Kein Urheberrecht für Niemand?

Ein Ton-Steine-Scherben-Comicbuch, das es nicht gibt

Keine Macht für Niemand. Ein Ton Steine Scherben Songcomic
Editor:
Gunther Buskies / Jonas Engelmann
Publisher:
Ventil Verlag
Published 2023 in
Mainz
128
pages
Price:
ISBN 978-3-95575-181-4
25 Euro

Als alter Fan von Ton Steine Scherben hatte ich dieses lange angekündigte Buch schon Monate vor dem Erscheinungstermin bestellt. Direkt zwei Exemplare. Eins für mich und eins als Geburtstagsgeschenk für meinen Freund und Genossen Joseph Steinbeiß. Im Oktober 2022, kurz nach der Frankfurter Buchmesse, landete es endlich auf meinem Schreibtisch: „Keine Macht für Niemand – Ein Ton Steine Scherben Songcomic“. Der erste Eindruck: Einfach nur WOW! Da hatten der Ventil Verlag aus Mainz und die beiden Herausgeber Gunther Buskies und Jonas Engelmann ein großartiges Geburtstagsgeschenk zusammengestellt. In doppelter Hinsicht: ohne ihr Wissen zum 51. Geburtstag von GWR-Autor Joseph Steinbeiß und ganz offiziell zum 50. Geburtstag von „Keine Macht für Niemand“, der zweiten Schallplatte von Ton Steine Scherben. Herausgekommen ist ein Prachtband zur vielleicht bedeutendsten deutschsprachigen Scheibe der Rockmusikgeschichte. Durchgängig vierfarbig. Hardcover.

Für mich persönlich waren Ton Steine Scherben eine der wichtigsten Bands meiner politischen Sozialisation. Die Songs von „Keine Macht für Niemand“ kann ich heute noch auswendig. In meiner ersten Szene-WG, 1986, am Anfang meines Studiums lief die Scheibe lange Zeit rund um die Uhr. Und als ich 1987 mit einem Freund von Münster u.a. durch das damalige blockfrei-realsozialistische Jugoslawien nach Kreta trampte, hatten wir einen Kassettenrekorder dabei, auf dem wir die Scherben so lange abspielten, bis die Kassette irgendwann zu leiern anfing. In Kreta lagen wir am Porky Beach, trafen auf gleichgesinnte Hippies und Anarchist:innen, u.a. einen Redakteur der Hannoveraner Anarchozeitschrift Kopfsprung. Wir fühlten uns frei, lebten als temporäre Aussteiger:innen ein paar Wochen in einer Höhle, machten Musik, hörten die Scherben und nutzten eine nahe gelegene Taverne am Strand für alles, was sonst noch so fürs Leben notwendig war. Irgendwann trampte ich zurück, weil das Wintersemester und ein Prozesstermin wegen Aufruf zum Volkszählungsboykott auf mich warteten.
Bei meiner ersten Hausbesetzung im Mai 1989 in Unna haben wir nicht nur die Scherben rauf und runter gehört, sondern auch inbrünstig und bei jeder Gelegenheit die Lieder gesungen. Dabei haben wir den Rauch-Haus-Song-Text von „Das ist unser Haus“ in „Das ist Unslhausn“ verwandelt und den lokalen Gegebenheiten im „unna-n-genehmen“ Unna angepasst. „Unslhausn“, so hieß dann auch das besetzte Haus und die Anarchozeitung, die wir im Sommer 1989 herausgebracht haben.
„Schritt für Schritt ins Paradies“, „Allein machen sie dich ein!“, „Mensch Meier“, „Wir müssen hier raus!“, „Komm, schlaf bei mir“ – Viele Songs von Ton Steine Scherben sind herzerwärmende Kurzgeschichten. Sie sind zeitlos, auch aufgrund ihrer Einfachheit und Klarheit. „Der Traum ist aus“ ist ein Lied, das die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft sicher bei mehr Menschen im deutschsprachigen Raum hat wachsen lassen als so manch trockenes Anarcho-Kopfrocker-Buch.
Andere Songs waren immer schon zu verbalradikal und vom militanten Krawall-Zeitgeist der West-Berliner Linken geprägt. So schreibt Jörg Schlotterer auf Seite 33 der Graphic Novel treffend: „‚Die letzte Schlacht gewinnen wir‘ kann man heute gar nicht mehr singen. Die kriegerischen Bilder wie ‚Schlacht‘ und ‚Front‘ befremden mich heutzutage.“ Auch die Verheißung eines ‚Sieges‘ sei irreführend: „Eine Schlacht kennt keine Sieger!“ Das gilt heute, angesichts des Ukraine-Krieges, vielleicht noch mehr als damals.
Die Idee, zu jedem des im Oktober 1972 erschienenen Doppelalbums „Keine Macht für Niemand“ eine Künstlerin oder einen Künstler jeweils einen Comicstrip zeichnen zu lassen, ist grandios. Die Umsetzung ist allerdings nicht bei allen Songs gelungen. Warum anarchistische Comic-Zeichner:innen, wie Gerhard Seyfried und Ziska Riemann oder die auch für ihre Zeichnungen in der Graswurzelrevolution bekannten Andi Wolff, Roy Brick, Wilfried Porwol und Findus gar nicht erst angefragt wurden, stattdessen aber andere, die mit der anarchistischen Ideenwelt der Scherben gar nix am Hut haben, bleibt mir ein Rätsel. So räumt die Zeichnerin Daniela Heller auf Seite 77 ehrlich ein: „Ich hab’s geschafft, 35 zu werden, ohne jemals bewusst was von den Scherben gehört zu haben.“
Die Bilder, die bei mir im Kopf zu den Scherben-Songs entstehen, sehen dann auch ganz anders aus, als die in dieser Graphic Novel von Daniela Heller sowie den Comiczeichner:innen Kathrin Klingner, Nicolas Mahler, Bianca Schaalburg, Sheree Domingo, Rahel Suess-kind, Reinhard Kleist, Mia Oberländer, Sascha Hommer, Jan Soeken, Ulli Lust, Michael Jordan und den „18 Metzgern“ präsentierten. Gerade diese Differenz macht aber einen Reiz aus. Zusätzliche Bonbons sind die im Buch enthaltenen Kommentare zu jedem Song und Bonus-Texte. Außerdem auf Seite 122 f. zwei Songcomics von Rio Reiser und Nikel Pallat aus der 1972 erschienenen „Guten Morgen“-Zeitung von Ton Steine Scherben.

Fazit

Auch wenn mich nicht jeder der Comics vom Hocker haut, so ist das Buch insgesamt, auch aufgrund der unterschiedlichen Zeichner:innen und ihrer individuellen Interpretationen, sehr lesenswert! Das Warten hat sich gelohnt. Gute Laune garantiert. Zu hoffen ist, dass der unmittelbar nach Erscheinen aufgrund von Urheberrechts-Streitigkeiten aus dem Verkehr gezogene Band bald wieder erscheinen kann. Im Gespräch mit der Graswurzelrevolution-Redaktion hat ein Ventil-Verleger im März 2023 eingeräumt: „Wir gehen davon aus, dass wir das Buch im April wieder ausliefern können.“ Bis es soweit ist, empfehle ich Euch, nochmal die alten Scheiben der Scherben zu hören und dabei das eigene Kopfkino zu genießen.

 

Bernard Berger

 

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 478 (Libertäre Buchseiten), April 2023, www.graswurzel.net