Nicht die ganze Breite des Widerstands ausgeschöpft

Warum konnte die Anti-Kriegs-Koalition der Regierungen sich im März 2003 nicht gegen die US-Regierung durchsetzen?

Die Bush-Regierung und die kleine Schar ihrer Getreuen haben sich - nachdem im Sicherheitsrat keine Mehrheit zustande kam - zu einer Militärintervention ohne UNO-Mandat entschlossen. Der Grund dafür, dass der Krieg trotz politischer Isolierung der Kriegskoalition begann, ist, dass die Debatte über das Inspektionsregime und die irakische Abrüstung von Massenvernichtungswaffen nie der Kern des internationalen Streits war.
Diesbezüglich hatten stets Schröder, Chirac und Putin alle Vernunft und Argumente auf ihrer Seite. Aller Welt war klar, dass der Irak offensichtlich keine einsatzfähigen Massenvernichtungswaffen mehr besaß, bei Strafe des eigenen Untergangs auch keine zusammenbastelte, und dass Briten und US-Amerikaner den UN-Sicherheitsrat nun bereits mehrfach in dieser Sache schamlos belogen haben. Vielmehr geht es der US-Regierung darum, die irakischen Ölvorräte unter Kontrolle zu bekommen, um auf diese Weise angesichts der knapper werdenden fossilen Energiereserven die Verbündeten in Europa sowie die aufstrebenden Ökonomien Asiens in den Schwitzkasten zu nehmen und den Ölpreis zu regulieren. Dabei ist der Irak nicht nur wegen der Ölvorkommen von Bedeutung, sondern auch wegen der strategischen Kontrolle der energiereichen Gesamtregion. Eine zweite Motivation, die potenzielle Bedrohung Israels durch den Irak zu beseitigen, ist sicher auch wirksam, aber weniger relevant.

Mit einem erfolgreichen Irak-Krieg versuchen die USA ihre internationale Vorherrschaft abzusichern. Dabei kalkuliert die Bush-Regierung, dass das eigentlich gefährliche Bündnis EU-Russland zu wenig Substanz hat und bei nächster Gelegenheit wieder aufgeweicht werden könnte. Die Verstimmung in Paris und Berlin nimmt man billigend in Kauf, wohlwissend, dass die EU-Regierungen weiterhin politische, wirtschaftliche und militärische Bündnispartner der USA bleiben werden, zumal in der Irak-Frage erfolgreich ein Keil in die EU getrieben werden konnte. Europäische Vorwürfe, der Krieg würde gegen Völkerrecht verstoßen, werden gelassen gesehen, zumal die EU-Länder noch 1999 bei dem gemeinsamen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien mit von der Partie waren.

Dennoch war der Widerstand der friedensorientierten Regierungen, zu der neben Deutschland immerhin drei Veto-Mächte zählen, nicht umsonst. Sie haben die Instrumentalisierung der UNO verhindert und den USA ihre politischen Grenzen aufgezeigt. Den Friedensbewegungen in aller Welt haben sie Mut gemacht. Warum konnte die Anti-Kriegs-Koalition der Regierungen sich im März 2003 nicht gegen die US-Regierung durchsetzen?

1. Der Widerstand gegen den US-Kurs begann zu spät. Erst im August 2002 begann Bundeskanzler Schröder seine Anti-Irak-Krieg-Kampagne. Die Bush-Regierung hatte den Krieg aber bereits im September 2001 angekündigt.

2. Der Widerstand war nicht konsequent: Die Kriegsvorbereitung der USA wurde insbesondere in Deutschland nicht behindert. Aber auch Frankreich gewährte noch Mitte März Überflugrechte.

3. In den USA erreichte die Friedensbewegung keinen entscheidenden Einfluss auf die politische Führung. Die Demokratische Partei traute sich im Herbst 2002 nicht, einen Anti-Irak-Kriegs-Wahlkampf zu führen. Auch mit Unterstützung der meisten Demokraten erhielt Bush am 10.10.02 von Senat und Repräsentantenhaus die Ermächtigung zum Krieg.

4. Die US-Medien waren in den entscheidenden Monaten einmal mehr ein verlässlicher Bündnispartner der Bush-Regierung, insbesondere die Fernsehsender, die konsequent für den Krieg trommelten. Für die US-Friedensbewegung war es im Vergleich zu den europäischen Bewegungen schwerer, die eigene, ständiger und umfassender Desinformation ausgesetzte Bevölkerung für eine Anti-Kriegs-Politik zu gewinnen.

