Kurzum

"Wenn es Scheiße regnet, soll man nicht verzweifeln und wenn die Sonne scheint, soll man sich auf schlechtes Wetter vorbereiten." Diese Grundregel der emotionalen Intelligenz eines Politikers ...

... verdanken wir Joschka Fischer. Wenn wir an die zurückliegenden Wahlkampfwochen denken, ist man geneigt zu glauben, die wilde Achterbahnfahrt der Stimmungen und Umfrageergebnisse hat hohe Anforderungen an die Balance zwischen Hoffnung und Verzweiflung der Spitzenpolitiker gestellt. Wenn wir uns allerdings die nüchternen Zahlen der absoluten Stimmanteile der Parteien anschauen, dann erscheint im Nachhinein diese Achterbahnfahrt als reine Fiktion. Der Wahlkrimi aus Berlin, eine reine mediale Erfindung? Sicher nicht in jeder Hinsicht (das Endergebnis war knapp und die Mehrheit für rot-grün in der Sitzverteilung hauchdünn) aber doch sehr weitgehend. Wöchentliche Umfragen, TV-Duelle, Polit-Talks auf allen Sendern, an fünf Tagen in der Woche, Hochrechnungen am Wahlabend im Minutentakt, das Wettrennen der Sender um die erste Hochrechnung, trotz dünnem Zahlenmaterial, alles dies hat ein knappes Wahlergebnis, als eine dramatische Wahlschlacht mit permanent anderen Siegern in Szene gesetzt. Diese Inszenierung mag für den einen oder anderen sehr unterhaltend gewesen sein. Mit der Wahlentscheidung der 61 Millionen Wahlberechtigten hatte es aber dennoch wenig zu tun.
Halten wir uns an die Fakten: Die SPD hat im Vergleich der Bundestagswahlen von 2002 zu 1998 runde 1,7 Millionen Zweitstimmen verloren. Im Vergleich zur Wahl von 1994 aber immerhin 1,3 Millionen Zweitstimmen hinzugewonnen. In diesen Zahlen stecken zwei simple Botschaften: Erstens: Die SPD konnte die Wechselwähler von 1998 nicht komplett und dauerhaft an sich binden. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Gesamtentwicklung und der Erwartungshaltung, die sich durch das erstarrte Kohl-System aufgebaut hatte und nicht befriedigt werden konnte, kann dies eigentlich niemanden ernsthaft überraschen. Zweitens: Die SPD ist aber auch nicht in ihre Zeit als strukturelle Minderheitspartei zurückgefallen, sie hat viele taktische Zweitstimmen an die Grünen abgegeben und dennoch ein Zweitstimmenpotenzial gesichert, das strukturell zwischen 18 und 19 Millionen Wählern liegt.
Kurzum: Entgegen der landläufigen Meinung, die im Medienwahlkampf verbreitet wurde wie ein Lauffeuer, Wahlentscheidungen seien heutzutage wie Börsenkurse, alle höchst schwankend und unberechenbar, kristallisiert sich im Wahlergebnis eine erstaunliche Stabilität einer bundesdeutsche Gesellschaft heraus, in der der klassische Nachkriegskonservatismus, der sich auf das kleinbürgerliche Milieu und ihren sozialen Konventionen stützt, keine strukturelle Mehrheit mehr besitzt.
Dies wird in der Entwicklung der absoluten Zweitstimmen der Unionsparteien noch deutlicher. Stoiber und Merkel erzielten zusammen 18,5 Millionen Zweitstimmen. Ganze 11.000 Stimmen weniger als die SPD. Bei der Bundestagswahl von 1994 waren dies noch 19,5 Millionen Zweitstimmen. Das Abschneiden der CDU (ohne CSU) muss aus der Sicht der Parteiführung gar als enttäuschend betrachtet werden. Nur ca. 160.000 mehr Zweitstimmen als 1998 konnten eingefahren wären. Der Anteil der CSU-Stimmen am Gesamtergebnis der Union ist von 17,5% in 1994 auf 23,3% in 2002 gestiegen.
Kurzum: Die Union konnte ihren Zuwachs nur durch überdurchschnittliche Mobilisierung des bayerischen Traditionslagers erzielen. Der eigentliche Wahlverlierer ist die CDU!
Kommen wir zurück zur Fischer´schen Grundregel der emotionalen Intelligenz eines Politikers. "Wenn es Scheiße regnet..." usw. Wie es scheint, haben die Wähler nach einer ähnlichen Maxime gewählt: "Wenn die Regierung Scheiße regnen lässt, soll man nicht verzweifeln und wenn die Opposition Sonnenschein verspricht, soll man sich auf schlechtes Wetter einstellen und bei den bekannten Regenmachern bleiben." Das Problem bei dieser Grundregel ist, bei den Politikern wie bei den Wähler, dass bei dieser Zweckrationalität jeglicher Enthusiasmus auf der Strecke bleibt. Rot-Grün ohne Enthusiasmus, das ist die Überschrift für das Wahljahr 2002 und wohl auch für die kommenden Regierungsjahre. Die auffällige Zurückgenommenheit des Kanzlers in den TV-Duellen hat diese Maxime bereits körperlich werden lassen.
Richard Hilmer, Geschäftsführer von Infratest-Dimap, jener Demoskopie-Gesellschaft, die am Wahlabend in der ARD für andauernde Verwirrung sorgte, hat nach der Wahl einen interessanten Satz gesagt: "Vielleicht waltet ja eine ordnende Hand jenseits von Flut, Möllemann und TV-Duellen." Ein erstaunlicher Satz für einen Meinungsforscher, der jedoch das eigentliche Problem auf den Punkt bringt. Nicht nur Politiker haben sich vom Volk entfernt, auch Journalisten, Wissenschaftler und Meinungsforscher, haben sich von ihrer eigenen Inszenierung der Emotionen, der Beliebigkeit der geschichtslosen "Hier und Heute - Haltung" hinwegtragen lassen, sie haben ihre eigenen Geschichten, ihre wöchentlichen Momentaufnahmen für die Wirklichkeit gehalten und die fundamentale Wirklichkeit des Alltages aus den Augen verloren. Individuelle Emotionen, Identifikationen, Weltanschauungen sind mit strukturellen Dimensionen der sozialen Herkunft, Kultur und des Gesamtmilieus verknüpft. Wer diesen Zusammenhang seziert, Emotionen herausoperiert und einzeln betrachtet, wird die Gesellschaft nicht verstehen können. Insofern sind nicht Sonntagsfragen und Politbarometer interessant, sondern die kulturellen Verschiebungen der sozialen Milieus in unserer Gesellschaft. Hier erscheint eines augenfällig: Der Versuch eine Art Pop-Politik zu etablieren, um die Stimmen aus dem modernen Arbeitnehmermilieu zu gewinnen ist oberflächlich gescheitert, aber tiefgründig steckt in der Frage der treffenden Interpretation der zukünftigen sozialen und kulturellen Konventionen dieses Milieus der Schlüssel für die strukturelle Mehrheitsfähigkeit der Zukunft. Eine Antwort hat noch keine Partei.
Kurzum: Der neue Generalsekretär der SPD, sollte sich schnell von Speed-Demoskopen abwenden und eine leistungsfähige "Forschungsgruppe strukturelle Mehrheitsfähigkeit" als Vorbereitung auf die Wahl-Kampagne 2006 ins Leben rufen.
Wohlgemerkt - dabei geht es nicht um die Entdeckung der Langsamkeit, sondern die Entdeckung der Wirklichkeit.