgfältige Entzifferung. Nur er konnte dies leisten. So wurden die Texte gesichert. Ohne Engels wären die Materialien vermutlich verloren gegangen. Marx hätte die Forschungstexte zweifellos massiv überarbeitet und überarbeiten müssen. Diese Arbeit konnte Engels nicht leisten. Er versuchte allerdings zu bessern, was zu bessern möglich war, und dabei MarxÂ’ Absichten so gut es ging nachzuspüren. Er präsentierte fertigere Texte, als Marx sie hinterlassen hatte. Besser wäre es gewesen, Engels hätte nicht zwei "Bände" des "Kapitals" herausgegeben, sondern Materialien zu zwei weiteren Büchern bzw. zu Band II des "Kapitals".
Gibt es tiefere, wissenschaftliche Gründe, warum Marx mit seinem Kapital nicht zu einem Abschluß gekommen ist?
MN: Marx hat in Verlauf der Arbeit an seinem ökonomischen Werk mehrfach sein Konzept geändert. Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß dies in den 1870er Jahren nochmals der Fall war. Darüber läßt sich erst Zusammenfassendes sagen, wenn alle seine Manuskripte zu Buch 2 und 3 sowie seine Studien durchgearbeitet sind.
Gibt es neue Erkenntnisse zum intellektuellen und persönlichen Verhältnis der beiden Klassiker, vor allem in den letzten Lebensjahren von Marx?
MN: Engels wußte nach MarxÂ’ Tod nicht, ob Manuskripte zu Buch 2 und 3 des "Kapitals" vorhanden waren. Er brauchte Monate, um zutreffende Angaben über Inhalt, Qualität und Umfang der gesuchten und gefundenen Texte zu machen. Alle Anzeichen weisen darauf hin, daß eine Kommunikation über das "Kapital" zwischen Marx und Engels seit den 1870er Jahren so gut wie nicht mehr vorhanden war.
Weitere Anhaltspunkte deuten darauf hin, daß Engels das Fehlen der weiteren "Kapital"-Bände als schwerwiegendes und Band I letztlich abträgliches Desiderat empfunden und das Marx gegenüber auch deutlich gemacht hat. Statt im "Anti-Dühring" das "Kapital" vor zwangsläufigen "Mißverständnissen" zu schützen und seine Fortsetzung zu skizzieren, wäre es Engels lieber gewesen, alle "Kapital"-Bände hätten vorgelegen. Das legendäre Freundschafts- und Arbeitsverhältnis hatte also ganz sicher bisher wenig erhellte Risse, zumal Engels, wenn man so will, die finanzielle Absicherung des "Kapital"-Projekts übernommen hatte.
Gibt es eine MEGA-Begleitforschung?
GH: Die bislang erscheinende Begleit-Zeitschrift "MEGA-Studien" wird ab dem kommenden Jahr durch ein "Marx-Engels-Jahrbuch" abgelöst. Dort soll, über Editorisches hinaus, die wissenschaftliche - nicht die politische - Marx-Debatte gebündelt werden, was nach unserem Eindruck einem wachsenden Bedürfnis Rechnung trägt.
Zudem haben wir begonnen, wissenschaftliche Erträge unserer Forschungskolloquien in Buchform zu veröffentlichen; ein erster Band liegt bereits vor (Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Herres und Manfred Neuhaus. Berlin: Akademie Verlag 2002). Außerdem sind die "Beiträge zur Marx-Engels-Forschung" zu nennen. Besonders hinzuweisen ist auch - obgleich mit unserer Edition nicht eigentlich verbunden - auf das "Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus": Dessen letzter Band mit Einträgen zu neuen, primär auch philosophischen Wortfeldern zeigt eine Hinwendung zum philosophischen Diskurs, weg von der einstigen Selbstbezüglichkeit marxistischer Diskurse.
Marx und die elektronischen Produktivkräfte
Soll die Ausgabe auch elektronisch verfügbar gemacht werden? Wird es die MEGA im Internet geben?
