Die schleichende Entpolitisierung der Volkspartei

Anmerkungen zur Lage der Sozialdemokratie nach dem Nürnberger Bundesparteitag

Der Generalsekretär der SPD hat in den letzten Wochen des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass es in der Partei zunehmende Stimmen gibt, ...

... die sich die Frage stellen, ob nicht die Oppositionsrolle besser wäre als das Regieren. Franz Müntefering thematisiert dieses Problem vollkommen zu Recht. Auch aktuelle Umfragen belegen ein Mobilisierungsdefizit der SPD im Vergleich mit den politischen Gegner. Aber machen wir ein banales Gedankenexperiment. Wenn ein Anhänger der Sozialdemokratie das Handeln und Reden der Regierung in wichtigen Politikfeldern (Außenpolitik, Innenpolitik, Wirtschaftspolitik) ernst nimmt und die von ihr selbst verlautbarte Position akzeptiert, dass erstens die Spielräume für Regierungshandeln sehr eng sind und zweitens eine Regierungspartei die primäre Funktion hat, das Regierungshandeln abzusichern, dann kann dieser Anhänger durchaus zu dem Schluss kommen, dass die Oppositionsrolle sinnvoller ist. Diese Position wäre alles andere als dogmatisch oder zynisch, sondern rational. Denn die Rolle einer Opposition liegt darin, auf Missstände und Reformalternativen aufmerksam zu machen. Sie muss zudem politisieren und Protest bündeln. Besser, dies geschieht aus einer aufgeklärten, sozialen und emanzipatorischen Perspektive als aus dem entgegengesetzten politischen Lager. Dieses Gedankenspiel verdeutlicht einen (wenn auch politisch wenig hilfreichen) Ausbrechversuch aus dem gegenwärtigen rot-grünen Dilemma. In vielen entscheidenden Fragen "sozialdemokratischer Identität" vertritt die Regierung einen Kurs, den die zweifelsohne sehr heterogene Mitglieds- und Anhängerschaft teils aus Einsicht in die vermeintlichen taktischen und inhaltlichen Sachzwänge stützt, teils zähneknirschend bis enttäuscht, aber keineswegs mit Begeisterung hinnimmt.

Nur vor dem Hintergrund dieses Dilemmas kann der vergangene Bundesparteitag der SPD in Nürnberg ("Erneuerung. Verantwortung. Zusammenhalt.") interpretiert werden, will man das Geschlossenheits-Hurra der Parteiführung genauso vermeiden wie die inzwischen nach jedem Parteitag übliche ritualisierte Verratsrhetorik von Teilen der Linken. In den zwei entscheidenden "Knackpunkten" des Bundesparteitags, die gleichzeitig auch Grundsatzfragen für die SPD darstellen, haben viele Delegierte entgegen ihrer Überzeugung auf die finale Kraftprobe mit der Regierungslinie verzichtet - erstens die Definition eindeutiger Grenzen einer Unterstützung der militärischen Intervention gegen die Verantwortlichen der Terroranschläge vom 11. September und zweitens die Entwicklung einer über die bisherigen Maßnahmen hinausgehenden Strategie zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Im politischen Vorlaufprozess wurden Kompromisse vereinbart, die jedoch für die interessierte Öffentlichkeit nicht erkennbar wurden. *

Schon gar nicht ist die Zustimmung zum finanzpolitischen Konsolidierungskurs und zum Einsatz der Bundeswehr - unabhängig davon, wie man im einzelnen zu ihnen steht - in ein fortschrittliches Gesamtkonzept zukünftiger Wirtschafts- und Außenpolitik eingebettet worden. Zwar ist es in vielen Fragen durchaus gelungen, sinnvolle Reformanliegen zur Beschlusslage zu machen. Dies gilt für außen- und entwicklungspolitische Arbeitsmarktpolitik. So wurde beispielsweise erstmalig der perspektivische Umbau der Arbeitslosen in eine flexible, Erwerbsbiographien absichernde Arbeitsversicherung beschlossen. Die selektive mediale Berichterstattung hat dies jedoch nicht nach außen dringen lassen. Und Parteitagsbeschlüsse, die nicht öffentlich kommuniziert werden, sind kaum etwas wert. Somit wurde das ursprüngliche Anliegen, die strategische Linie "Sicherheit im Wandel" auf Basis der bereits Monate vor dem Parteitag zur Diskussion vorlegten Leitanträgen in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, Familie, Bildung, Europa, Jugend und Kommunalpolitik in der Partei zu verankern, durch die Ereignisse des 11. September zunichte gemacht.