Generell muss man der Bundesregierung für ihr Anti-Kriegs-Engagement in den letzten Monaten Respekt zollen. Denn nach den irritierenden Äußerungen aus dem Auswärtigen Amt im Dezember ("Zweite UN-Resolution wünschenswert, aber nicht notwendig") hat die Politik der Bundesregierung seit Januar wieder friedenspolitische Substanz hinzugewonnen, und zwar an zwei zentralen Punkten:
- Erstens: In seiner Regierungserklärung vom 13. Februar hat Schröder eine andere Auslegung der UN-Resolution 1441 vorgenommen. Er stellte erstens fest, dass "diese Resolution keinen Automatismus zur Anwendung militärischer Gewalt" enthalte, und zweitens, dass "das Entscheidungsmonopol auf die Anwendung von Gewalt ... beim Weltsicherheitsrat" bleiben müsse. Kombiniert führten beide Gedanken zur Notwendigkeit einer zweiten Resolution, wollte man einen Krieg mit dem Segen der UNO beginnen. Hier war also zurückgerudert worden. So wie Fischer im Dezember redeten im Februar/März nur noch Angehörige der Koalition der Kriegswilligen.
- Zweitens: Zwar war die u.a. in der breit unterstützten sozialdemokratisch-grünen Hamburger Erklärung[1] vom 6. Januar verlangte Festlegung der deutschen Regierung auf ein NEIN im UN-Sicherheitsrat nicht vollständig erfolgt, aber die Goslarer Rede von Bundeskanzler Schröder war ein mutiger Schritt in diese Richtung. Zwar ließ sie formal weiterhin eine Enthaltung zu. Dennoch wurde die Rede vielfach sogleich so interpretiert, dass sich "inzwischen ... auch Deutschland darauf festgelegt" habe, "bei einer möglichen Abstimmung über den Irak-Krieg mit ›Nein‹ zu stimmen." (Brief von hauptsächlich Hamburger Einzelpersonen an Kardinal Lehmann, Präses Kock, Herrn Sommer und Herrn Dr. Hundt vom 30.1.03; als FAZ-Anzeige 3.2.03). Dass der zitierte Brief nicht nur von diversen Kulturschaffenden, sondern auch studierten Juristen wie H. Voscherau und dem Kanzler-Freund und -Berater Manfred Bissinger unterzeichnet war, legte nahe, dass Schröder sich mit seiner Goslarer Rede Deutschland durchaus jenseits der Enthaltung positionieren wollte. Ihm, nicht dem Auswärtigen Amt, ist die friedenspolitische Offensive der vergangenen Monate zu verdanken.

Die Offensive sah so aus, dass der Schulterschluss mit Frankreich zu einem Bündnis mit Russland erweitert wurde. Auch China und die Mehrheit der im UN-Sicherheitsrat vertretenen Regierungen schlossen sich der deutsch-französisch-russischen Position an. Diese radikalisierte sich Woche für Woche. Mitte März hatten Frankreich und Russland ihr Veto angekündigt; damit war die Möglichkeit für eine kriegslegitimierende UN-Resolution für die US-Regierung dahin.

Unter diesem Druck begann sogar das Kriegsbündnis zu wackeln. Daraufhin stellten sich die US-Militärstrategen schon auf Kriegsmodelle ohne britische Beteiligung ein. Auch die Stationierungsrechte in der Türkei blieben den USA in einer ersten Abstimmung des türkischen Parlaments versagt, so dass militärisch umdisponiert werden musste. Der politische Widerstand hatte nun sehr sichtbar materielle Gestalt angenommen. Damit wurde die verbreitete Ohnmachts-Theorie Lügen gestraft, dass die Bush-Regierung sowieso machen könne und würde, was sie wolle. Diese Position übersah, dass die Bush-Regierung beim Beginn eines Angriffskrieges (ohne UN-Mandat) nicht nur Völkerrecht brechen, sondern sich auch Probleme bei der Kriegsführung einhandeln würde. Die internationale Achse des Friedens eröffnete auch für Deutschland neue Möglichkeiten, den Friedenskurs konsequent zu gestalten. Diese blieben aber bis Mitte März im Wesentlichen ungenutzt.

Denn ein wichtiges Land für die US-Kriegsführung war und ist Deutschland nach wie vor. Da die Regierungsposition zwar grundsätzlich gegen den Irak-Krieg, aber nicht konsequent war, hat Deutschland in den Vorkriegs-Monaten die Kriegsvorbereitung der Bush-Regierung unter dem Titel "Bündnisverpflichtungen" ermöglicht. In seiner Regierungserklärung vom 13. Februar verteidigte Schröder noch einmal diese Haltung. Im "Stern" betonte er: "Ich habe immer erklärt, dass wir die Bewegungsfreiheit unserer Verbündeten nicht einschränken werden." (8/2003, S. 46) Angesichts dieser Aussage konnte die Bush-Regierung auf deutsche Überflugrechte bauen - eine Genehmigung, die z.B. Österreich im Februar verweigert hatte.