GH: Das Internet soll zukünftig stärker als Erschließungsmedium für die Ausgabe genutzt werden, um sich auf schnellem Wege einen Überblick verschaffen zu können.2 Auf absehbare Zeit stellt es jedoch kein primäres Medium unserer eigentlichen Edition dar, zumal für uns derzeit keine technische Lösung verfügbar ist, mit der sich die hochkomplexe Struktur des Textmaterials (edierter Text, Kommentare, Korrekturen und Variantendarstellung) auf dem Bildschirm abbilden ließe.
PAGINA, die Tübinger Firma, die für den Satz und die Herstellung der Bände verantwortlich ist, hat von Band IV/3 (1998) eine Demo-CD hergestellt. Ist der Plan, die zukünftig erscheinenden Bände der MEGA mit CD-ROM-Beilagen auszustatten, über diese Demo-CD hinausgekommen?
MN: An CD-ROM-Beilagen wird nach wie vor gedacht; dazu war es allererst erforderlich, daß die Satzdaten aller Bände in einem plattformunabhängigen Format vorliegen müssen. Dies ist für die nach 1998 erschienenen neuen Bände der Fall, mithin: die CD-ROM-Beilagen zu den Bänden sollen mittelfristig kommen.
Wie sieht es mit der nachträglichen Digitalisierung der bis 1992 erschienenen Bände aus?
MN: Das ist angedacht, aber wir sehen derzeit aus verständlichen Gründen unser vorrangiges Ziel darin, eine möglichst große Zahl neuer MEGA-Bände zu edieren.
Der subjektive Faktor im MEGA-Unternehmen
Welcher der jüngeren Bände ist für Sie, Herr Neuhaus, und für Sie, Herr Hubmann, der interessanteste?
MN: Ich möchte keinen Band nennen, sondern aus einer verfassungstheoretischen Reflexion von Marx zitieren, die ahnen läßt, welche Potentiale noch unausgeschöpft in seinem Denken stecken: "Die Konstitution von 1812", hatte er 1854 notiert, "trug ganz deutlich denselben Stempel der Unausführbarkeit, der alle Grundgesetze charakterisiert, die ursprünglich von modernen Nationen in der Epoche ihrer Erneuerung entworfen sind. In der revolutionären Epoche, der sie ihre Entstehung verdanken, sind sie nicht ausführbar, nicht etwa wegen dieses oder jenes Paragraphen, sondern nur wegen ihres konstitutionellen Charakters. In der konstitutionellen Epoche sind sie fehl am Platze, weil sie durchtränkt sind von den großherzigen Verblendungen, die untrennbar mit der Morgendämmerung der gesellschaftlichen Erneuerung verbunden sind."
GH: Besonders interessant finde ich die Briefbände, jüngst III/13 (2002). Sie führen in die Diskurswelt des 19. Jahrhunderts zurück, weil nunmehr auch alle überlieferten Briefe der Partner von Marx und Engels kontextuell präsentiert und kommentiert werden. Darüber hinaus möchte ich den Band mit den Marxschen Studien zur Chemie herausheben (IV/31, 1999). Dieser Band enthält zwar nur einen Bruchteil der umfangreichen naturwissenschaftlichen Studien von Marx, aber gerade durch ihn habe ich Marx für mich als enzyklopädischen Denker erschlossen.
Welchen Sozialwissenschaftlern aus dem 20. Jahrhundert verdanken Sie die meisten Anstöße für Ihre Arbeit an der MEGA?
