Der Terrorismus als Katalysator

Vor diesem Hintergrund dürfte ein militärischer Nordblock .. gegen den Süden Konturen annehmen. Gemeinsame Militäraktionen zur Terrorismusbekämpfung könnten der Anfang sein

Dieser Artikel wurde am 22.9.01 abgeschlossen. NATO-Militäraktionen, die in den Tagen danach möglicherweise stattgefunden haben, konnten nicht mehr berücksichtigt werden.


Die Terroranschläge vom 11.9.2001 wurden in den letzten Tagen häufig als Zeitenwende, historische Zäsur oder radikaler Einschnitt verstanden. Einerseits zu Recht, denn der Terror hat eine bisher nicht gekannte Dimension erreicht. Andererseits haben die Ereignisse brutal die in Regierungen und Redaktionsstuben verdrängte Wahrheit ans Tageslicht gezerrt: "Hoch entwickelte Länder wie Amerika und Deutschland sind grundsätzlich verwundbar. Auf Dauer lassen sie sich weder technisch noch militärisch schützen..."1


Maßnahmen gegen die Verwundbarkeit durch terroristische Anschläge gibt es für die hoch entwickelten Länder nur auf anderen Gebieten. Man kann z.B. die Sicherheit und Kontrollen bei der zivilen Luftfahrt erhöhen, damit keine Flugzeuge mehr entführt werden können. Man kann die Bürgerrechte einschränken, die Geheimdienste verstärken und die Polizei ausbauen, um die Vorbereitung von Terroranschlägen zu erschweren. Auch kann man mehr Mittel für die Strafverfolgung bereitstellen, um die verbliebenen Mitglieder der Terrororganisationen vor Gericht zu bringen. Man kann Konten sperren und finanzielle Transaktionen unterbinden. So ließen sich die Risiken zumindest kurzfristig reduzieren. Langfristig ginge es natürlich um die Beseitigung der Ursachen für den Terrorismus, womit eine grundlegende Veränderung der Wirtschaft und Politik der westlichen Gesellschaften verbunden wäre.

Aushöhlung des Völkerrechts und Schwächung der UNO

Auch wenn militärischer Schutz nicht möglich ist, hat sich der stärkste Militärpakt der Welt, die NATO, mit den Terroranschlägen sofort beschäftigt und das erste Mal in der Geschichte den "Bündnisfall" in Stellung gebracht. Festgestellt ist dieser im NATO-Beschluss vom 12.9. genau genommen noch nicht. Grundlage für den Bündnisfall ist Artike1 5 des NATO-Vertrages von 1949: "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird." Ob ein bewaffneter Angriff vorliegt oder nicht, darüber waren sich die NATO-Staaten nicht einig. Insofern wurde die Einschränkung gemacht, "dass dieser Anschlag, falls festgestellt wird, dass er vom Ausland aus gegen die Vereinigten Staaten verübt wurde, als Handlung im Sinne des Artikel 5 ... angesehen wird".2 Welche Institution würde jedoch darüber zu befinden haben, dass der Nachweis erbracht wäre und damit den Automatismus einleiten? Vermutlich kein unabhängiges Gericht, sondern wiederum der Nordatlantikrat.


Einmal angenommen, der Nachweis wäre erbracht und der Bündnisfall träte ein. Dann sähe der Artikel des NATO-Vertrages vor, "dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten." D.h. die Wahl der Mittel stände den NATO-Mitgliedern auch nach Feststellung des Bündnisfalles völlig frei. Sie könnten ein Beileidstelegramm schicken, aber auch militärische Hilfe bei der Selbstverteidigung leisten. Wenn sich die Schröder-Regierung bereits jetzt für die militärische Komponente entschieden hat, leitet sich das also nicht zwingend aus dem NATO-Vertrag ab ("Bündnisverpflichtung"), sondern ist politisch motiviert.


Strittig diskutiert wird, ob überhaupt ein "bewaffneter Angriff" vorliegt. Laut UN-Definition vom 14.12.74 wäre eine Aggression die "Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat gegen einen anderen Staat". Nicht-staatliche Terrororganisationen hatte man als Akteure dabei nicht im Blick. Staaten kommen erst insofern ins Spiel, als sie Terroristen Unterstützung und Unterschlupf gewähren. Wie mit diesen zu verfahren ist, hat der UN-Sicherheitsrat am 12.9. so formuliert: Er "ruft alle Staaten auf, dringend zusammenzuarbeiten, um die Täter, Drahtzieher und Förderer dieser terroristischen Anschläge vor Gericht zu bringen, und betont, dass diejenigen, die den Tätern, Drahtziehern und Förderern helfen, sie unterstützen oder ihnen Zuflucht gewähren, zur Rechenschaft gezogen werden". Zumal der Sicherheitsrat mit der Angelegenheit befasst bleiben will, lässt sich hieraus keinerlei Blankoscheck für einen Militärschlag gegen irgendein Land ableiten. Vielmehr wird der rechtstaatliche Weg gewiesen.