Dem Parteitag fehlte -eine wirkungsmächtige progressive inhaltliche Botschaft. Im Prinzip gingen vom dem von Gerhard Schröder in seiner Grundsatzrede als "sicher einer der wichtigsten Parteitage in unserer jüngeren Geschichte" bezeichneten Konvent nur zwei Signale aus. Der Kanzler setzt sich mit seinem Kurs durch und die SPD steht weiterhin für rot-grün. Letzteres darf nicht zu gering bewertet werden, denn beide Botschaften haben einen inneren Zusammenhang. Die Tatsache, dass die Zustimmung des Parteitages zum Kurs der Regierung auch gerade deswegen erfolgt ist, um die Koalition gegen die Lockrufe von Westerwelle zu stabilisieren, wird von einigen führenden Sozialdemokraten offen problematisiert. Der eine oder andere Protagonist der sich am Rande des Parteitages gegründeten "Nürnberger Mitte" sieht den Existenzgrund des neuen Zusammenhangs konservativer Sozialdemokraten darin, die Partei auf andere Koalitionsoptionen vorzubereiten.

In der Öffentlichkeit blieb die Interpretation vom Nürnberger Parteitag vorherrschend, dass die SPD einen großen Schritt in Richtung "Kanzlerwahlverein" gegangen sei. Doch diese Diagnose ist über- und untertrieben zugleich und somit doppelt falsch. Sie ist übertrieben, weil der ihr zugrunde liegende auch auf die Funktionsträger projizierte Vorwurf des Machtopportunismus nicht zutrifft. Die SPD hat aus den Erfahrungen des Jahres 1999 gelernt, als politische Fehler und offen ausgetragener Streit dem politischen Gegner ungewollt in die Hände gespielt haben. Die Folge waren schmerzliche Wahlniederlagen in sicher geglaubten Bastionen im Saarland und in NRW. Vor diesen Hintergrund befindet sich die SPD in einer schwierigen Phase, die eigene Rolle im Spannungsfeld von Regierungsverantwortung und Programmpartei neu zu definieren. Zwar dominiert in der SPD die Auffassung, dass eine stabile fortschrittliche Reformpolitik nur mit einer rot-grünen Regierung möglich ist. Gleichzeitig hat die Partei verstanden, dass sich eine sozialdemokratische Bundesregierung im Medienzeitalter und nach 16 Jahren Regierungs-Konservatismus in außen- und innenpolitischen Zwängen befindet, die sich auch nicht durch Parteitagsbeschlüsse auflösen lassen. Der Trend zur Personalisierung und der Ausblendung des prozesshaften Charakters von Politik lässt wenig Interpretationen jenseits von "Kanzlerwahlverein" und "zerstrittener Haufen" zu. Jede über die gegenwärtige Regierungslinie hinausweisende Positionierung wird zwangsläufig als Vertrauensbruch mit der politischen Führung missverstanden. Parteitage haben somit einen Funktionswandel hinter sich. Sie dienen kaum noch dem nach innen gerichteten Sortierungsprozess einer Partei und statt dessen immer mehr der Erzeugung eines Außenbildes. Das Machtverhältnis zwischen Führung und Basis ist asymmetrisch, denn die "Führung" kann den medialen Druck dem sie unterliegt, in kritischen Situationen als Machtressource einsetzen und an die Basis weitergeben - nach dem Motto: "Ihr könnt ja beschließen was ihr wollt, aber ich kann und werde es nicht umsetzen." Parteitage sind inzwischen permanente, bewusst inszenierte Vertrauensfragen. Klatschzeiten oder Wahlergebnisse sind bedeutsamer als Inhalte. Allerdings kann der Schuss nach hinten losgehen, wenn die Disziplinierung bei der individualisierten Anonymität geheimer Wahlen nicht mehr greift. Und so äußert sich der angestaute Unmut fast nur noch symbolisch über Denkzettel bei Wahlen z.B. der stellvertretenden Parteivorsitzenden.

Gerade deswegen ist der "Kanzlerwahlverein-Vorwurf" auch untertrieben. Denn er macht die Dramatik einer schleichenden Entpolitisierung der Volkspartei SPD nicht hinreichend deutlich. Die SPD ist als Partei schon lange nicht mehr der Ort der gesellschaftlichen Zukunftsdebatte, warum sollen es dann Parteitage sein? Im wesentlichen haben wir es mit einer Verschränkung folgender Entwicklungen zu tun:

Die Entkopplung von Parteipolitik und gesellschaftlichem Alltag, d.h. die "Krise der Repräsentation" ist nicht nur in Bezug auf die Parteiführung zu konstatieren, sondern auch auf den so genannten "Mittelbau" und die Basis. Die politischen Prozesse innerhalb der SPD bezeugen eine lähmende Binnenfixierung. So führte die dringend nötige Reform der NRW-SPD nicht etwa zu einer Klärung, wie sich eine moderne Volkspartei im Wandel neu aufzustellen hat. Auch die Programmdebatte ist nach wie vor eher "Club der toten Dichter" als öffentlich wahrnehmbares Forum für progressive Zukunftsentwürfe.