MN: Ich verdanke Manfred Kossok, seinem großen akademischen Lehrer Walter Markov, dem mit beiden eng befreundeten Philosophiehistoriker Helmut Seidel und dessen Gattin, der Historikerin Jutta Seidel, sehr viel. Uns imponierte die Weltläufigkeit von Markov und Kossok ungemein. Ihr wissenschaftlicher Arbeitsethos und akademischer Stil ließen die Tristesse und Provinzialität der DDR vergessen und gelten mir noch heute als Maßstab. Wer die Faszination, die von beiden ausging, nachempfinden möchte, dem sei die Lektüre der vom Meisterschüler Kossok unter dem Titel "Cognac und Kaisermörder" herausgegebenen Essays und Miniaturen von Walter Markov empfohlen. Manfred Kossok, und dafür bin ich ihm am meisten dankbar, hat mir Marxens iberisches Erbe nahegebracht und mit seiner erfrischend respektlosen Art zu entschlüsseln gelehrt. Obwohl sich Kossok, sein Lehrer Werner Krauss, Alberto Gil Novales, Wolfgang Wippermann, Maximilien Rubel und Pedro Ribas in Wort und Schrift um die iberische Hinterlassenschaft von Marx bemüht haben, ist die Kunde von diesen Texten immer noch kaum über einen engen Spezialistenkreis hinausgedrungen. Tatsächlich gibt es im Textkorpus von Marx nur wenig vergleichbare Stellen, an denen so deutlich und entschieden die Bedeutung, ja die Priorität des sogenannten politischen Überbaus gegenüber der ökonomischen Basis am konkreten historischen Material exemplifiziert worden ist, wie in den 1854 für die "New-York Daily Tribune" entstandenen Essays zur spanischen Geschichte. Ich möchte Ihnen eine Kostprobe aus dem Finale vortragen, das mehr als 100 Jahre als verschollen galt und erstmals wieder im MEGA-Band I/13 abgedruckt ist. In der deutschen Rohübersetzung meines Kollegen Helmut Findeisen haben die furiosen, in Sprachgestus und Stil an den "Achtzehnten Brumaire" gemahnenden ersten beiden Sätze folgenden Wortlaut: "Messieur de Chateaubriand beschuldigt in seinem ‚Kongreß von Verona‘ die spanische Revolution 1820-1823, nichts weiter gewesen zu sein als eine servile Parodie auf die erste Französische Revolution, aufgeführt auf der Madrider Bühne und in kastilianischen Kostümen. Er vergißt, daß nicht erwartet werden kann, daß die Kämpfe der verschiedenen Völker, die aus dem feudalen Zustand der Gesellschaft heraustreten und sich zur bürgerlichen Ordnung hinbewegen, sich durch etwas anderes unterscheiden, als durch das besondere Kolorit, das sich aus Rasse, Nationalität, Sprache, Stand von Sitten und Gebräuchen ergibt." Der hier von Marx in die Diskussion eingeführte Komplex von Faktoren, den die moderne Historiographie mit Mentalitätsforschung umschreiben würde - dafür öffnete mir Kossok die Augen - steht jenseits monokausaler historischer Deutungen und "ökonomischer Determinismen".
GH: Großen Einfluß hatte auf mich die politische Ideengeschichte im Stile Iring Fetschers, angefangen schon in der Schule mit der Lektüre seines Buches "Von Marx zur Sowjetideologie" über die großen Darstellungen zum Marxismus bis hin zum gemeinsam mit Herfried Münkler herausgegebenen mehrbändigen "Handbuch der politischen Ideen". Daneben treibt mich - als in Frankfurt ausgebildeten Philosophen - noch immer die zuerst von Habermas aufgeworfene Frage eines zweckrational verengten Handlungsbegriffes bei Marx um, die sich vielleicht über das in der MEGA noch zu publizierende Material einer Antwort zuführen lassen wird.
Anmerkungen
1 Die Namen der Interviewpartner werden im Text mit ihren Initialen abgekürzt. Das Interview führten die Redaktionsmitarbeiter Harald Bluhm, Henri Band und Christian Luther am 16.10.2002 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Der Text wurde redaktionell bearbeitet, Zwischenüberschriften eingefügt. [Die Fragestellungen werden hier in fetter Schrift dargestellt.]
2 Siehe http://www.bbaw.de/forschung/mega/
Prof. Dr. Manfred Neuhaus, Berliner Arbeitsgruppe der Marx-Engels-Gesamtausgabe
Dr. Gerald Hubmann, Berliner Arbeitsgruppe der Marx-Engels-Gesamtausgabe

aus: Berliner Debatte INITIAL 14 (2003) S. 84-93