Erfreulicherweise begann die Position "Bündnisverpflichtungen" Anfang März zu bröckeln, als die deutsche Regierung der Verlegung weiterer Patriot-Systeme in die Türkei, wie sie in der NATO verlangt worden war, eine Absage erteilte. Der nächste Schritt, nämlich den Beginn eines Angriffskrieges durch eine US-geführte Militärkoalition zur Kassierung der Überflugrechte zu nutzen, erfolgte leider nicht. Immerhin war die GRÜNEN-Vorsitzende A. Beer am 10. März - zu spät - auf diese Position gesprungen.

An einer konsequenteren Haltung gegen den Krieg hinderten die deutsche und französische Regierung die eigenen Sünden der Vergangenheit: Das Völkerrechts-Argument konnte aus ihren Mündern in Washington nicht beeindrucken, da beide Regierungen noch 1999 am Angriffskrieg gegen Jugoslawien aktiv teilgenommen und damit ihre eigene Missachtung der UNO zum Ausdruck gebracht haben. Diese Verfehlung wurde öffentlich nie aufgearbeitet und nie bedauert, geschweige denn Entschädigungen an das angegriffene Land gezahlt.

Außerdem hatte man die US-Irak-Politik lange Zeit unterstützt. Frankreich trägt Mitverantwortung für die Einrichtung der Flugverbotszonen. Jahrelang hat die französische Luftwaffe fleißig mitbombardiert. Aus deutscher Sicht ist an den Antrittsbesuch Fischers bei US-Außenminister Powell im Februar 2001 zu errinnern. Damals sagte Fischer zu den damaligen US-Luftangriffen auf Bagdad: " (Wir) haben (...) die Aktion, die unsere Verbündeten in sehr schwieriger Situation zur Aufrechterhaltung der Sicherheit von Minderheiten im Irak unter hohem persönlichen Einsatz gewährleisten und damit auch die Sicherheit ihrer Soldaten dort gewährleisten wollen, nicht zu kritisieren."[2] Deswegen konnte die permanente, in 2003 intensivierte Luftkriegsführung von USA und Großbritannien nie ernsthaft problematisiert werden.

Sicherlich: Wer prinzipiell militärische Gewalt unterstützt, ist üblicherweise im militärischen Abschreckungsdenken befangen. Dennoch muss man die Behauptung, erst der Militäraufmarsch habe den Irak kooperationswillig gemacht, als argumentativen Kollateralschaden bezeichnen. Die Frage ist, ob die Wiederaufnahme der UN-Inspektionen nicht genauso gut ohne den Militäraufmarsch möglich gewesen wäre. Die Antwort lautet: Ja - vorausgesetzt, es hätte in den letzten Jahren bei USA und Großbritannien den ernsthaften Willen zu einer Lösung gegeben.

Die Nicht-Kooperation des Irak 1998 und danach hatte durchaus rationale Gründe. Zum einen gab es - wie sich inzwischen herausstellte: berechtigte - Spionagevorwürfe gegen UN-Inspekteure. Außerdem wurde dem Irak seit 1991 eine konkrete Perspektive der Aufhebung der Wirtschaftssanktionen verweigert. 1998 wäre es wie Anfang 2003 sinnvoll gewesen, die schrittweise Aufhebung der Sanktionen mit attestierter Abrüstung von irakischen Massenvernichtungswaffen zu koppeln. Nach einer entsprechenden Perspektive hatte die irakische Regierung gefragt und diese Forderung durch Nicht-Kooperation mit den Inspekteuren unterstrichen. Statt ernsthaft nach einer Lösung zu suchen und eine Perspektive in Aussicht zu stellen, wurden die Inspekteure im November 1998 abgezogen. Am 16.12. begannen US- und britische Regierung ihr Bombardement. Russland warf ihnen vor, die UN-Charta grob verletzt zu haben. Außerdem wurde der Rücktritt von UNSCOM-Chef Butler gefordert, da er sein Mandat überschritten habe. Dieser kam der Forderung aber nicht nach. Sodann erklärte der Irak, dass keine Waffeninspekteure mehr willkommen seien. Auch später war die Dialogbereitschaft der westlichen Mächte nicht sonderlich hoch ausgeprägt: Im März 2002 hat der Irak 19 Fragen bezüglich der Inspektionen an den Rat gerichtet, die auf Druck der US-Regierung nicht beantwortet wurden.