An anderer Stelle gibt sich jedoch der Sicherheitsrat "entschlossen, die Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durch terroristische Gewalttaten mit allen Mitteln zu bekämpfen" und betont die "Anerkennung des naturgegebenen Rechtes zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der Charta". Dieses Recht darf laut UN-Charta Artikel 51 solange ausgeübt werden, "bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Welfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat." Solange der Sicherheitsrat also untätig bleibt, liegt die Selbstverteidigung in der Hand des angegriffenen Staates, also der USA. Aber was ist nun Selbstverteidigung? Wie kann diese von Angriffen abgegrenzt werden?


Das 1999 verabschiedete neue "Strategische Konzept" der NATO mag hier Licht ins Dunkel bringen. Darin wird klipp und klar festgehalten: "Im Fall eines bewaffneten Angriffs auf das Gebiet der Bündnispartner ... finden Artikel 5 und 6 des Vertrages von Washington Anwendung." (Art. 24) Davon unterschieden werden Einsätze bzw. Reaktionen, die aus "Konsultationen nach Artikel 4 des Washingtoner Vertrags" (Art. 24) resultieren. Dieser lautet lapidar: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind." "Reaktionen" auf "Risiken umfassenderer Natur ... einschließlich Akte des Terrorismus" (Art. 24) werden in der NATO-Strategie eindeutig auf Artikel 4 basiert, haben also mit "Verteidigung" nichts tun! Es wären vielmehr "nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze". Diese können nach NATO-Auffassung von einem UN-Sicherheitsratsmandat gedeckt sein, müssen es aber nicht. Denn das NATO-Bündnis erinnert in diesem Zusammenhang an "seine ... Beschlüsse in bezug auf Krisenreaktionseinsätze auf dem Balkan" - sprich an den NATO-Krieg gegen Jugoslawien (Art. 31). Wenn also Kabul als Reaktion auf Terrorakte bombardiert wird, ist das gemäß dem Strategischen Konzept der NATO keine Selbstverteidigung, sondern Krisenreaktion, Angriff. Wozu also den Bündnisfall feststellen?


Hören wir Bundeskanzler Schröders Einschätzung: "Die Vereinigten Staaten können auf der Grundlage der Entscheidung des Sicherheitsrates Maßnahmen gegen die Urheber und Hintermänner, gegen Auftraggeber und Drahtzieher der Attentate ergreifen. Und sie können und dürfen, durch diese Weiterentwicklung des Völkerrechts gedeckt, ebenso entschieden gegen Staaten vorgehen, die den Verbrechern Hilfe oder Unterschlupf gewähren." (Bundestag 19.9.2001) Worin besteht nun die "Weiterentwicklung des Völkerrechts"? In der Neu-Definition der "Selbstverteidigung", die nunmehr auch bewaffnete Angriffe umfassen soll. Wenn die USA bzw. die NATO militärisch handeln, verteidigen sie sich selbst: Angriff = Verteidigung. So wären mögliche Vergeltungsangriffe mit der UN-Charta "kompatibel" gemacht. Das Feststellen des Bündnisfalles hat den politischen Sinn, zu suggerieren, dass es um Selbstverteidigung ginge. Insofern wirkt der Terrorismus als Katalysator für die weitere Aushöhlung des Völkerrechts, für die Stärkung des militärischen Faktors in der internationalen Politik und die Zurückdrängung der UNO. Im Ergebnis schwächt er so die Stellung der Länder des Südens und befestigt die bestehenden Machtstrukturen.

Höhere Militärbudgets und Stärkung der NATO

Die Terroranschläge vom 11. September werden jedoch nicht zum Quell der Erkenntnis, dass an der gegenwärtigen Verfasstheit der Welt etwas geändert werden müsse, um dem Terrorismus den Boden zu entziehen, sondern zum Katalysator von politischen Entwicklungen, die seit einigen Jahren auf den Weg gebracht worden sind, aber langsamer, als von den Initiatoren gewünscht, vorankamen.


Neben den innenpolitischen Entwicklungen (Abbau von Freiheitsrechten), die hier nicht betrachtet werden sollen, erhalten die militärpolitischen Entwicklungen einen gigantischen Schub: Seit Jahren versuchen die Militäreliten in den NATO- bzw. EU-Ländern höhere Militärbudgets durchzusetzen, aber insbesondere in Deutschland kam es bisher nicht dazu. Die Prognosen der Friedensbewegung, dass die Beschaffungsprogramme und der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee eine massive Erhöhung des Militärhaushalts nach sich ziehen würde, trafen jahrelang nicht ein.


Natürlich ließen die Militäreliten nicht locker. Der vor wenigen Wochen begonnene Mazedonien-Einsatz der NATO ist im wesentlichen eine PR-Aktion, um gut Wetter für höhere Militärausgaben zu machen, denn an sich ist Mazedonien ein "herzlich unwichtiges Land": Don gibt es keine Rohstoffe, und die innerhalb der Linken gern als Gründe bemühten Pipelines kann man auch woanders bzw. um Mazedonien herum bauen.