Die veränderte Rolle der Massenmedien forciert die Personalisierung von Politik und blendet die ihr zugrunde liegenden unterschiedlichen Interessen, Prozesse und Kompromissbildungen aus. Die Herausbildung eines politisch-journalistischen Komplexes verstärkt den Trend zur "VerMittung" von Politik, d.h. alle politischen Vorgänge werden aus der Brille der gesellschaftlichen Mittelschichten betrachtet. Die Hauptstadtbühne Berlin-Mitte wird somit tendenziell zum Wandlitz der Berliner Republik.

Der SPD fehlt die Anbindung an soziale Bewegungen und an progressive Intellektuelle. Zwar hat dies mit der gegenwärtigen Schwäche derselben zu tun. Aber mit Blick auf die in allen gesellschaftlichen Gruppen wachsende "Globalisierungskritik" könnte sich diese Distanz womöglich als sehr problematisch erweisen.

Die Flügel der Partei sind erlahmt und entfalten immer weniger Bindewirkung. Damit verlieren diese aber auch ihre Funktion, unterschiedliche Positionen in der SPD zu bündeln und ihnen einen politischen Ausdruck zu verleihen. So ist das Theorie- und Strategiedefizit der sozialdemokratischen Linken eklatant. Und weil sie nicht mehr in der Lage ist, den ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel in seinen Zusammenhängen zu begreifen, verkriechen sich die Vertreter der sozialdemokratischen Linken in ihre fachpolitischen Nischen. Was bleibt, ist der Glaube an die eigene moralische Überlegenheit. Damit bleibt die Aufgabe der Linken - aus der zeitgemäßen (!) Kritik der bestehenden Verhältnisse Strategien für die gesellschaftliche Veränderung abzuleiten unerledigt.

Ein Generationenkonflikt als möglicher Katalysator zur Neuprofilierung einer Partei findet nicht statt. Statt dessen bahnt sich ein "kalter Generationenumbruch" an. Die sozialdemokratische Nachwuchsriege um die 40 hat nur ein einziges Projekt: sie selbst. Dabei verwischen die Unterschiede zwischen den Parteien immer mehr. Oft können junge Sozialdemokraten, liberale Grüne, aufgeklärte Konservative und soziale Liberale die Unterschiede zu den jeweils anderen nicht mehr erklären.

Da sich das Spannungsverhältnis zwischen Regierungsverantwortung und Programmpartei unter den gegebenen Bedingungen nicht auflösen lässt, kann die Strategie einer Re-Politisierung nicht in der Inszenierung von spektakulären Kampfabstimmungen auf Parteitagen in tagesaktuellen Fragen liegen - unter im übrigen selten ehrlich gemeinten Anfeuerungsrufen der Medien von taz bis Welt. Der Glaube, dass öffentlich ausgetragene Konflikte in Parteien größere Teile der Gesellschaft interessieren bzw. es positiv honoriert wird, wenn man es "denen da oben" mal so richtig zeigt, ist eine Sicht von politischen Funktionären, die mit der Realität unter den gegebenen medialen Bedingungen leider wenig zu tun hat. Auf der anderen Seite kann man den Vertretern der "Nürnberger Mitte", die Partei auf sozialliberalen Kurs bzw. autoritäre Unterordnung umzuprogrammieren, nur viel Spaß wünschen. Eine solche Strategie würde eine SPD hinterlassen, die allenfalls noch als Juniorpartner in einer großen Koalition regieren könnte.

Entscheidend wird es vielmehr sein, , eine mobilisierende und Sinn stiftende "sozialdemokratische Erzählung" zu entwickeln, die mehr ist als die Summe der einzelnen Teile bzw. die Addition zusammenhangloser Reformmaßnahmen Dabei geht es nicht allein um komplexe programmatische Entwürfe, sondern vor allem um die symbolische Ebene von Politik. Bislang ist es nicht gelungen, in die Zukunftsthemen wie Arbeit und Bildung die vielen durchaus sinnvollen Regierungsmaßnahmen als neuen Politikansatz zu kommunizieren. Damit wird man aus Gerhard Schröder gewiss keinen Visionär machen. Es wird letztendlich eine kritisch-produktive Spannung zwischen Regierung und Partei sein müssen. Aber der pragmatischen "Verantwortung für das Ganze" muss auch eine sinnstiftende "Idee für das Ganze" zugrunde liegen, die von der Sozialdemokratie im Grundsatz geteilt wird. Denn im Windschatten einer von Merkel und Stoiber geführten krisengeschüttelten und uneinigen Union lauert ein dumpfer Nationalkonservatismus in Form von Roland Koch, der durchaus in der Lage wäre, das Sinnvakuum mit einer gezielten Verunsicherungs-Politik zu füllen, wenn es der Linken nicht gelingt, ihre eigenen Aktivisten und Anhänger nicht nur taktisch zu disziplinieren, sondern auch wieder zu begeistern.

Hervorhebungen:

Der SPD fehlt die Anbindung an soziale Bewegungen und an progressive Intellektuelle.

Die Strategie einer Re-Politisierung kann nicht in der Inszenierung von spektakulären Kampfabstimmungen liegen