In Deutschland ist es in den entscheidenden Monaten nicht gelungen, die Friedenskräfte in ihrer ganzen Breite zusammenzuführen. Sie reichten von der seit Jahren aktiven Friedensbewegung über die Regierungsparteien SPD und GRÜNE bis weit in die CDU/CSU und die katholische Kirche. Die riesige Friedensdemonstration am 15. Februar repräsentierte dieses Spektrum nur unvollkommen. Genauso wie international mit dem konservativen Chirac eng zusammengearbeitet wurde, war in der Friedensfrage innenpolitisch der Schulterschluss mit kritischen Christdemokraten wie Geis und Wimmer möglich. Dahinter hätten Entlarvungsgelüste Richtung CDU, gerade angesichts der unappetitlichen US-Reise Merkels, zurückstehen sollen.

Von Rot-Grün wurde als unschön empfunden, dass die etablierte Friedensbewegung die Differenzen mit der Bundesregierung in den Vordergrund rückte und sie wegen der "Bündnisverpflichtungen" kritisierte. Aber wie konnte man Friedensengagierten angesichts der Geschichte der letzten Jahre abverlangen, den Regierungskurs vorbehaltlos zu unterstützen? Vertrauen muss erst mühsam wieder aufgebaut werden, nachdem die rot-grüne Bundesregierung selbst völkerrechtswidrige Angriffskriege unterstützt hatte.

Eine Quelle des Misstrauens gegen die Standfestigkeit der Bundesregierung war deren Hauptargument gegen einen Irak-Krieg: Er gefährde den Erfolg im Krieg gegen den Terrorismus. Bis heute (seit September 2001) warten wir auf Beweise für die Anschuldigungen, die den Afghanistan-Krieg und die Einschränkung der Bürgerrechte in vielen Ländern rechtfertigen sollten. Ohne gerichtsverwertbare Beweise hat die NATO 2001 den Bündnisfall ausgerufen und sich auch Deutschland am Krieg beteiligt. Auch beim Irak legen US- und britische Regierung wiederum keine Beweise vor. Würden die Beweis-Maßstäbe von 2001 angelegt, würde Deutschland wieder mit in den Krieg ziehen. Eine vertrauensbildende Maßnahme wäre gewesen, von der US-Regierung Aufklärung über die Ungereimtheiten hinsichtlich des 11. September bis hin zur mutmaßlichen Verwicklung US-amerikanischer Stellen zu verlangen.[3]

So hat auch das Misstrauen der etablierten Friedensbewegung möglicherweise verhindert, dass eine noch größere politische Wirkung in Deutschland entstand. Da Parteien wie SPD und GRÜNE sich weder auf ein konsequentes NEIN im Sicherheitsrat festlegen, noch materiell in die US-Kriegsvorbereitung in Deutschland eingreifen wollten, wurde am 15. Februar bewusst auf RednerInnen aus dem Parteienspektrum verzichtet. Der Widerstand in Deutschland konnte so nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen. Die Regierung sprang nicht über ihre Jugoslawien- und Afghanistan-Schatten, die etablierte Friedensbewegung ließ sich ebenfalls von den Schatten der Vergangenheit leiten. Wer aber die Zukunft gewinnen will, muss Bündnisse mit alten Feinden und aktuellen Gegnern auf anderen Gebieten schließen. Nur so entsteht die Koalition der Friedenswilligen.


Anmerkungen:

Ulrich Cremer ist Mitherausgeber des Buches "Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung". Er ist Mitglied der GRÜNEN, war Initiator der GRÜNEN Anti-Kriegs-Initiative und bis Februar 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN; im Januar 2003 initiierte er zusammen mit Niels Annen (Juso-Bundesvorsitzender) die rotgrüne Hamburger Erklärung gegen den Irak-Krieg (s. www.gruene-linke.de)
[1] Die Hamburger Erklärung wurde u.a. von 50 Bundestagsabgeordneten unterschrieben. Text siehe: www.gruene-linke.de
[2] Ulrich Cremer: Bomben auf Bagdad - ein konsequenter Joschka Fischer, in: Sozialismus 3/2001, S. 6
[3] An dieser Stelle sollen zwei Literaturtipps genügen:
1) Nafeez Mosaddeq Ahmed: The War on Freedom, Joshua Tree, California 2002 - www.Thewaronfreedom.com -
2) Mathias Bröckers: 11.9., Frankfurt/M. 2002

aus: Sozialismus 4/2003