Im Jahre 2001 war die NATO mit folgenden Problemen konfrontiert: 1. Die Wehretats in Europa wurden nur "unzureichend" erhöht, sanken sogar teilweise. 2. Die Einsätze im Kosovo und in Bosnien waren nicht wirklich erfolgreich. In der Öffentlichkeit wurden die Vertreibungen der Serben aus dem Kosovo angeprangert und die nicht stattgefundene Entwaffnung der UCK beklagt. Für das Kosovo war keine politische Lösung in Sicht. 3. Immer wieder flammten Diskussionen um die Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit des NATO-Krieges gegen Jugoslawien auf (Stichworte: Hufeisenplan, Uran-Munition usw.). Insofern war es höchste Zeit, der Organisation einen neuen, imagebildenden Auftrag zu verschaffen. So kam es zum Mazedonien-Einsatz, der der NATO eine öffentlich wahrnehmbare und positiv angesehene Ausweitung des Einsatzspektrums verschaffte. Nunmehr war die NATO auch für "Friedensbewahrung" zuständig. Der Aufmacher der diesjährigen Sommer-Ausgabe des NATO-Magazins "NATO-Brief" lautete entsprechend: "Die Friedenserhaltung als Aufgabe".


Zehn Tage nach den Terroranschlägen ist das Ende der Bescheidenheit im militärischen Bereich eingeläutet. Bei der CDU/CSU redet man nicht länger von der "Unterfinanzierung der Bundeswehr", sondern der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe Glos gab als neue Losung aus, man müsse "mehrstellige Milliardenbeträge" bereitstellen (FAZ 19.9.01). Die Bundesregierung brachte durch Steuererhöhungen kurzfristig 3 Milliarden DM für "Terrorismusbekämpfung" auf, weitere Schritte sind wahrscheinlich.

Militärallianz NATO-Russland

Eine weitere Entwicklungslinie tritt nach den Terroranschlägen deutlicher hervor. Die Zusammenarbeit zwischen NATO und Russland verstärkt sich. Die sich seit mehreren Jahren herausbildenden Gemeinsamkeiten und die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung dürften nunmehr im militärischen Bereich einen weiteren Schub erhalten.3 Die Zusammenarbeit in Bosnien und im Kosovo sowie die Bildung des NATO-Russland-Rates sind erst ein bescheidener Anfang. Mit Bin Laden haben Russland und die USA seit mehreren Jahren einen gemeinsamen Feind. Angesichts der Taliban-Unterstützung für Tschetschenien brachten der russische Außenminister und der Verteidigungsminister im Mai 2000 die Option ins Gespräch, Stützpunkte in Afghanistan "präventiv" zu bombardieren.4 Genau das hatten die USA 1998 bereits (vor-)gemacht, als sie das Lager von Bin Laden nach den Terroranschlägen auf US-Botschaften in Afrika zerstörten. Anfang August 2001 hielt Bushs Sicherheitsberaterin Rice eine "NATO-Mitgliedschaft Russlands nicht für ausgeschlossen";5 Bundeskanzler Schröder fand den Vorschlag sogleich "hochinteressant".6 Bereits 1997 hatte Clinton entsprechende Äußerungen gemacht, von russischen Regierungsmitgliedern (Primakov 1997 und Putin) liegen gleichlautende Äußerungen vor.7 Vor diesem Hintergrund dürfte ein militärischer Nordblock unter Einschluss Russlands gegen den Süden Konturen annehmen. Gemeinsame Militäraktionen zur Terrorismusbekämpfung z.B. in Afghanistan könnten ein wichtiger Meilenstein werden.

Ulrich Cremer ist Mitherausgeber des Buches "Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung". Er war Initiator der GRÜNEN Anti-Kriegs-Initiative und bis Februar 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN. Der Artikel erscheint leicht gekürzt in Analyse & Kritik.

1 D.S. Lutz: Was gegen den Terror zu tun ist; in: Hamburger Abendblatt 18.9.01

2 Erk1ärung des Nordatlantikrates vom 12.9.01, s. http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/aussenpolitik/friedenspolitik/nato_unterbereich/nato_erkl_usa.html

3 Vgl. hierzu: U. Cremer/D.S. Lutz (Hrsg.): Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung, Hamburg 2000, S. 31ff.

4 "'Präventivschläge' gegen Afghanistan?" FAZ 25.5.2000

5 "Rice: Nato-Mitgliedschaft Russlands nicht ausgeschlossen" FAZ 4.8.2001

6 "Schröder: Russland in der Nato mög1ich" FAZ 9.8.2001

7 Vgl. hierzu U. Cremer: Neue Nato - neue Kriege? Hamburg 1998, S. 91